Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert

Zur Retro-Diskussion über „Sozialismus oder Kapitalismus“

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In der vergangenen Woche haben wir in Deutschland eine kleine Zeitreise unternommen. Es war ein bisschen wie bei einer politischen 80er-Party. CDU und FDP durften wieder lauthals „Freiheit statt Sozialismus!“ grölen, während ihnen vom linken Teil des politischen Spektrums der antikapitalistische Stinkefinger vor die Nase gehalten wurde. Der Komplexität der heutigen ökonomischen Realität wird dies jedoch in keiner Weise gerecht.

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Inhalt

Back to the 80s.

Böse Großunternehmen – guter Staat?.

Ein kreatives Sozialunternehmerpaar.

Staatliche Programme versus unternehmerisches Engagement

Staatliche Regulierung als Korrektiv.

Menschliche Grundbedürfnisse und freier Markt: Das Beispiel Wohnen.

Maßnahmen zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit

Fragwürdige Debattenkultur.

Back to the 80s

In der vergangenen Woche haben wir in Deutschland eine kleine Zeitreise unternommen. Es war ein bisschen wie bei einer politischen 80er-Party. CDU und FDP durften wieder lauthals „Freiheit statt Sozialismus!“ grölen, während ihnen vom linken Teil des politischen Spektrums der antikapitalistische Stinkefinger vor die Nase gehalten wurde.

Plötzlich war das alte Schablonendenken wieder ganz lebendig, als hätte es nie einen Fall der Mauer, nie ein Ende des Realsozialismus sowjetischer Prägung und nie eine Globalisierung gegeben, die das Gesicht des Kapitalismus radikal verändert hat. Kein Wort davon, dass kapitalistische Ausbeutung heute viel subtiler erfolgt als anno dunnemals, als ein böser Patriarch die armen Arbeiter bis zum Umfallen für sich schuften ließ. Kein Gedanke daran, dass heute irgendwo in einem indischen Callcenter ein Summa-cum-laude-Absolvent für ein paar Cent einem weltweit operierenden Konzern als Punchingball für unzufriedene Kunden dient. Clickworker, