Im ersten Teil des kleinen Liedermacher-Specials auf rotherbaron stand Franz-Josef Degenhardts Deutscher Sonntag im Mittelpunkt. Degenhardts Text ähnelt auffallend dem Lied vom Sundig, das der Schweizer Liedermacher Fritz Widmer 1973 veröffentlicht hat. Auch hier wird die Oberfläche sorgloser Sonntagsvergnügungen einem darunterliegenden Grauen gegenübergestellt. Während die in ihrem Garten herumspazierende Großmutter, die auf der Straße spielenden Kinder und die Sonntagsauflügler das Bild eines ländlichen Idylls zeichnen, blitzt in der grundlosen Raserei eines Autofahrers die Aggressivität auf, die von diesem Idyll übertüncht wird. Das Ergebnis ist eine Frontalkollision, bei der die Insassen des anderen Autos ums Leben kommen.
Durch die lakonische Aneinanderreihung des Unvereinbaren macht Widmer deutlich, dass beides – Totschlag und vermeintliche Idylle – untrennbar miteinander zusammenhängt. Sein Lied erinnert damit an den vorherrschenden Schweizer Erzählstil der 1960er Jahre, dessen zentrales Charakteristikum ebenfalls der Lakonismus war. Erzähler wie Peter Bichsel, Kurt Marti oder auch Jürg Federspiel haben damit die emotionslose Hinnahme der Grausamkeiten, mit denen der Wohlstand in der bürgerlichen Gesellschaft erkauft wird, ebenso widergespiegelt wie die resignative Mutlosigkeit jener, die ein diffuses Ungenügen an den bestehenden Verhältnissen empfinden (Beispiele in RB: Alte und neue Perlen, Kap. 5).
Die Parallelen zwischen Degenhardts Deutschem Sonntag und Widmers Lied vom Sundig erscheinen zunächst überraschend. Denn anders als in Deutschland war die positive wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz ja nicht mit der Verdrängung von Kriegsverbrechen verbunden. Um die Analogien zwischen den beiden Liedern besser zu verstehen, lohnt sich daher ein Blick auf das Psychogramm der Schweizer, das Max Frisch nach 1945 in mehreren Schriften entworfen hat.
In seinem Roman Stiller (1953/54) lässt Frisch seinen Protagonisten die Vermtung äußern, die Schweizer hätten schlicht „Glück“ gehabt, dass „Hitler damals [ihre] Souveränität und damit [ihr] Geschäft bedroht“ habe. Dadurch habe sich eine „eigene Entwicklung zum Faschismus“ verboten. Grundsätzlich sei jedoch nicht davon auszugehen, dass „das schweizerische Bürgertum, als einziges in der Welt, kein Gefälle (…) zum Faschismus“ habe, „wenn er einmal ihr Geschäft nicht bedroht, sondern steigert“ (GW 3: 547).
Der über allem stehende Grundsatz der „kaufmännischen Vernünftigkeit“, der die Schweizer „um des Handels willen zwingt, höflich zu sein mit den Mächtigen“ (ebd.), wird einerseits als Voraussetzung für das selbstwertsteigernde Gefühl, mit Letzteren auf einer Stufe zu stehen, gedeutet. Andererseits wird darin die Gefahr einer unvermeidlichen Kumpanei mit den Verbrechen der Mächtigen gesehen. Frisch bezieht sich dabei in einer Rede aus dem Jahr 1974 ausdrücklich auf die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Daneben erwähnt er jedoch auch die unrühmliche Rolle der Schweiz während des Militärputschs in Chile 1973, als „unsere Botschaft in Santiago de Chile (…) in entscheidenden Stunden und Tagen keine Betten hat[te] für Anhänger einer rechtmäßigen Regierung, die keine Betten such[t]en, sondern Schutz vor barbarischer Rechtlosigkeit und Exekution (mit Sturmgeweheren schweizerischer Herkunft) oder Folter“ (GW 6: 517).
Die Konzentration auf materiellen Wohlstand führt, wie Frisch bereits 1960 ausgeführt hat, nicht nur dazu, dass Moral und Menschenrechte für das Handeln der Regierung eine untergeordnete Rolle spielen. Das Ergebnis sei vielmehr ein vollständiger Verzicht auf Visionen. So werde „das Wort ‚Utopie‘ bei uns ausschließlich im negativen Sinn verwendet“. Gegenwärtig würden „dem Schweizer nicht nur die Utopien, sondern überhaupt alle radikalen Wünsche sozusagen mit der Muttermilch abgewöhnt“ (GW 4: 258).
Als Konsequenz hieraus sei „die Angst vor der Zukunft geradezu das Grundgefühl der Schweizer Zeitgenossen“ (ebd.). In seinem Roman Stiller spezifiziert Frisch diese Gefühlslage im Sinne der Angst seiner Mitbürger, „eines Tages vielleicht arm zu sein, ihre[r] Angst vor dem Leben, ihre[r] Angst, ohne Lebensversicherung sterben zu müssen, (…) ihre[r] Angst davor, daß die Welt sich verwandeln könnte, ihre[r] geradezu panischen Angst vor dem geistigen Wagnis“ (GW 3: 548).
So führt die Angst vor der Veränderung, das phantasielose Beharren auf dem Status quo, zugleich zu einer geistigen Unfreiheit, welche die materielle Unabhängigkeit konterkariert. Dabei verhindert die Angst, bei Letzterer Einbußen zu erleiden, auch allgemein die Entfaltung der menschlichen Freiheit, da diese sich im Kern als geistige Freiheit manifestiert.
Nachweise und Links:
Zitate von Max Frisch:
Stiller. Roman (1953/54). In: Gesammelte Werke (GW) in zeitlicher Folge 1931 – 1985, herausgegeben von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Band 3, S. 359 – 780. Frankfurt/Main 1986: Suhrkamp.
Die Schweiz ist ein Land ohne Utopie. Essay für den Züricher Buchclub Ex Libris, als Antwort auf die Frage: „Ist der Schweizer Dichter ein Außenseiter?“ (1960). In: Ebd., Bd. 4, S. 258 f.
Die Schweiz als Heimat? Rede zur Verleihung des Großen Schillerpreises (1974). In: Ebd., Bd. 6, S. 509 – 518.
Fritz Widmer: Lied vom Sundig (mit Carl Michael Bellmann); aus: Abraham & Co (gemeinsames Album mit Jakob Stickelberger, 1973):
Lied (Cover-Version von Christoph Mächler auf Spotify)
Übertragung ins Hochdeutsche:
Wenn die Großmutter still in den Garten geht
und die Kirchenglocke schweigt,
der Klaus mit seiner Freundin an der Aare spazieren geht,
der Herr Lang in sein Auto steigt,
dann fängt der Sonntag so richtig an,
im Radio läuft etwas von Smetana,
die Sonne scheint, und die Kirche ist leer,
die Kinder kommen frisch gewaschen daher.
Schon fährt der Herr Lang mit hundertdreißig Sachen
dem Bootshaus am Bielersee entgegen,
und die Großmutter fängt einen Marienkäfer
auf den Himbeeren und sagt: „Sieh mal an!“
Im Radio sind gediegene Worte zu hören
von Hofmannsthal, am Aare-Ufer
da liegen der Klaus und sein Mädchen am Hang
und umarmen einander genüsslich.
Jetzt gehen die Leute in die Beizen und in die Biergärten,
viele hocken im Stadion.
Der Herr Lang fährt bei Walperswil
frontal in ein anderes Auto.
Die Großmutter schaut Fernsehen, es läuft ein Tierfilm,
Das ist immer wieder schön, sagt sie, das mit den Tieren.
Die Kinder fahren auf der Straße um die Wette
mit ihren Tretrollern.
Und der Rettungswagen hupt, und vom Karussell
tönt ein Walzer von Johann Strauß herüber,
und Zürich schlägt Young Boys [Bern] vier zu zwei.
„Stell das Radio ab“, sagt Klaus.
Und seine Freundin sagt: „Ich denke, wir sollten langsam aufbrechen.“
Der Herr Lang liegt bei Aarbärg im Bezirksspital,
und die Leute vom anderen Auto sind tot.
Die Großmutter macht es sich vor dem Fernseher bequem.
Gut passendes Dix-Bild.
(Die Inseln de Liebe werden kleiner)
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