Galicien und Portugal: Lieder über die Auswanderung

Letzte Etappe der musikalischen Sommerreise 2018 von Finnland nach Portugal.

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Sowohl in der portugiesischen als auch in der galicischen Geschichte hat es immer wieder Auswanderungswellen gegeben. Dies spiegelt sich auch in der Musik wider. Hier wie dort sind die Lieder über die Auswanderung stark von der Saudade geprägt, einem nur schwer in Worte zu fassenden Gefühlskomplex aus Fernweh, Melancholie und unbestimmter Sehnsucht.

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  1. Auswanderung: ein galicisch-portugiesisches Klagelied

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigten sich in Spanien die Prozesse der Entfeudalisierung und der Industrialisierung. Beide Prozesse verstärkten einander gegenseitig und führten dazu, dass viele Menschen in den Dörfern keine Zukunft mehr für sich sahen. Die Folge war eine massive Landflucht.

In den meisten Regionen richteten sich die Fluchtbewegungen zunächst auf die großen Städte. In Galicien aber, mit seiner langen Atlantikküste und dem Kantabrischen Gebirge, das es vom übrigen Spanien trennt, war die Auswanderung übers Meer eine ebenso nahe liegende Option. So lebten, nachdem die Region auch von den ökonomischen Krisen des 20. Jahrhunderts verstärkt betroffen war, Anfang des 21. Jahrhunderts 1,4 Millionen Galicier im Ausland. Bei einer Gesamtbevölkerung von 2,7 Millionen Menschen entspricht das ungefähr der Hälfte der heutigen Einwohnerzahl Galiciens.

1880, als die Folgen der Emigration bereits deutlich zu spüren waren, widmete Rosalía de Castro (1837 – 1885) dem Leid der Zurückgebliebenen ein Gedicht. Die Probleme, die sie darin beschwört, sind dieselben, unter denen auch heute noch von Auswanderung betroffene Gebiete leiden: brachliegende Felder, eine „todesgleiche“ Abwesenheit naher Angehöriger, Frauen, die sich allein um das Wohl der Familie kümmern müssen, Kinder, die ohne Väter aufwachsen. So führen die Verse eindrücklich vor Augen, dass Auswanderung zwar das nackte Überleben sichern, dafür aber das Sozialgefüge in der verlassenen Region nachhaltig zerstören kann.

1970 hat der portugiesische Arzt, Komponist und Musiker José Niza das Gedicht, mit geringfügigen Abwandlungen des Textes, unter dem Titel Cantar de emigração (‚Lied von der Emigration‘) vertont. Das Lied, gesungen von Adriano Correia de Oliveira, hat sich in Portugal rasch verbreitet und wurde auch von etlichen anderen Künstlern aufgegriffen. Heute wirkt es fast schon wie ein portugiesisches Volkslied.

Offenbar haben sich viele Portugiesen von den Versen der galicischen Dichterin unmittelbar angesprochen gefühlt. Dies kann zunächst damit erklärt werden, dass auch Portugal seit dem 19. Jahrhundert stark von Auswanderung betroffen war. Ende des 20. Jahrhunderts entsprach die Zahl der im Ausland lebenden Portugiesen fast der Hälfte der in Portugal lebenden Menschen (ca. 10 Millionen).  Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war Portugal mit einer Quote von 20 Prozent das Land mit der höchsten Auslandsbevölkerung in der EU. Dieser Trend hat sich infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 noch einmal verstärkt. Allein 2013 sind 110.000 Menschen aus Portugal emigriert. Erst in jüngster Zeit bemüht sich die portugiesische Regierung wieder verstärkt um die Rückwanderung vor allem junger Emigranten, um dem Brain Drain entgegenzuwirken.

  1. Weitere portugiesische Lieder über die Emigration

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Emigration auch in zahlreichen anderen portugiesischen Liedern thematisiert wird. Exemplarisch dafür können hier Manuel Freires Lied Eles (‚Sie’/’Jene‘ – gemeint sind die Emigranten) und José (Zeca) Alfonsos Canção do desterro (‚Lied vom Exil‘) genannt werden. Interessant ist, dass beide Lieder um dieselbe Zeit (1969/70) herausgebracht worden sind wie das oben genannte Cantar de emigração – zu einer Zeit also, als aus dem agrarisch geprägten, von der Salazar-Diktatur heruntergewirtschafteten Portugal besonders viele Menschen abwanderten. Zu den bevorzugten Zielländern der Emigranten gehörte damals auch Deutschland, das 1964 ein Anwerbeabkommen mit Portugal geschlossen hatte.

Beide Lieder können insofern als Ergänzung zu Cantar de emigração angesehen werden, als sie der Perspektive der Zurückgebliebenen die Perspektive der Auswanderer selbst an die Seite stellen: ihre unbestimmten Hoffnungen, aber auch ihre Ängste vor dem unbekannten Land, in das sie reisen, das schmerzhafte Zurücklassen von Heimat und Familie, die ungewisse Zukunft und die bange Frage, wann und ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren werden.

