Tschechien: Lieder über Diskriminierung und Fremdbestimmung

Teil 7 der musikalischen Sommerreise von Finnland nach Portugal.

TapTap

Auch in Tschechien werden MigrantInnen derzeit nicht mit offenen Armen empfangen. Auch Menschen mit Behinderungen haben unter Diskriminierungen zu leiden. Hoffnungsvoll stimmt allerdings der Erfolg der Band The Tap Tap, die nur aus Menschen mit Handicaps besteht.

Text auch als pdf verfügbar: Tschechien – Lieder über Diskriminierung und Fremdbestimmung.

Fremdbestimmung und Fremdenfeindlichkeit

Auf den ersten Blick betrachtet, wirkt Tschechien derzeit nicht besonders ein­ladend. Präsident Miloš Zeman hat nun schon zum zweiten Mal hintereinander eine Wahl mit fremdenfeindlichen Parolen gewonnen. Dabei hat er nicht nur die Angst vor Flüchtlingen geschürt, sondern auch erneut seinen politischen Kontrahenten diskreditiert, indem er ihm mangelnden Patriotismus unterstellt hat. Nachdem er 2013 seinem damaligen Konkurrenten in der Stichwahl, dem ehemaligen Außenminister Karel Schwarzenberg, vorgeworfen hatte, kein „richtiger Tscheche“ zu sein, weil er die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 kritisiert hatte und seine österreichische Frau kein Tschechisch spre­che, ist er nun wieder nach demselben Muster vorgegangen. So hat er dieses Mal seinem schärfsten Konkurrenten, Jiří Drahoš, dem Vorsitzenden der Tsche­chischen Akademie der Wissenschaften, dessen offenere Haltung gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen vorgehalten.

Erklärt wird diese erfolgreiche Nutzung der Angst vor dem Fremden zumeist damit, dass die Menschen im ehemaligen Ostblock lange Zeit vom Ausland ab­geschnitten waren. Dies ist so allerdings nicht ganz richtig. Denn zwar waren die Kontakte zum westlichen Ausland streng limitiert. Reisen in die sozialisti­schen „Bruderstaaten“ waren jedoch durchaus möglich. Dabei konnte man ins­besondere bei Reisen in die Sowjetunion auch mit Menschen in Kontakt kom­men, die – wie etwa die Turkmenen, die Kirgisen oder die Kasachen, deren Länder damals ja alle noch zum sowjetischen Imperium gehörten – in Aussehen und kulturellen Gepflogenheiten das Kriterium der „Fremdheit“ erfüllten.

Richtig ist zwar, dass sich Kontakte mit dunkelhäutigen Menschen auf die weni­gen Austauschprogramme mit befreundeten afrikanischen Ländern beschränk­ten. Auch der Islam spielte – anders als bei den heutigen Migrationsbewegun­gen – angesichts der atheistischen Staatsdoktrin in den realsozialistischen Län­dern kaum eine Rolle. Dennoch kann man nicht sagen, dass fremde Kulturen im dortigen Alltag nicht präsent gewesen wären. Auch die Behauptung, dass „Fremdheit“ durchweg negativ konnotiert gewesen wäre, trifft so nicht zu. Der Überdruss an der permanenten Gängelung durch die autoritären Regime und an der Mangelwirtschaft hat vielmehr bei nicht wenigen Menschen dazu ge­führt, dass das Andere, Fremde eher in einem verklärenden Licht gesehen wurde.

So stellt sich die Frage, ob das erfolgreiche Schüren der Angst vor dem Fremden nicht vielleicht eher darauf beruht, dass es an das Trauma der jahrzehntelangen Fremdbestimmung rührt. Schließlich lassen die so genannten „Visegrád-Staa­ten“, zu denen außer Tschechien auch die Slowakei, Ungarn und Polen gehö­ren, sich ja gar nicht erst auf Kontakte mit den Menschen, deren Aufnahme sie strikt ablehnen, ein. Damit kann diese Ablehnung auch nicht auf konkreten Er­fahrungen beruhen. Die Erfahrung mit der Heteronomie durch eine Staatsdokt­rin, die jedwede Abweichung von den vorgegebenen Normen streng sanktio­niert, ist jedoch in allen vier Ländern stark ausgeprägt. Dies gilt gerade auch für Tschechien, wo das Trauma der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings nach wie vor im kollektiven Gedächtnis der Menschen präsent ist.

Die Band The Tap Tap

Vor diesem Hintergrund ließe sich auch der große Erfolg der tschechischen Band The Tap Tap deuten, die es mit ihrem Song Řiditel autobusu im Netz auf rund 10 Millionen Clicks gebracht hat. Im Mittelpunkt des Liedes steht ein Mensch, der im Alltag auf eine Gehhilfe angewiesen ist. Da diese Person im Vi­deo zu dem Song mit einem Mitglied der (ausschließlich aus Menschen mit Handicaps bestehenden) Band (Marek Valenta) identifiziert wird, darf man wohl davon ausgehen, dass darin auch eigene Erfahrungen verarbeitet werden. Dass die in dem Lied erzählte Geschichte keine reine Fiktion ist, zeigt auch ein ähnlicher Fall, der sich im vergangenen Jahr in Hamburg ereignet hat.

In Song und Videoclip hat der Protagonist seinen Rollstuhl in ein Spezialfahrrad umgewandelt, das ihm die Fortbewegung erleichtert. Als er damit jedoch in ei­nen Bus einsteigen möchte, verweigert der Busfahrer ihm den Zutritt: Diese Gehhilfe sei in Wahrheit ein Fahrrad, Fahrräder seien aber von der Beförderung ausgeschlossen. (Passend zu dem Song bezeichnet der Bandname in Haiti die als öffentliche Verkehrsmittel benutzten, meist bunt bemalten Pick-ups und Kleinbusse.)

Der Song besteht im Kern aus dem Dialog, der sich in der Folge zwischen dem Busfahrer und dem abgewiesenen Fahrgast entfaltet. Während Letzterer rein sachlogisch argumentiert und auch die Beförderungsbedingungen – die Fahrrä­der für zulässig erklären, wenn sie wie eine Gehhilfe benutzt werden – auf sei­ner Seite hat, beharrt der Fahrer darauf, in seinem Bus selbst über die Zulas­sung und den Ausschluss von Passagieren zu entscheiden.

Im Videoclip träumt der Busfahrer sich dabei in die Rolle eines Popstars oder eines paramilitärischen Verteidigers der Ordnung hinein. Dadurch wird deut­lich, dass es ihm letztlich gar nicht um die Einhaltung der Regeln, sondern vor allem um die Auskostung seiner Macht geht – weshalb er auch nicht als Busfah­rer (řidič autobusu), sondern als Chef bzw. „Führer“ des Busses (řiditel auto­busu) charakterisiert wird. So zeichnet der Song in ihm ein karikatureskes Psy­chogramm jener kleingeistigen Bürokraten, die in totalitären Regimen aller Zei­ten und Kulturen den Machthabern zur Durchsetzung ihrer Herrschaft gedient haben.

Der große Erfolg des Songs in Tschechien ist ein klarer Beleg dafür, dass dort keineswegs alle Menschen auf das Fremde, Andersartige mit dem Ruf nach Aussonderung, Ausschluss oder Marginalisierung reagieren. Schließlich hat Mi­loš Zeman die letzte Präsidentschaftswahl nur mit knapp über 50 Prozent der Stimmen gewonnen. Dies bedeutet eben auch, dass knapp die Hälfte der Wäh­lenden lieber seinen weltoffenen Gegenkandidaten Jiří Drahoš als Präsident gehabt hätten. Diese Menschen könnten sich durch das Lied aufgrund der darin zum Ausdruck gebrachten Kritik an der Gängelungswut eines Möchtegern-Des­poten angesprochen fühlen.

Bezieht man die trotz allem verbreitete Angst vor dem Fremden auf das Trauma der Fremdbestimmung, so wäre allerdings nicht auszuschließen, dass auch Menschen, die für xenophobe Parolen empfänglich sind, an dem Song Gefallen finden. Denn zwar entspricht der Protagonist in Song und Videoclip vom Äußeren her nicht der körperlichen Norm und erfüllt dadurch das Krite­rium des Anders- bzw. „Fremdartigen“. Gleichzeitig weist sein David-gegen-Go­liath-Kampf gegen den selbst ernannten „Führer“ des Busses jedoch ein hohes Identifikationspotenzial auf. Denn darin spiegelt sich eben jener Widerstand gegen die Bevormundung durch selbstherrliche Bürokraten wider, mit der man (nicht nur) in Tschechien immer wieder leidvolle Erfahrungen machen musste.

