Musikalische Sommerreise 2017: Teil 1

Das Unerwartete erwarten

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Eines meiner schönsten Reiseerlebnisse hatte ich vor Jahren in Süditalien. Ich hatte mir damals eines dieser „All-you-can-travel“-Tickets gekauft, freie Fahrt auf allen Schienen Italiens für zwei Wochen. Da ich damit fast mein gesamtes Reisebudget aufgebraucht hatte, bedeutete das: nachts im Zug schlafen, morgens irgendwo ankommen.

Natürlich ergab sich so ein recht kaleidoskopartiges Bild von Italien: Fresken aus umbrischen Kirchen vermischten sich mit Kaugummi kauenden Halbstarken auf einer Fähre nach Messina, der kräftige Wein in einer Florentiner Studentenkneipe schmeckte noch nach dem kärglichen Mahl einer albanisch sprechenden Familie in der kalabrischen Hochebene. Andererseits habe ich auf diese Weise Dinge entdeckt, die ich, hätte ich nach ihnen gesucht, wohl nie gefunden hätte.

Am tiefsten hat sich meiner Erinnerung die Begegnung mit einem apulischen Bauern eingeprägt. Ich war morgens in Gioa del Colle ausgestiegen – warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht war mein Blick vom Zug aus auf das sagenumwobene Castel del Monte gefallen, jene geheimnisvolle Burg, die einst Friedrich II., genannt ‚Stupor Mundi‘ (‚das Staunen der Welt‘), dort hatte errichten lassen. Vielleicht war das aber auch einfach nur der Moment, in dem mein Kaffeedurst nicht mehr zu unterdrücken war oder die Pendler den Zug zu okkupieren begannen.

Gioa del Colle selbst scheint mich nicht sehr beeindruckt zu haben. Jedenfalls sehe ich mich schon bald aus der Stadt herauswandern und über Feldwege schlendern, an denen etliche Olivenbäume ihre knorrigen Gebete verrichteten. Irgendwann muss mich dann die Müdigkeit übermannt haben, so dass ich mich neben einem der Olivenbäume ins Gras fallen ließ.0000002547

Nachdem ich kurz weggenickt war, stand auf einmal der Besitzer des Olivenhains vor mir. Ich erinnere mich nicht mehr an sein Aussehen, aber natürlich stelle ich mir vor, dass sein Gesicht dunkel und faltig war wie die Rinde seiner Olivenbäume.

Sofort fühlte ich mich ertappt – in Deutschland hatte ich schon einige Begegnungen der unangenehmeren Art mit Bauern gehabt, die lagerndes Volk auf ihrem Land am liebsten wie Ungeziefer entsorgt hätten. Aber der apulische Landmann lächelte mir nur freundlich zu und sprach mich an, als wäre es das Normalste von der Welt, ermattete Bahnreisende unter seinen Olivenbäumen anzutreffen. Am Ende lud er mich zu sich nach Hause ein – guarda, da vorne steht es, nicht weit von hier.

Ich fühlte mich etwas unwohl in meiner Haut, ich, der Fremde, der Eindringling, der Passant in einer Welt, die ich nur streifte wie ein Zeitreisender. Im Haus meines spontanen Gastgebers fiel jedoch alle Scheu rasch von mir ab. Die Familie versammelte sich um den großen Küchentisch, es gab – Überraschung! – eingelegte Oliven mit Weißbrot und Olivenöl, dazu einen feurigen vino rosso, der mir die Zunge auf Anhieb löste. So bezahlte ich die unerwartete Gastfreundschaft bereitwillig mit Erzählungen von dem, was dem fest in seiner Erde verwurzelten contadino als pure Exotik erschien: dem Irrsinn des rastlosen Reisens.

castel-del-monte-1-bigIrgendwann dann die wohl unvermeidliche Frage: Ob ich das Castel del Monte schon besichtigt hätte? Als ich verneinte, griff mein Gastgeber zum Telefon und rief einen Bekannten an, der die Schlüsselgewalt über das castello hatte – denn dieses war ausgerechnet an dem Tag, an dem ich mich in dem Ort aufhielt, geschlossen. Mein Gönner meinte jedoch, dass man unmöglich nach Gioa del Colle kommen könne, ohne den Palast von „Barbarossa“ zu besichtigen. Ja, für ihn war es das castello von „Barbarossa“ – was ja auch viel schöner klingt als „Federico due“.

Tatsächlich kam ich so in den Genuss einer Privataudienz beim Geist des großen Imperators. Es wurde zwar nur ein Kurzbesuch, da der Verwalter recht mürrisch war und die Ruhe des Herrschers nicht allzu lange von einem abgerissenen Herumtreiber stören lassen wollte. Dennoch ist mir die von keinem Klicken und Blitzen eines Fotoapparats gestörte Atmosphäre bis heute in Erinnerung. Ganz kurz hat es mich angeweht, das Staunen des mächtigen Kaisers, der schon zu seiner Zeit nicht von dieser Welt zu sein schien.

