Zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs über nachbarschaftliche Regelungen zum Trompetenspiel.
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. So steht es in Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes. Der geistige Urahn dieser Formulierung ist zweifellos Immanuel Kant, dessen moralischer Imperativ lautet: „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne“ (Kant 1797: 338). Auch Rosa Luxemburgs berühmtes Diktum aus dem Jahr 1918, wonach die Freiheit immer die „Freiheit der Andersdenkenden“ mit einschließen müsse (Luxemburg 1920: 34), gehört in diesen Zusammenhang.
In allen Fällen geht es um den Grundsatz, dass das Ausleben der eigenen Freiheit (im Denken und Handeln) nicht dazu führen darf, dass die Freiheit anderer eingeschränkt wird. Idealerweise sollten also bei jeder Lebensäußerung deren mögliche Auswirkungen auf andere mitbedacht werden.
Dies aber ist leichter gesagt als getan. Wir verfügen nun einmal nicht über ein Sensorium, das uns an einem Eindringen in die Sphäre einer fremden Freiheit hindern würde wie an einer Annäherung an eine heiße Herdplatte. Oftmals ist uns schlicht nicht bewusst, dass bestimmte Aspekte unseres Verhaltens von anderen als Einschränkung ihrer Freiheit erlebt werden könnten. Zuweilen halten uns auch irrationale Faktoren davon ab, eine Empfindung dafür zu entwickeln. Dies war früher etwa bei manchen Rauchern der Fall, deren Sucht – in Verbindung mit einer entsprechenden Propaganda der Tabakindustrie – dem Gebrauch der Vernunft im Wege stand. Und dann gibt es da natürlich auch noch jene Zeitgenossen, die grundsätzlich jede Äußerung ihrer Persönlichkeit als Bereicherung für andere ansehen und deshalb gar nicht auf die Idee kämen, dass die Entfaltung ihrer eigenen Freiheit eine Einschränkung der Freiheit anderer zur Folge haben könnte.
Dies zeigt: Der allgemeine Grundsatz von den Grenzen, die die eigene Freiheit in der Freiheit anderer findet, muss stets auf den konkreten Alltag bezogen und mit handhabbaren Regeln verbunden werden, wenn er als Handlungsmaxime wirksam sein soll.
Zu einem entsprechenden Fall hat der Bundesgerichtshof Ende Oktober ein Urteil gefällt. Es ging, kurz gesagt, um die Freiheitsrechte eines Trompeters in einem Reihenhaus. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung des Richterspruchs sehe ich hier zunächst von dem konkreten Fall ab und stelle idealtypisch Freiheitsentwürfe von Bewohnern eines Mietshauses nebeneinander. Nehmen wir also an, es wohnten im selben Haus:
- besagter Trompeter, der in seiner Wohnung musizieren möchte;
- ein Vater in Elternzeit, der zu Hause weiter als Softwareentwickler arbeitet, um den Anschluss an seinen Beruf nicht zu verlieren;
- eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die abends früh zu Bett gehen und wegen nächtlicher Magenprobleme teilweise auch am Vormittag schlafen;
- eine Krankenschwester, die häufiger Nachtdienst hat und dann morgens zu Bett geht;
- eine Studentin, die sich auf das Examen vorbereitet.
Vergleicht man die Formen, in denen sich die einzelnen Persönlichkeiten entfalten, miteinander, so lässt sich feststellen: Der einzige Fall, in dem die Freiheit einer Persönlichkeit die Freiheit anderer in Mitleidenschaft zieht, ist der des Trompeters. Indem er seine Freiheit auslebt, erschwert oder verunmöglicht er es anderen, zu schlafen, zu lernen oder zu arbeiten. Zwar könnte sich auch der Trompeter durch das nächtliche Geschrei der Kleinkinder beeinträchtigt fühlen. Dieses dient jedoch nicht der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Vielmehr handelt es sich dabei um die altersadäquate Form, zu kommunizieren bzw. Hilfe einzufordern.
Die logische Konsequenz dieser Gegenüberstellung von Persönlichkeitsentwürfen müsste es also sein, dass der Trompeter sich beim Ausleben seiner Freiheit Zügel anlegt. In diesem Sinne hatte auch das Landgericht Augsburg den Fall zunächst entschieden: Es hatte dem Trompeter enge zeitliche Vorgaben gemacht und ihm auferlegt, nur in dem Proberaum im Dachgeschoss zu üben.