Die Musikgruppe Jablkoň

Zumindest einen Einfluss durch diese Erfahrungen könnte man auch in dem Lied Pet policajtů (‚Fünf Polizisten‘) der Musikgruppe Jablkoň vermuten. Der auf den ersten Blick grotesk wirkende Text scheint vordergründig eine metaphorische Umschreibung der fünf menschlichen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) und ihrer Lenkung durch den Verstand darzustellen. Dass dafür das Bild von Polizisten gewählt wird, von deren Aktivität das Ich abhängig ist, kann als Hinweis auf die Fragilität der menschlichen Wahrnehmung verstanden werden. Denn zwar erhält das von den Sinnen Aufgenommene erst durch die deutende Aktivität des menschlichen Geistes Kontur und Sinn. Gleichzeitig erreicht diesen jedoch nur das, was die Sinne aufgrund ihrer jeweiligen Aktivität, aber auch aufgrund ihrer Beschaffenheit dorthin vordringen lassen. Dadurch gelten für den menschlichen Geist bestimmte hochfrequente Töne, aber auch manche Farbspektren, die andere Lebewesen wahrnehmen können, schlicht als inexistent.

Dass für die Thematisierung dieser erkenntnistheoretischen Problematik das Bild von Polizisten gewählt wird, die das Ich aus seinem Inneren heraus kontrollieren, lässt sich jedoch auch auf die Erfahrung der Fremdbestimmung in einem totalitären Staat zurückführen. Die Metapher wäre dann im Sinne einer Gedankenpolizei zu verstehen, die die Wirklichkeit durch die Manipulation der Medien und die Kontrolle des öffentlichen Lebens so filtert, dass sie nur durch die Brille der jeweiligen staatlichen Ideologie wahrgenommen werden  kann. Die geistige Kontrolle wäre dabei so umfassend, dass sie auch dann wirksam ist, wenn das Ich de facto unbeobachtet ist. Diese Form einer „verinnerlichten“ Zensur hat Michal Nĕmec, der die Band 1980 mitbegründet hat und heute als einziges verbliebenes Gründungsmitglied ihr Kopf ist, noch selbst erlebt. So ist durchaus denkbar, dass die Erfahrung der oft grotesken Kontrolle aller Lebensäußerungen der Bürger, wie sie für totalitäre Staaten charakteristisch ist, bei der Entstehung des Textes eine Rolle gespielt hat.

 

Links zu den Songs + Übersetzungen

The Tap Tap – Řiditel autobusu

aus: The Tap Tap v Opeře – Mikulášská, 2011

Videoclip

Videoclip mit englischen Untertiteln

Liedtext

Band-Infos:

The Tap Tap Orchestra; Video von TRT World, englisch; Showcase, 11. Juli 2017.

Zimmermann, Marco: The Tap Tap – Lebensfreude für Musiker und Publikum; Radio Praha (auf  Deutsch), 20. Januar 2013.

Übersetzung:

Der Bus-Führer

Mein neuer Rollstuhl ist so schnell wie der Wind und so stark wie ein Stier,
mit ihm fühlt sich die Welt wie ein ewiger Grillabend an,
ich habe wieder neuen Schwung, ich fühle mich, als wäre ich mindestens 1,60 Meter groß
und bin ganz im Reinen mit mir.

Das ist doch kein Rollstuhl, Bürschlein, das ist ein verdammter Fake!
Das ist ein Fahrrad, und Fahrräder sind im Bus nicht erlaubt.
Wer ein Fahrrad hat, muss draußen bleiben,
also tschüss und auf Wiedersehen!
Ich bin der Bus-Führer,
 
Du bist der Führer in diesem Bus,
einem Bus, der in Richtung der Station „Ärger“ fährt.

Fahrräder sind hier nicht erlaubt, hier steht’s schwarz auf weiß,
zwing mich nicht, deutlicher zu werden!
Wenn du nicht gleich verschwindest,
kannst du dich auf was gefasst machen,
Querulanten wie dich werde ich hier nicht dulden!
 