Zum Abschied bekam ich noch ein großes Glas Oliven und eine Flasche Rotwein in die Hand gedrückt – nicht gerade eine praktische Gabe für einen Wandersmann, aber doch etwas, das ich nach den Erlebnissen des Tages weder ablehnen konnte noch wollte.

Am Abend hatte ich keine Lust zum Weiterreisen. Der Reisestaub verklebte meine Poren und benebelte meine Sinne, ich hatte plötzlich das unbezwingbare Bedürfnis nach Ruhe und Halt. So suchte ich mir ein bezahlbares Hotel, naschte noch ein wenig von den Oliven und dem Wein und ließ mich bald darauf von den winkenden Armen der Olivenbäume, die mich auf einmal aus tausend dunkelgütigen Augen anstarrten, in den Schlaf wiegen.

Früh am Morgen weckte mich ein Klopfen an der Tür – es war mein Gastgeber. Jetzt habe ich doch irgendetwas falsch gemacht, schoss es mir, aus dem Schlaf hochschreckend, durch den Kopf. Aber mein Olivenspender fragte mich nur freundlich, ob ich schon von dem Proviant, den er mir mitgegeben hatte, genascht hätte. Als ich ihm von dem köstlichen Geschmack seiner Erzeugnisse vorschwärmte, lächelte er zufrieden und verabschiedete sich dann. Er müsse jetzt zur Arbeit, in die Fabrik – von dem Olivenanbau allein könne er seine Familie leider nicht ernähren.

Nach dem „Frühstück“ (Espresso und Weißbrot – „colazione“ hatte hier offenbar eine solco-gravina-2andere Konnotation als in Deutschland) wanderte ich auf der anderen Seite des Ortes in die Felder hinaus. Ich weiß noch, dass die Landschaft mit ihren versprengten „trulli“, den zipfelmützigen Zwergenhäuschen, mir ausgesprochen eintönig vorkam. Fast bereute ich es schon, nicht gleich weitergereist zu sein. Dann jedoch tat sich auf einmal die Erde vor mir auf. Ich blickte hinab in eine tief eingeschnittene Schlucht, eine der so genannten „gravine“, die sich hier, in der Hochebene der „Murgia“, im Lauf der Jahrtausende in das Kalkgestein hineingegraben hatten. Eidechsen flohen aufgeschreckt, als ich an den Rand der Schlucht trat, Ziegen hoben kauend die Köpfe, Schlangen verzogen sich gelangweilt in ihren Felsspalten.

Ich ließ mich nieder und sog tief den Geruch von warmen Kräutern ein, der mich aus der Schlucht anwehte. Als ich den Rotwein öffnete, war es, als strömte ein freundlicher Geist aus der Flasche, der mir den Duft der Wildnis in Worte übersetzte, die kein Mensch buchstabieren kann. So habe ich für ein paar wenige Augenblicke die Seele Apuliens eingeatmet.

Diese Erlebnisse sind es, die für mich den Kern des Reisens ausmachen. Das, was ich dabei suche, ist immer das Unerwartete, das, womit ich nicht gerechnet habe, das, was mir einen völlig anderen Blick auf die Welt ermöglicht. Reisen bedeutet für mich in diesem Sinn auch immer: Urlaub von mir selbst machen, ein anderer werden, wenigstens für kurze Zeit.

Ein Stück weit ist eine solche Reise auch schlicht durch eine fremde Sprache möglich. Eine andere Sprache ist immer auch eine andere Welt, sie eröffnet einen ganz neuen Sinnhorizont, die Möglichkeit einer ganz anderen Art, die Dinge zu deuten und einzuordnen. Das wird selbst bei dem vergleichsweise harmlosen Liedchen, das die erste Etappe meiner diesjährigen musikalischen Sommerreise darstellt – dem Song Aventurera (‚Abenteurerin‘) der mexikanischen Sängerin Natalia Lafourcade –, deutlich.

Wer das Lied hierzulande hört und vor allem den sehr humorvollen Videoclip dazu sieht,Aventurera wird wohl an die Überwindung sozialer Konventionen denken, an verdrängte Träume und Wünsche, die sich plötzlich Bahn brechen und die Betreffenden dazu veranlassen, die Mauern der Normen und sozialen Rollen, in denen sie gefangen sind, zu durchbrechen. Bei einer Mexikanerin wird das Lied jedoch noch ganz andere, viel komplexere Assoziationen auslösen. Denn Aventurera war auch der Titel eines sehr bekannten Films unter der Regie von Alberto Gout, der 1950 in die Kinos kam und als Schlüsselwerk des „cine de rumberas“ gilt. Der Name dieses Filmgenres leitet sich ab von den Tanzeinlagen der „rumberas“, Tanzenden, die sich zu afro-karibischen Rhythmen bewegen. Auf eben diese spielt der Song durch die Ukulele an, auf der die Sängerin sich selbst begleitet.