Dieses Urteil hat der Bundesgerichtshof nun aufgehoben. Der Trompeter darf seine Freiheit demnach auch wieder im Wohnzimmer ausleben, mit wesentlich laxeren zeitlichen Regeln, die ausdrücklich auch das Musizieren in den Abendstunden und am Wochenende vorsehen.
Zur Begründung führt die zuständige Richterin u.a. aus, dass es keinen „Anspruch auf völlige Stille“ gebe. Hierum aber war es gar nicht gegangen. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist vielmehr, dass der Lebensentwurf des Trompeters es anderen erschwert, ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen. Dabei ist nicht nur an die Geräuschemissionen zu denken, die die Ausübung anderer Tätigkeiten erschweren oder verunmöglichen und ab einem bestimmten Lärmpegel auch die Gesundheit beeinträchtigen können. Vielmehr ist auch zu berücksichtigen, dass der Trompeter anderen mit dem Ausleben seiner Freiheit seinen eigenen Musikgeschmack aufdrängt. Gerade in der Musik aber sind die Geschmäcker extrem unterschiedlich. Das Aufnötigen eines fremden Musikgeschmacks kann deshalb sogar als Folter eingesetzt werden – wie es zeitweilig im Gefangenenlager Guantanamo praktiziert wurde, wo die mit amerikanischer Rock- und Pop-Musik beschallten Lagerinsassen sich hinterher fühlten, als wären sie „mit einem Hammer geschlagen worden“ (vgl. Epler 2013).
Möchte man die Wirkung der Folter verstärken, kann man sie übrigens noch mit Erwartungsangst verbinden. Dafür muss man die Opfer nur im Unklaren darüber lassen, wann sie mit den als quälend empfundenen Geräuschen beschallt werden. Die Ungewissheit führt dann dazu, dass die Stress-Symptome auch dann auftreten, wenn die Folter gar nicht praktiziert wird (vgl. Faust 2002).
In Bezug auf unseren Trompeter bedeutet dies: Es müssen zumindest klar umgrenzte Zeiten für das Musizieren festgelegt werden. Die bloße Beschränkung der wöchentlichen Übungszeit auf eine bestimmte Anzahl von Stunden – wie in dem BGH-Urteil – reicht nicht aus, um den Erwartungsstress zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund offenbart der Verweis der Senatsvorsitzenden auf den nicht vorhandenen „Anspruch auf völlige Stille“ ein gehöriges Maß an Zynismus – was für einen Urteilsspruch an einem der höchsten deutschen Gerichte eine erschreckende Feststellung ist. Problematisch ist vor allem, dass das Urteil den Geist der Verfassung komplett missachtet. Dies gilt auch für die Ausführungen der Richterin zur Bedeutung der Musik im gesellschaftlichen Alltag. Musik sei, so heißt es in dem Urteil, eine wichtige Freizeitbeschäftigung und vermittle Freude am Leben.
Derartige Äußerungen sind in einem Gerichtssaal letztlich fehl am Platze. Denn sie machen einen bestimmten Lebensstil und spezifische Vorlieben für die Gestaltung der Freizeit zum Maßstab für die Beurteilung eines Konflikts. Demgegenüber ist die Verfassung in der Beschreibung der Freiheitsrechte der Einzelnen bewusst allgemein gehalten. In einem freiheitlichen Rechtsstaat muss eben jedem Menschen auch das Recht zugestanden werden, keine Musik zu hören – und schon gar nicht darf er auf eine bestimmte Vorstellung von konzertantem Musizieren festgelegt werden. Dies muss heute, wo Menschen aus den verschiedensten Kulturkreisen in Deutschland leben, noch stärker als früher betont werden.
Indem das Gericht die Entscheidung über das Maß, in dem die Freiheit des Trompeters die Freiheit anderer einschränken darf, an subjektiven Vorstellungen vom Wert der Musik festmacht, fällt es im Grunde in vordemokratische Begründungsmuster zurück: Der Kaiser hört gerne Trompetenfanfaren – also müssen auch die Bürger Trompetenfanfaren lieben. Willkürentscheidungen sind so Tür und Tor geöffnet. Was, wenn irgendwann mal ein Richter begeistertes Mitglied in einem Swinger-Club ist – müssen dann alle Mieter das Gestöhne der entsprechenden Orgien ertragen, weil der Richter darin eine „sozialadäquate Freizeitbeschäftigung“ sieht? Und wäre das Urteil wohl genauso ausgefallen, wenn es nicht um einen Trompeter, sondern um einen Heavy Metal spielenden E-Gitarristen gegangen wäre?
