Musikalische Sommerreise 2018

Eine Einstimmung

In einer Mail an rotherbaron schreibt Federico di Angelo:

Hallo Rother!

Was ist nur los mit Dir? Vor der Bundestagswahl hast Du in jedem Beitrag die Welt verändert, danach konnte man meinen, Du wärest mit der Erstellung des Regierungsprogramms und der Zusammenstellung des neuen Personaltableaus beauftragt worden. Und jetzt? Statt über Gesundheitspolitik und Parlamentarismus schreibst Du auf einmal über Pasqua und Prévert! Hat sich da vielleicht in Deinem Oberstübchen ein Schräubchen gelockert? Oder wie erklärst Du diesen plötzlichen Rückzug aus der deutschen Tagespolitik?

Mit mitleidigen Grüßen – Dein Federico.

Hier meine Antwort:

Lieber Federico!

Zunächst mal vielen Dank für Deine aufmerksame Lektüre meines Blogs. Du hast schon Recht: Seit den letzten Wahlen bin ich sozusagen auf etwas anderen Pfaden unterwegs. Zwar hatte ich schon immer verschiedene Phasen, in denen ich mich mal mehr politischen und mal mehr literarisch-kulturellen Fragen gewidmet habe. Aber die jetzige Situation unterscheidet sich doch davon – die Bildung der neuen Bundesregierung empfinde ich in der Tat als eine Art Einschnitt.

Bundestagswahlen sind für mich immer ein wenig wie Silvester: Jedes Mal hoffe ich darauf, dass der Termin eine radikale Änderung mit sich bringt, dass alles ganz neu und ganz anders wird – und bin dann umso ernüchterter, wenn hinterher doch wieder der alte Trott einkehrt. Denn genau so sieht es doch aus, wenn Du jetzt nach Berlin schaust. Gut, es gibt einen neuen Koalitionsvertrag, es sind ein paar neue Köpfe auf die alten Anzüge montiert worden – das große Ganze aber hat sich nicht geändert.

Es ziehen jetzt eben ein paar andere Karrieristen und Opportunisten die Fäden, neue Parteisoldaten sind auf der Leiter nach oben geklettert, neue Technokraten, die Du kaum von ihren Vorgängern unterscheiden kannst, lenken die Geschicke des Landes. Im Bundestag stechen sie am Rednerpult mit dem Finger Löcher in die Luft, ihre Stimme überschlägt sich, wenn sie sich künstlich aufregen über Dinge, die weder sie selbst noch irgendjemanden sonst draußen im Land berühren.

Die wirklichen Probleme bleiben derweil unangetastet. Statt über ein steuerfinanziertes Gesundheitssystem ohne Krankenkassen nachzudenken, in dem jeder dasselbe Recht auf eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung hätte, wird darüber debattiert, ob man den Krankenkassenbeitrag um vier oder doch nur um drei Cent senken sollte. Statt sich um eine umweltfreundliche, nachhaltige Lebensweise jenseits der Wachstumsideologie zu bemühen, versucht man diese durch eine Energiepolitik zu stützen, die mit der Windkraft alle bisherigen Umweltzerstörungen der Wachstumsökonomie in den Schatten stellt. Statt über ein Grundeinkommen zu diskutieren, das allen die Freiheit zur Entfaltung ihres kreativen Potenzials geben und so auch die Gesellschaft insgesamt voranbringen würde, leistet man durch das erniedrigende Hartz-IV-System einer allgemeinen Mutlosigkeit Vorschub. Ideologie statt erkenntnisbasiertem Handeln, Kontrolle statt Vertrauen, das sind die Fundamente der politischen Agenda.

