Manchmal träume ich mich in die Schreibstube eines mittelalterlichen Klosters zurück. Die Bibliothek, der ich als Mönch die zu kopierenden Bücher entnähme, wäre von überschaubarer Größe; und angesichts der niedrigen Alphabetisierungsrate und der nur manuell zu bewerkstelligenden Reproduzierbarkeit der einzelnen Werke könnte ich mir sicher sein, dass das auch so bliebe. Würde ich mir das Ziel setzen, mich bis zum Ende meines Lebens einmal quer durch die Bibliothek hindurchzulesen, so wäre das zwar vermessen, aber nicht utopisch.
Jedem Kodex, den ich zu kopieren hätte, würde ich mit einer gewissen Ehrfurcht begegnen. Andächtig würde ich die geistgetränkten Seiten umblättern und mich dabei bemühen, den Flug meiner Finger mit dem Flug des fremden Geistes in Einklang zu bringen.
Manchmal stelle ich mir dann vor, dieser Mönch, der zu sein ich geträumt habe, würde sich seinerseits in einen unserer modernen Büchertempel hineinträumen. Müsste er, der es doch gewohnt war, dem geschriebenen Wort – ob als Lesender oder als Kopist – nur meditierend zu begegnen, sich darin nicht eher wie in einer Markthalle fühlen? Und müsste er, sollte er versuchen, sich einen Überblick über die Bücherbestände zu verschaffen, nicht augenblicklich den Verstand verlieren?
Allerdings muss man, um einen solchen Effekt zu erzielen, wohl gar nicht so weit in der Zeit zurückreisen. Auch einen Gelehrten, den man vor 50 Jahren eingefroren und heute wieder aufgetaut hätte, befiele wohl ein permanenter Drehschwindel, würde man ihn in dem Dschungel der seitdem publizierten Werke aussetzen.
Nun ist es einerseits natürlich ein beeindruckender Beleg für die Produktivität des menschlichen Geistes, dass er den Raum seiner Epiphanien erst von der Schreibstube zum Büchertempel und schließlich zu einem immateriell-elektronischen, allgegenwärtigen Cyberhimmel geweitet hat. Andererseits fällt es uns so doch schwerer, uns einem einzelnen Werk zu widmen. Ständig haben wir das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn wir uns zu sehr darauf einlassen, immer lugt schon ein neues Werk um die Ecke, das seinen Schatten auf das in unseren Händen vergilbende Vorgängerwerk wirft. So verliert das einzelne Geistesprodukt an Wert und an Würde. Eine einzelne Perle lässt uns staunend niederknien. Eine ganze Halle voller Perlen taugt jedoch allenfalls für einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde.
Entsprechend verwirrt sind wir, wenn wir wieder einmal durch das Meer einer Buchmesse treiben. Woran sollen wir uns festhalten? Sollten wir nicht einfach nach dem erstbesten Buch greifen, wie ein Schiffbrüchiger, der auch nicht lange überlegt, welche Schiffsplanke sein Überleben sichern darf?
Aber halt, da ist ja noch die Werbung – die Werbung, die uns anschreit, die an unseren Sinnen zerrt, bis wir ihr schließlich erschöpft in die Arme sinken. Denn wir sind nun einmal keine Außerirdischen, die einfach ihr Ersatzhirn einschalten können, wenn ihr Haupthirn vor dem Wirbelsturm der Reize kapituliert. Also folgen wir dankbar jedem beliebigen Wegweiser durch das Informationslabyrinth, den man uns hinhält – auch wenn unsere Aufmerksamkeit so natürlich nicht mehr von dem geistigen Produkt selbst gefesselt wird, sondern von dem Marktschreier, der am lautesten für sein Produkt trommelt.
Das Verrückteste aber ist, dass der Marktmoloch, der doch eigentlich längst übersättigt sein müsste, mindestens zweimal im Jahr nach neuen Veröffentlichungen schreit – als handelte es sich bei ihm um einen jener Märchendrachen, die im Handumdrehen sämtliche Jungfrauen eines Königreichs in sich hineinschlingen.
Ich muss gestehen, dass mich dies schon wieder in einen Traum fliehen lässt – den Traum von einem einjährigen Neuigkeitsmoratorium. Warum nehmen wir uns nicht ein Beispiel an jener Frau, die eines Tages feststellt, dass sie schon 365 Paar Schuhe besitzt und daraufhin beschließt, erst einmal ihre alten Schuhe durchzuprobieren, ehe sie sich wieder neue zulegt? Warum nehmen wir uns nicht einfach mal die Zeit, in Ruhe in der Truhe unserer geistigen Schätze zu wühlen und die nach unten abgesunkenen Perlen zu polieren, anstatt sie unter immer neuen echten oder scheinbaren Perlen zu begraben?
Ich habe schon einmal meine literarische Schatztruhe durchwühlt und bin dabei auf einige Perlen gestoßen, deren Glanz es meines Erachtens verdient hätte, stärker vom Spiegel unseres Geistes reflektiert zu werden. Wer Lust hat, sich an meinem diesjährigen Buchmarktfasten zu beteiligen und sich der Neuerscheinungsnabelschau zu entziehen, ist herzlich eingeladen, über diese virtuelle Perlenmesse zu schlendern.
Um nicht gleich wieder einen neuen Bücherdschungel emporwachsen zu lassen, habe ich mich bei meiner kleinen Privatmesse auf die deutschsprachige Nachkriegsprosa des vergangenen Jahrhunderts beschränkt. Die Titel sind chronologisch geordnet.
Virtuelle Buchmesse alter und neuer Perlen der Literatur: alte und neue Perlen – Bücher
Neuigkeitsmoratorium: Wenn ich deine pdf mit den Buchperlen öffne, merke ich, das wäre notwendig. Keine Neuerscheinungen mehr, und werden sie auch noch so angepriesen oder erscheinen sie auch noch so verlockend. Es gibt sovieles – beispielsweise den Nossack und das Buch von Peter Weiß – das ungelesen auf mich wartet.
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Es gibt auch tolle Neuerscheinungen. Wir produzieren in unserem kleinen, aber feinen Literaturverlag (www.literaturplanet.de) ja auch welche (Allerdings nur einen pro Jahr), aber es ist so schwer, den Überblick zu behalten. Vieles aus den Großverlagen wird nur gelesen, weil das Marketing genial ist 😉
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