Aber auch der launige Videoclip wird von einer Mexikanerin anders wahrgenommen werden als von einer Deutschen. Denn die darin angedeutete Befreiung der Frau aus dem bürgerlich-katholischen Normenkorsett findet eine Entsprechung in den Inhalten der Rumberas-Filme, für die ebenfalls die Thematisierung von weiblichen Ausbrüchen aus der Enge ihres kleinbürgerlichen Alltags charakteristisch ist. Angesichts der Zeitumstände enden diese Ausbrüche allerdings häufig tragisch – nämlich, wie etwa in dem Film Aventurera, in Bordellen und Nachtclubs, wo die Frauen den Schritt in die Freiheit mit Exhibition und Prostitution bezahlen müssen.

Hierzu passt schließlich auch, dass es sich bei dem Song Aventurera um das Cover eines Liedes von Agustín Lara (1897 – 1970) handelt. Dieser gilt heute als einer der wichtigsten Komponisten von Liedern im Bolero-Stil, musste sich zu Lebzeiten jedoch lange als Bordellpianist durchschlagen. Eben dies spiegelt sich auch in dem Lied wider, das im Kern die Aufmunterung einer in einem Bordell gestrandeten „Abenteurerin“ darstellt. Der Videoclip zu dem Song greift diese aufmunternde Geste auf, blendet allerdings das soziale Elend aus, mit dem die emanzipatorischen Impulse noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein erkauft werden mussten. Darin ist das Remake ganz ein Kind der heutigen Zeit, in der der Weg zu körperlicher und seelischer Freiheit zuweilen nur deshalb „holprig“ ist, weil die Betreffenden sich selbst im Wege stehen.

HuddelexMeine musikalische Sommerreise wird in diesem Jahr, wie bereits angedeutet, in Etappen verlaufen – das heißt, ich werde die musikalischen Kurztrips nicht alle auf einmal, sondern peu à peu freischalten. Eigentlich wollte ich zum Einstieg ja selbst ein Ständchen zum Besten geben. Ich hatte dabei an die Capri-Fischer gedacht: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …“ – das hätte schön zum Sommer gepasst und wäre irgendwie auch näher dran gewesen an Apulien. Ich hatte auch schon fleißig geübt, für meine Begriffe war ich gar nicht so schlecht, aber dann ist zu meinem Befremden plötzlich meine Katze in Ekstase geraten. Das hat mich stutzig gemacht, denn „Katzenmusik“ gilt nach menschlichen Maßstäben ja nicht gerade als Gütesiegel. Also habe ich umdisponiert – und es stimmt ja auch: An Rudi Schurickes Gesangskunst kommt sowieso keiner ran.

Videos:

Natalia Lafourcade: Aventurera (aus: Mujer Divina. Homenaje a Agustín Lara – ‚Die göttliche Frau. Eine Hommage an Agustín Lara‘; 2012).

Original von Agustín Lara:

Aventurera

Vende caro tu amor, aventurera!
Dale el precio del dolor, a tu pasado!
Aquél, que de tus labios la miel quiera,
/ que pague con diamantes su pecado! /

Vende caro tu amor, aventurera!
Dale el precio del dolor, a tu pasado!

Ya que la infamia de tu cruel destino
marchitó tu admirable primavera,
haz menos escabroso tu camino!
Vende caro tu amor, aventurera!

Ya que …
Que pague …

Übersetzung:

Abenteurerin

Verkauf deine Liebe teuer, Abenteurerin!
Lass dir das Leid, das du erdulden musstest, teuer bezahlen!
Derjenige, der um den Honig deiner Lippen bittet,
/ soll seine Sünde mit Diamanten bezahlen. /

Verkauf deine Liebe teuer, Abenteurerin!
Lass dir das Leid, das du erdulden musstest, teuer bezahlen!

Sieh zu, dass dein weiterer Weg weniger holprig ist,
nachdem die Schande deines grausamen Schicksals
deinen herrlichen Frühling hat welken lassen!
Verkauf deine Liebe teuer, Abenteuerin

Rudi Schuricke: Capri-Fischer:

Bilder: 1. Pietro Dàmbrosio: Castellanata- Borgo antico a stropiombo sulla Gravina Grande. Dez. 2015.,  2. alter Olivenbaum, 3. Castel del Monte; 4. Gravina della Murgia; 5. Filmplakat Aventurera; 6. Katze in Ekstase

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