Nur weil meine Schuhe kleiner sind als deine, habe ich nicht weniger Rechte als du!
Also denk mal drüber nach:
Nur weil irgendwo etwas schwarz auf weiß steht, ist die Realität noch lange nicht schwarz und weiß.
Was für dich wie ein Fahrrad aussieht, ist für mich eine Fortbewegungshilfe!

Du bist der Führer in diesem Bus,
aber die Welt besteht nicht nur aus Busspuren!

Ich bin der Bus-Führer,
komm mir nicht mit deinem verdammten Fahrrad in die Quere!
Fahrrad bleibt Fahrrad,
daran ist nichts zu ändern.
Dummkopf bleibt Dummkopf –
manche haben kurze Beine, manche sind etwas schwer von Begriff.
Fahrrad bleibt Fahrrad,
deine Argumente sind völlig aus der Luft gegriffen.
Dummkopf bleibt Dummkopf  –
wer sich auf das Regelwerk beruft, sollte es besser selbst genauer lesen!

Beförderungsbedingungen, Artikel 6, Paragraph 15:
Andere Fortbewegungshilfen werden wie Rollstühle behandelt, wenn sie diesen in Größe und Gewicht entsprechen.

Ich möchte keine vorschnellen Schlüsse ziehen
und ich will auch keinen Streit,
ich fordere nur das ein, was mir zusteht, verstehst du?
Menschen wie ich sind doch keine Märchengestalten,
wir sitzen im selben Boot wie du, also schmeiß uns nicht über Bord!

Wenn ich dich mit deinem Fahrrad hier reinlasse, büße ich meine ganze Autorität ein.
Da könnte ja jeder kommen!
Regeln sind Regeln, das kapiert sogar der dümmste Dorfdepp.
Wenn du eine Ausnahme willst, dann beschwer dich doch bei Schneewittchen, [du Zwerg]!
Ich bin der Bus-Führer,
wende dich doch an Gott, wenn du willst

Du bist der Führer in diesem Bus,
und nächstes Mal nimmst du mir wahrscheinlich meinen Stock oder meine Prothese weg!

Ich bin der Bus-Führer,
komm mir nicht mit deinem verdammten Fahrrad in die Quere!
Fahrrad bleibt Fahrrad,
daran ist nichts zu ändern.
Dummkopf bleibt Dummkopf –
manche haben kurze Beine, manche sind etwas schwer von Begriff.
Fahrrad bleibt Fahrrad,
Dummkopf bleibt Dummkopf  –
wer sich auf das Regelwerk beruft, sollte es besser selbst genauer lesen!

 

Jablkoň: Pet policajtů
aus: Live Oslava (2006)

Lied (Live, 2005) mit englischer Übersetzung

Liedtext

Band-Infos; weitere Infos (englisch)

Übertragung ins Deutsche:

Fünf Polizisten

Irgendetwas versucht in meinen Kopf einzudringen.
Ich warte darauf, dass der Zollbeamte meinen Verstand abfertigt.
Fünf Polizisten sind sogleich zum Dienst bereit,
weil alle fünf zusammen in meinem Kopf sind.

Etwas ruft nach mir, das meine Aufmerksamkeit verdient,
aber wie kann ich es hören, wenn um mich her Stille herrscht?
Ich hätte gerne etwas, das meine Aufmerksamkeit verdient,
aber wie kann ich es erreichen, wenn es kein Ohr hat?

Als frühmorgens der Tag das Tor der Welt öffnet,
redet etwas in mir, aber ich bin es nicht, der da redet.
Fünf Polizisten gehen schnurstracks ins Haus
und führen mich zurück zu meinem Verstand.

Etwas ruft nach mir, …

Am Abend habe ich meine Ruhe, die Polizisten schlafen.
Vorsichtig warte ich ab, ob sie wieder erscheinen –
da erwachen sie und kehren unverzüglich zurück,
so dass ich wieder alle fünf zusammen in meinem Kopf habe.

Etwas in mir sprießt wie Getreide,
das Innenministerium schickt Verstärkung.
Die fünf Polizisten verpesten nun nicht mehr die Luft,
sondern unterstehen dem Kommando des Innenministers: Gott.

Etwas ruft nach mir, …

 

Bild: Screenshot aus dem Youtube-Video von The Tap Tap:  Řiditel autobusu

 

 

Nächste Woche reisen wir weiter nach Österreich. Thema dann: Musikalische Auseinandersetzung mit Chauvinismus und Rassismus

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