Und dann erst diese ewigen pharisäerhaften Verurteilungen von AfD und NPD! Als wären beide vom Himmel gefallen und nicht nur ein Symptom für faschistoide, autoritäre Tendenzen, die unsere Gesellschaft wie Unkraut durchwuchern! Oder wie sonst soll man es deuten, dass Viktor Orban als Stargast auf den Parteitag der CSU eingeladen wird? Dass Markus Söder sich in Bayern als Provinzdiktator geriert und seinen „Freistaat“ in einen Polizeistaat verwandelt? Dass wir uns nun schon seit Wochen darüber aufregen, das Plansoll bei der Abschiebung von Flüchtlingen im Norden der Republik nicht erfüllt zu haben, anstatt uns endlich dem Skandal all der Flüchtlinge zuzuwenden, die gestorben sind, weil wir ihnen den Schutz verweigert haben? Dass wir ganz selbstverständlich von „Überlastung“, „Rückführung“, „Abschiebung“ und „Grenzschutz“ sprechen im Zusammenhang mit Menschen, die vor Verfolgung, Krieg und Hunger zu uns fliehen?

Aber siehst Du, Federico, genau das ist ja das Problem: Ich kann mich über all das aufregen, so viel ich will, ich kann jeden Tag zehn Posts dazu raushauen – ändern wird sich dadurch rein gar nichts. Manchmal beschleicht mich das ungute Gefühl, dass die ganze Schwafelei im Netz sogar kontraproduktiv ist – weil sie ein Ventil schafft, durch das unsere Empörung in wirkungslosen Worten versickert, anstatt, wie in anderen Ländern, in Massendemonstrationen zu münden, die echte Veränderung bewirken können.

Was also tun? Schweigen ist ja auch keine Option. Soll man vielleicht doch darauf setzen, das System von innen heraus zu verändern? Mit Gleichgesinnten eine eigene Partei gründen? Aber schon ein kurzes Eintauchen in ein solches Gedankenspiel hält mich davon ab, es weiter zu verfolgen. Denn es macht schlagartig deutlich, wie starr sich die politische Elite in unserem Land gegen Veränderungen abschirmt.

Als in den letzten Wochen von den Wahlen in den Ländern all der neuen Quasi-Diktatoren die Rede war, deren Club auch in Europa immer größeren Zulauf erhält, sind oft die ungleichen Bedingungen für Oppositions- und Regierungskandidaten thematisiert worden. Aber wie sieht es denn in Deutschland aus, wenn eine neue Partei bei den Wahlen antritt? Wird sie etwa in die Talkshows eingeladen, in denen sich die Kandidaten dem Volk präsentieren können? Erhält sie dasselbe Werbebudget wie die etablierten Parteien? Nein, natürlich nicht. Es ist wie in der Fußball-Champions-League: Der Erfolg nährt den Erfolg; wer hat, dem wird gegeben. Dadurch ist das System relativ immun gegen Veränderungen. Einzige Gegenmittel: ein Oligarchentopf voll Geld und/oder ein Programm, das die populistischen Parolen der etablierten Parteien noch übertrifft. Dies aber wäre nur mehr desselben, ein echter Neuanfang ist auf diese Weise nicht zu erreichen.

So gelangen die Unzufriedenen im Lande allmählich an einen Punkt, an dem sie darüber nachdenken, auszuwandern. Irgendwo anders unter ganz anderen Bedingungen neu anfangen: Ist das vielleicht die Lösung? Allerdings werden die Zugbrücken derzeit ja in fast allen Ländern hochgezogen, und ein nörgelnder Blogger wird sicher nirgends mit offenen Armen empfangen. Kanada wäre womöglich noch eine Option, oder die mongolische Steppe, wo ich mir vielleicht als Pferdezüchter eine neue Existenz aufbauen könnte. Aber liegt für mich wirklich alles Glück der Erde auf dem Rücken der Pferde? Und hat das Auswandern nicht immer auch etwas mit Flucht und Aufgeben zu tun?

Aber vielleicht, lieber Federico, sollte ich Dich hier auch nicht zu sehr mit meinen privaten Problemen belästigen. Du wolltest ja in erster Linie wissen, wie es mit meinem Blog weitergeht. Hier habe ich mich zunächst einmal, als kleine Soforttherapie, dazu entschieden, meine musikalische Sommerreise in diesem Jahr etwas weiter auszudehnen. Ich weiß, dass könnte jetzt auch wieder nach Eskapismus riechen. Mir geht es allerdings gerade um das Gegenteil. Wenn wir auf Reisen gehen – wobei ich natürlich nicht an die Bettenburgen der Urlaubsindustrie denke –, erhalten wir immer auch die Chance, uns selbst von einer anderen Seite zu sehen. Die fremde Umgebung kann wie ein Spiegel sein, der neue Facetten unserer Persönlichkeit und unseres Daseins zutage fördert, Aspekte, die wir bislang übersehen haben und die uns vielleicht dabei helfen können, uns neu zu orientieren, neue Wege einzuschlagen.

