Der Morgen nach der Wahl, der übliche Katzenjammer. Du wunderst dich über die Rechenkünste der Deutschen, bei denen 41,5 Prozent der Wählerstimmen 49,4 Prozent der Parlamentssitze bedeuten. Vielleicht schämst du dich auch, weil du dich wieder einmal nicht beherrschen konntest und die Linke gewählt hast, diesen Gottseibeiuns der deutschen Sozialdemokratie, für den Möchtegern-Kanzler Peer Steinbrück nur den Stinkefinger übrig hat. Oder du grämst dich, weil du zu jenen gehörst, deren Stimmen im großen Wähler-Abfalleimer landen, weil ihre Partei nur von fast drei Millionen Menschen gewählt worden ist– was man in Deutschland für eine zu vernachlässigende Größenordnung hält. Oder ist deine Partei vielleicht noch nicht einmal in die Nähe der 5%-Hürde gekommen? Pfui Teufel – das ist ja fast schon Extremismus!
Wenn doch dieses Nachwahlmartyrium mit diesen Ärgernissen wenigstens ein Ende hätte! Aber leider geht es ja jetzt erst richtig los. Denn nun erwarten uns die rührseligen Versöhnungsgeschichten deutscher Vorabendpolitik. Die Politiker der einen Partei, die den politischen Gegner schon am Wahlabend um 18.01 Uhr nicht mehr so verabscheungswürdig fanden wie noch um 17.59 Uhr, fallen nun eben diesem politischen Gegner reumütig in die Arme, weil sie nur mit ihm an die Fleischtöpfe der Macht gelangen können, und umgekehrt. Gleichzeitig erfährst du wieder einmal, dass Wahlversprechen und politische Realität in etwa so viel miteinander zu tun haben wie Wunschzettel und Weihnachtsgeschenk. Und du musst feststellen, dass im Parlament auch zehn Millionen Wählerstimmen bedeutungslos werden können, wenn es den beiden großen Parteien beliebt, unter Ausschluss der kleineren Parteien zu regieren.
Als krönender Höhepunkt des Ganzen folgt dann der orientalische Markt der Regierungsbildung. Da bist du aber längst so frustriert, dass du dich gar nicht mehr über das altbekannte Geschachere aufregst. Da erscheint es dir fast schon normal, dass nicht Kompetenz der entscheidende Faktor für die Besetzung von Regierungsämtern ist, sondern die Frage, wer den Vorsitzenden am meisten geschmeichelt hat, wer die dicksten Ellbogen hat, die meisten Wahlplakate geklebt oder die besten Talkshowauftritte hingelegt hat.
Ach, die Parteien … Warum gibt es sie überhaupt?
Als Vorformen der bürgerlichen deutschen Parteien lassen sich die Aufklärungs- und Lesegesellschaften des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ansehen, in denen das Bürgertum mit progressiv gesinnten Adligen zu gelehrten Diskursen zusammenkam. Die Gesellschaften dienten einerseits dem Selbstverständigungsprozess des Bürgertums, waren für dieses andererseits aber auch Proberaum für die spätere Übernahme der Macht im Staat. Dem entsprach sowohl die Vorrangstellung des Bürgertums in den entsprechenden Gruppierungen als auch die Etablierung demokratischer, also dezidiert nicht-aristokratischer Umgangsformen darin. Auch die Turn- und Gesangsvereine, mit denen das Bürgertum zur Zeit der Restauration nach 1815 seine politischen Zusammenkünfte tarnte, können mit Thomas Nipperdey als „kryptopolitische Vereine“ betrachtet werden. Analog dazu bildeten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch unter Arbeitern und mittellosen Handwerkern Auslands- und Arbeiterbildungsvereine heraus, die als Interessenvertretung des neuen Industrieproletariats fungierten.
Im Rahmen der gescheiterten Revolution von 1848, insbesondere des Frankfurter Paulskirchenparlaments, und der zögerlichen Formierung des deutschen Parlamentarismus in der Folgezeit wandelten sich die Bildungsvereine und Interessenvertretungen der einzelnen sozialen Gruppen allmählich zu politischen Parteien. Spätestens mit der Reichsgründung 1871 und der damit einhergehenden Bildung des deutschen Reichstags als gesamtdeutscher Volksvertretung hatten sie sich endgültig als solche etabliert.
Natürlich haben sich die politischen Parteien mit der Zeit gewandelt und sich immer wieder den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst. Ein Charakteristikum ist dabei jedoch bis heute unverändert geblieben: Die Beförderung des Gemeinwohls steht jeweils unter dem Vorbehalt, dass dies auch und vor allem den Mitgliedern der jeweiligen Partei förderlich sein muss. Dieser dem Parteienprinzip inhärente Klientelismus relativiert ganz entscheidend das Konstrukt der ‚Volkspartei‘: Volksparteien sind dies eben vor allem insoweit, als sie ein größeres Parteivolk als andere Parteien zufrieden zu stellen haben. Sie müssen also erstens mehr Menschen mit Posten versorgen – weshalb mancherorts sogar Hausmeisterstellen nach Parteibuch vergeben werden – und müssen sich zweitens zu einer größeren Bandbreite an Themen positionieren, freilich ohne dabei einzelne Anhänger durch zu klare Positionen zu vergraulen.
Ein entscheidender Impuls für die Gründung neuer Parteien ist offenbar die Überzeugung, dass ein bestimmter Themenbereich von den etablierten Parteien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt wird. Das war schon so bei den Grünen und der durch sie in dieser Form überhaupt erst begründeten Umweltpolitik, gilt analog aber auch für das Thema ‚Freiheit im Netz‘ bei den Piraten oder die Eurokritik der ‚Alternative für Deutschland‘.
Ein anderer Impuls für Parteineugründungen scheint der Eindruck bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zu sein, in den etablierten Parteien nicht genug Fürsprecher zu haben. Diese Stoßrichtung bringen die entsprechenden Parteien dann in der Regel bereits in ihrer Namensgebung zum Ausdruck (‚Frauenpartei‘, ‚Familienpartei‘, ‚Graue Panther‘).
In jedem Fall ist eine Änderung der Machtverhältnisse oder zumindest eine neue Akzentuierung des Herrschaftsdiskurses in einer Parteiokratie nur durch die Gründung einer neuen Partei zu erreichen. Das Grundproblem dieser Herrschaftsform – dass die Klientel- und Interessenpolitik einer Gruppe über dem Wohl der Allgemeinheit steht und ich mich bei politischen Wahlen nur zwischen den verschiedenen Klientelismen und Interessenkomplexen der einzelnen Parteien entscheiden kann – bleibt dabei aber unangetastet.
Daraus ergibt sich eine weitere, grundsätzlichere Überlegung: Sind politische Gruppierungen, die aus den Selbstverständigungs-, Macht- und Bildungsbestrebungen sozialer Schichten des vorletzten Jahrhunderts hervorgegangen sind, für eine demokratisch verfasste Gesellschaft des 21. Jahrhunderts überhaupt noch die geeigneten Vermittlungsinstanzen für die Herrschaft des Volkes über sich selbst? Widersprechen die hierarchischen Organisationsstrukturen, die Hinterzimmerpolitik, die Geheimnistuerei und die Camouflage, wie sie diese Gruppierungen in der Frühphase notgedrungen, als Schutz gegen eine feindlich gesinnte Staatsmacht, entwickelt haben, nicht den Erfordernissen des Internetzeitalters und einer globalisierten Welt?
Ihr ahnt meine Antwort: ein klares Nein!
Mein Vorschlag: Lasst uns die Demokratie noch einmal neu denken! Lasst sie uns entstauben vom prozeduralen Firlefanz ihrer Anfangsjahre, lasst uns endlich den Mutterkuchen entsorgen! Lasst uns die Parteien abschaffen!
Ich stelle mir vor, was in Deutschland nur schwer vorstellbar ist: eine Republik ohne Führer, eine Republik, in der das, was alle angeht, wirklich wieder zur ‚res publica‘ wird. Die Volksvertreter, die wir wählen, sind dann endlich echte Volksvertreter, weil sie nur dem Volk und keiner Partei mehr verpflichtet sind. Bei einer Wahl bewerben sie sich direkt beim Volk, dem dann echten und einzigen Souverän, um einen Sitz in diversen Expertengremien, also Ausschüssen zu übergeordneten Bereichen wie Bildung, Wirtschaft, Justiz, Internet, Umwelt usw., die sich jeweils in diverse Unterausschüsse untergliedern. Die Voraussetzungen für eine Bewerbung sind denen analog, die auch im echten Berufsleben gelten: einschlägige Ausbildung + langjährige Berufserfahrung.
Die Expertengremien kontrollieren die in ihren Bereich fallenden Herrschafts- und Verwaltungsstrukturen und erarbeiten zu aktuellen Problemen Lösungsvorschläge, die sie – unter Umständen auch in mehreren Varianten – dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Zwischenergebnisse der Diskussionen in den Ausschüssen werden im Netz veröffentlicht und können von allen Interessierten mit Kommentaren versehen werden.
Die Amtszeit der Mitarbeiter in den einzelnen Gremien wird auf einen Zeitraum von, sagen wir, maximal acht Jahren am Stück begrenzt, anschließend müssen sie wieder in ihrem Beruf arbeiten, um den Kontakt zur Realität nicht zu verlieren. Auf diese Weise soll der Herausbildung einer weltfernen, lebensfremden Expertenkaste vorgebeugt werden.
Guckt mal, Peer rümpft die Nase! War ja auch nicht anders zu erwarten … Gut, dass er mich jetzt nicht sehen kann – vor allem nicht meinen rechten Mittelfinger, der in eben diesem Moment … Na, ihr wisst schon!
Literaturhinweise
Birker, Karl: Die deutschen Arbeitberbildungsvereine 1840 – 1870. Berlin: Colloqium Verlag.
Dann, Otto (1981, Hg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München: Beck.
Nipperdey, Thomas (1976): Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. (Zitat S. 176).
Schmid, Pia (1985). Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens. Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums. Berlin: Quadriga-Verlag Severin.
Van Dülmen, Richard (1986): Die Gesellschaft der Aufklärer. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Ich ärgere mich auch jedes Mal nach der Wahl. Im Grunde genommen ist das eine Farce. Wenn man das, was hier beschrieben wird, in die Tat umsetzen würde, wäre das eine Revolution!
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Stimmt, aber ich fürchte, das Pateiensystem bleibt …
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