In seinem Roman Stiller (1953/54) hat Max Frisch sich mit der „geradezu panischen Angst“ seiner Schweizer Zeitgenossen „vor dem geistigen Wagnis“ auseinandergesetzt. Den Hauptgrund für die daraus resultierende Anpassungsbereitschaft sah er in der Angst, „eines Tages vielleicht arm zu sein, ihre[r] Angst vor dem Leben, ihre[r] Angst, ohne Lebensversicherung sterben zu müssen, (…) ihre[r] Angst davor, daß die Welt sich verwandeln könnte“ (GW 3: 548; vgl. Liedermacher-Special, Teil 2).
Frischs Analyse der Schweizer Nachkriegsgesellschaft verhilft auch zu einem tieferen Verständnis der Studentenrevolte von 1968. Zwar richtete diese sich mit ihrem Kampfruf „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“ auch gegen die geistige Kontinuität des „Tausendjährigen Reichs“ der Nationalsozialisten. Der tiefere Grund für die Rebellion war jedoch die Unzufriedenheit mit dem Lebensmodell, das diese Kontinuität erst ermöglichte – einem Lebensmodell, das wirtschaftliches Wachstum und materiellen Wohlstand über alles stellt. Selbstreflexion, die Auseinandersetzung mit der – individuellen und kollektiven – Vergangenheit, aber auch mit den verheerenden Folgen, die dieses Lebensmodell für die Natur und für Menschen in anderen Regionen der Welt hat, waren (und sind) darin nicht vorgesehen.
Hieraus ergibt sich auch die Radikalität der Forderungen, die von der Studentenbewegung vorgetragen wurden. Es ging eben nicht um ein paar kleine Akzentverschiebungen, sondern um einen grundlegenden Wandel des Systems.
In der deutschsprachigen Musik jener Zeit tritt diese Radikalität besonders eindrücklich in den Songs der Band Ton Steine Scherben (um Rio Reiser) zutage. So wird in dem Lied mit dem sprechenden Titel Wir müssen hier raus! die dem menschlichen Wesen inhärente Freiheit („Wir sind geboren, um frei zu sein“) dem „Zuchthaus“ der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gegenübergestellt.
Wie in den Liedern von Franz-Josef Degenhardt und Kurt Widmer fungiert dabei auch hier der Sonntag als zentrales Symbol eines fehlgeleiteten Freiheitsverständnisses. Er erscheint als Karikatur der menschlichen Freiheit, indem er lediglich die Voraussetzung schafft für die erneute Verdinglichung des Menschen zu einer Arbeitskraft, die ihn seinem eigentlichen Wesen entfremdet. Das „Wort zum Sonntag“ lautet daher hier schlicht „Scheiße“.
Die anarchistische Zielsetzung des Protests kommt in dem Song Keine Macht für Niemand! zum Ausdruck. Darin wird die Freiheit in der bürgerlichen Demokratie als Schein-Freiheit kritisiert. Denn sie beschränke sich darauf, wählen zu können, „welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen“. Der Song prangert zudem die Mitleidslosigkeit und die soziale Ungleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft an: „Ich bin tausendmal verblutet, und sie ham mich vergessen, / ich bin tausendmal verhungert, und sie war’n vollgefressen“.
Die entscheidende Schlussfolgerung, die sich hieraus in dem Lied ergibt, ist: „Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n.“ Das Ziel ist also nicht eine Veränderung der Machtverhältnisse, sondern die vollständige Abschaffung von Hierarchien, da diese an sich zu Unmenschlichkeit führen.
Das wichtigste Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist Solidarität in einem umfassenden Sinn: „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen.“ Anstatt sich in der kapitalistischen Konkurrenzökonomie gegeneinander ausspielen zu lassen, sollten sich die Menschen einander zuwenden und das Verbindende in den Vordergrund stellen, ihr gemeinsames Interesse an geistiger Freiheit und persönlicher Entfaltung: „Kommt zusammen, Leute. Lernt euch kennen.“
Ton Steine Scherben: Keine Macht für Niemand; aus: Keine Macht für Niemand (1972)
Dies.: Wir müssen hier raus!; aus: Keine Macht für Niemand (1972)