Vor allem aber trägt das Fremde stets auch seinen Sinn in sich selbst. Gerade wenn es uns gelingt, uns ihm vorbehaltlos zu nähern, wenn wir es nicht oder zumindest nicht nur durch die Brille unseres eigenen Alltags wahrnehmen, sondern uns ganz auf sein Anderssein einlassen, kann es eine befruchtende Wirkung entfalten. Dabei muss das Andere gar nicht direkt etwas mit unserem sonstigen Leben zu tun haben. Allein dadurch, dass wir in die andere Welt mit ihren von den unseren abweichenden Lebensrhythmen und Deutungsmustern eintauchen, können sich neue Perspektiven und neue Denkweisen ergeben, die unser Leben bereichern.

Klar, ich unternehme auf meinem Blog nur eine Reise durch die Welt der Musik. Ich denke aber, dass ein einzelnes Lied, so kurz es auch sein mag, eine ganze Menge über das Land und die Kultur, denen es entstammt, erzählen kann – natürlich nur, insoweit es nicht der uniformen Plastikmusik der Werberadios verpflichtet ist. Und eben solchen Geschichten, die sich hinter den einzelnen Liedern verbergen, möchte ich in diesem Jahr etwas ausführlicher nachgehen.

Meine Reise wird im hohen Norden, im finnischen Nordkarelien, beginnen und mich dann über Estland, Lettland, Weißrussland, Litauen, Polen, Tschechien und Österreich in Dein schönes Heimatland führen, lieber Federico. Von dort aus werde ich über Frankreich, Katalonien, das Baskenland und Galicien nach Portugal weiterreisen. Es wird also eine musikalische Reise quer durch den Kontinent sein, sozusagen „from coast to coast“.

Du hast Lust auf einen kleinen musikalischen Appetizer? Bitte, kein Problem, ich hatte sowieso schon daran gedacht. Das folgende Chanson der französischen Band Louise Attaque erscheint mir sowohl von der musikalischen Stimmung als auch vom Text her als geeignetes Präludium zu meiner Reise – handelt es doch vom Vogelflug „du nord au sud“, vom Norden in den Süden. Vielleicht macht Dir das, lieber Federico, ja Lust, mich auf meiner Reise zu begleiten.

Es grüßt Dich ganz herzlich

Dein RB

Louise Attaque: Du nord au sud; aus: Comme on a dit (2000)

Live-Aufnahme

Liedtext

Übersetzung:

Vom Norden in den Süden
jede Stadt jeden Hafen
ohne anzuhalten ohne Anstrengung
im Gleichklang überfliegen

Vom Norden in den Süden
manchmal sogar in die Irre gehen
den Norden ansteuern
mein Hab und Gut verstreuen

in alle vier Himmelsrichtungen
mühelos vom Norden in den Süden [reisen]
ohne anzuhalten
den Winden ausgeliefert
mühelos
vom Norden in den Süden
ohne anzuhalten

Vom Norden in den Süden
den Meridian entlang
neben mir mein Reisegefährte
ebenso windschnittig wie ich
derselben Bahn folgend wie ich

Vom Norden in den Süden
ich reise in die Ferne
ich träume unter freiem Himmel
und wenn ich möchte, kehre ich zurück

in alle vier Himmelsrichtungen
mühelos [reise ich]
vom Norden in den Süden
ohne anzuhalten
den Winden ausgeliefert
mühelos
vom Norden in den Süden
ohne anzuhalten
 

(kursiv gedruckte Zeilen im Original auf Spanisch)

Die erste Etappe der musikalischen Sommerreise wird uns am 20. Juni nach Finnland und Estland führen.

Bild: Lolama: Zugvögel. Pixabay

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