In José Alfonsos Canção do desterro steht dabei die Verlusterfahrung deutlich im Vordergrund. Dies deutet sich schon im Titel des Liedes an. Denn „desterro“ lässt sich auch  mit „Verbannung“ oder „Vertreibung“ übersetzen. Auf der Inhaltsebene kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass Aufbruch, Reise und Ankunft, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, Träume und Wirklichkeit collagenartig ineinandergeschoben werden. Dadurch werden die ambivalenten Gefühle der Auswanderer, ihre Hoffnungen und Ängste, unmittelbar mit den Warnungen der Daheimgebliebenen vor dem Verlassen der Heimat, mit den Gefahren der Reise und der Gleichgültigkeit, mit der die Menschen am Zielort der Auswanderung auf die Neuankömmlinge reagieren, verknüpft.

Das Lied weist so natürlich auch einen aktuellen Bezug zu den jüngeren Flucht- und Migrationsbewegungen auf. Es zeigt, dass bis in die Gegenwart hinein auch in Europa, dem heutigen Sehnsuchtsort vieler Migranten, Menschen aus purer Not ihre Heimat verlassen mussten und müssen. Das Lied könnte deshalb dabei helfen, eine größere Sensibilität beim Umgang mit den heutigen Flüchtlingen zu entwickeln.

  1. Die Auswanderung, die Saudade und das Meer

Die besondere Affinität der Portugiesen zu dem Werk der galicischen Dichterin Rosalía de Castro ist allerdings nicht nur in der gemeinsamen Erfahrung der Auswanderung begründet. Ein weiterer Grund für die Seelenverwandtschaft, die man in Portugal mit ihrem Werk empfindet, ist dessen inhaltliche Nähe zu den im Fado, dem traditionellen portugiesischen Gesang, dominierenden Themen. Insbesondere sind die Verse der Dichterin stark von der Saudade geprägt, jenem Gefühlskomplex aus Fernweh, Melancholie und unbestimmter Sehnsucht, der auch für den Fado charakteristisch ist.

Die in Galicien wie Portugal gleichermaßen verbreitete Saudade hängt natürlich stark mit sozioökonomischen Faktoren zusammen, mit einem von materieller Not und Marginalisierung geprägten Dasein. Zusätzlich verstärkt wird sie hier wie dort jedoch durch die Nähe zum Meer, das in seiner Unermesslichkeit Verheißung und Schrecken zugleich bedeutet, in dem sich die Unendlichkeit und das Nichts, Aufbruch und Untergang gleichermaßen widerspiegeln und das damit in seiner Ambivalenz ebenso schwer in Worte zu fassen ist wie die Saudade. Eben dies bringt auch die portugiesische Musikgruppe Madredeus – die seit Wim Wenders‘ Film Lisbon Story (1994) auch in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt ist – in ihrer meditativen Hymne an das Meer (O Mar) zum Ausdruck:

Den Worten, die sich in mir regen,
fehlt jeder dichterische Segen.
Ist nicht schon der Versuch verwegen,
es zu beschreiben:
das Meer, das Meer …

Stets wollte ich an diesem Ufer bleiben,
nur um es zu sehen,
und sah Jahr um Jahr vergehen,
ohne je es zu verstehen –
das Meer, das Meer …

  1. Links zur Auswanderung aus Portugal und Galicien

Marques, Rui: Portugal und Europa im Zeitalter der Migration. In: Ost-West. Europäische Perspektiven (OWEP) 2/2006.

Nikolov, Rita: 50 Jahre Anwerbeabkommen mit Portugal: „Es war ein Sprung ins kalte Wasser.“ Interview mit Christoph Rass, Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Mediendienst Integration, 12. März 2014.

Portuguese American Journal: Report: Portuguese lost 20% of its active population to migration. 24. März 2015; [bezieht sich auf eine Publikation des Observatório da Emigração; vgl. dessen Bericht zur Emigração Portuguesa vom Dezember 2016].

Spree, Reinhard: Die „erste“ Weltwirtschaftskrise 1857 – 1859. Vortrag, gehalten anlässlich der Tagung Finanz- und Wirtschaftskrisen. Schlaglichter im historischen Vergleich in der Münchner Katholischen Akademie, November 2009; rspree.wordpress.com, 21. Juli 2011.

Streck, Ralf: Portugal will junge Menschen aus der Emigration zurückholen. Telepolis, heise.de, 2. August 2017.

  1. Links zu den Liedern + Übersetzungen

Cantar de Emigração; portugiesische Fassung eines Gedichts von Rosalía de Castro (Este vaise i aquel vaise …; aus: Follas Novas, 1880)

Text von Gedicht und Liedfassung

Liedfassung

portugiesischer Text und Musik von José Niza; Interpret: Adriano Correia de Oliveira; aus: Cantaremos (1970)

Andere Version (Grupo de Fado „Insígnia“, 2016; live, sehr stimmungsvoll)

Übersetzung:

Lied von der Emigration

Du schaust hierhin,
du schaust dorthin,
und alle, alle gehen fort.
Galicien, bald ist kein Mensch mehr da,
um dir das Brot zu schneiden. [Original: um deine Felder zu bearbeiten.]