Natürlich kann ein Staat die Entscheidung treffen, dass musikalische Betätigung besonders gefördert werden soll. Darüber zu befinden, ist jedoch keine Sache der Gerichte. Der angemessene Ort dafür ist vielmehr das Parlament. Hier könnten etwa Förderprogramme für die Schule und die Einrichtung von Räumen mit entsprechender Akustik – die außerhalb der Schulzeit auch von anderen Musikern genutzt werden könnten – beschlossen werden. Denkbar wäre auch die Bezuschussung schalldämmender Maßnahmen in Wohnungen von Musizierenden, die ihr Instrument regelmäßig daheim nutzen.
Stattdessen wird durch den Urteilsspruch einzelnen Menschen zugemutet, ihre Freiheit auf dem Altar angeblich höherer Gemeinschaftsinteressen – in diesem Fall das Musizieren – zu opfern. Dies ist ein Muster, das auch in anderen Bereichen zu beobachten ist – man denke nur an Flughäfen, Straßen oder Kraftwerke. Auch hier wird stets das Gemeinschaftsinteresse an bestimmten Dingen – Reisen, Alltagsmobilität, Energie etc. – über das Recht des einzelnen Menschen an einer freien Entfaltung seiner Persönlichkeit gestellt.
Damit deutet das BGH-Urteil auf eine Problematik hin, die über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist und auf Strukturmängel unseres Rechtsstaates hinweist. Im Kern geht es dabei um eine Verletzung zentraler Grundsätze der kantischen Moral, der zufolge der Mensch – da er, wie „überhaupt jedes vernünftige Wesen, (…) als Zweck an sich selbst“ existiert – „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern (…) in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ müsse (Kant 1785: 59 f.).
Würde man diesen Grundsatz ernst nehmen, so müsste es selbstverständlich sein, Menschen, deren Freiheit im – echten oder vermeintlichen – Interesse der Gemeinschaft eingeschränkt wird, eine entsprechende Kompensation anzubieten und die Freiheitseinschränkung zumindest so gering wie möglich zu halten. Niemals dürfte die Freiheit Einzelner auf dem Altar der Gemeinschaft geopfert werden. Stattdessen müssten Schallschutzmaßnahmen, Umzugsangebote und eine entsprechende Gesundheitsvorsorge für die Geschädigten ein selbstverständlicher Bestandteil von Gemeinschaftsprojekten sein, die mit massiven Eingriffen in die Freiheit Einzelner einhergehen.
Indem der Bundesgerichtshof in seinem Urteil all diese Aspekte der Freiheitsproblematik missachtet, offenbart er eine beunruhigende Distanz zum Geist des Grundgesetzes.
Nachweise:
BGH-Urteil:
Bundesgerichtshof: Mitteilung der Pressestelle, Nr. 171/2018: Trompetenspiel in einem Reihenhaus. Urteil vom 26. Oktober 2018: V ZR 143/17.
Janisch, Wolfgang: Täterätäää. Muss man es ertragen, wenn der Nachbar trompetet? Süddeutsche Zeitung, 27./28. Oktober 2018, S. 12.
Sonstige Zitate:
Epler, Jakob: Die dunkle Seite der Musik. Folter mit musikalischen Mitteln. Deutschlandfunk, 21. März 2013.
Faust, Volker: Lärm – Umweltproblem Nr. 1 und Geißel unserer Zeit. psychosoziale-gesunheit.net, 2002.
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Ders.: Werke in zwölf Bänden (Theorie-Werkausgabe, 1956), herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VII: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 1: 7 – 102. Frankfurt/M. 1968: Suhrkamp.
Ders.: Die Metaphysik der Sitten (1797). In: Ebd., Bd. VIII: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2, S. 309 – 499. Frankfurt/M. 1968: Suhrkamp.
Luxemburg, Rosa: Breslauer Gefängnismanuskripte zur Russischen Revolution (e bis 1918, v 1920). Textkritische Ausgabe, hg. von Klaus Kinner und Manfred Neuhaus. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. 2001 (Rosa-Luxemburg-Forschungsberichte, H. 2); wörtliches Zitat: „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern.“
Bild: Trompeter-Skulptur. Peggy und Marco Lachmann, Zypern (pixabay)