Stattdessen bleiben dir
Waisenjungen und Waisenmädchen,
es bleiben dir aufgegebene Felder,
Mütter ohne Söhne
und Söhne ohne Väter.

Und es bleibt dir dein Herz,
dein Herz, das leidet
unter den langen, todesgleichen Abwesenheiten
und mit den Witwen der lebenden Toten,
die niemand trösten wird.

Du schaust hierhin …

Manuel Freire: Eles

aus: Manuel Freire canta Manuel Freire (1969)

Lied (mit Text)

Live-Aufnahme

Übersetzung:

Sie [Die Emigranten]

Da ziehen sie los,
Junge und Alte,
um ihr Glück zu suchen
an anderen Orten,
in anderen Lüften,
bei anderen Völkern.
Da ziehen sie los,
Junge und Alte.

Da ziehen sie los,
mit feuchten Augen
und traurigem Herzen,
eine Tasche auf dem Rücken,
mit großen Hoffnungen
und Träumen aus Gold.
Da ziehen sie los
mit feuchten Augen.

Eines Tages werden sie zurückkommen,
reich oder nicht,
und Geschichten erzählen
aus der weiten Welt,
wo das Brot
aus Schweiß gebacken wurde.
Eines Tages werden sie zurückkommen
oder auch nicht.

José (Zeca) Afonso: Canção do Desterro (Emigrantes)

aus: Traz outro amigo também (1970)

Lied (mit Text)

Übersetzung:

Lied vom Exil

Sie sind frühmorgens gekommen,
zu Tode erschöpft.
Auf Wiedersehen, meine Freunde,
wir kehren nicht mehr hierher zurück,
das Meer ist so groß
und die Welt ist so weit.
Schöne Maria,
wohin werden wir ziehen?

Auf dem Schiff
singen die Matrosen.
Dieses Meer ist nicht so wie das,
das ich gekannt habe.
Das Steuerrad
und der umschäumte Bug …
Schöne Maria,
wohin wird es uns verschlagen?

Nicht eine Wolke
über der Meeresflut.
Das Siebengestirn der Plejaden
weist uns den Weg.
[Ich denke an] die Worte der alten Frau,
wie sie auf uns eingeredet hat …
Schöne Maria,
wohin werden wir sinken?

Am Ufer des Meeres
bin ich aufgewachsen.
Ruder und Segel
habe ich dort in Wind und Sonne aufblitzen lassen
und auf dem [glühenden] Sand des Strandes.
Schöne Maria,
wo werden wir leben?

Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt,
ich besitze ein kleines Vermögen
in einem fremden Land.
Ich weiß, wo ich Halt machen muss,
ich bin wie der Wind,
der kommt und geht.
Schöne Maria,
wohin werden wir ziehen?

Die bronzene Glocke
in meinem Heimatdorf
läutet für mich,
der ich in die Welt hinausziehe,
und die alte Frau,
die schlaue alte Frau redet auf mich ein.
Schöne Maria,
wo werden wir büßen?

Sie kamen von weither,
alle haben es gewusst,
niemanden hat es gekümmert,
der sie kommen gesehen hat.
[Ich denke an] die Worte der alten Frau,
wie sie auf uns eingeredet hat …
Schöne Maria,
wo werden wir sterben?

Madredeus: O Mar

aus: O espírito da paz (‚Der Geist des Friedens‘; 1994)

Lied (mit Diashow)

Liedtext

Übersetzung:

Das Meer

Was ich euch sagen möchte,
ist kein Gedicht.
Ich weiß noch nicht einmal, ob es der Mühe wert ist,
es zu beschreiben:

das Meer,
das Meer.

Immer bin ich hier geblieben,
nur um es zu sehen,
und  ich bin alt geworden,
ohne es je zu verstehen,

das Meer,
das Meer.

Nachdichtung:

Den Worten, die sich in mir regen,
fehlt jeder dichterische Segen.
Ist nicht schon der Versuch verwegen,
es zu beschreiben:
das Meer, das Meer …

Stets wollte ich an diesem Ufer bleiben,
nur um es zu sehen,
und sah Jahr um Jahr vergehen,
ohne je es zu verstehen –
das Meer, das Meer …

Bild: Pixabay © Sabine Lange (Hamburg): Meer bei Sonnenaufgang

 

Mehr zur galicischen Dichterin Rosalía de Castro am nächsten Sonntag auf literaturplanet.de

 

5 Kommentare

  1. Die „Streifzüge“ sind ganz wundervoll: Interessante Texte, schöne Musik und einfühlsame Übersetzungen und Übertragungen ins Deutsche. VIELEN DANK für diesen Schatz!

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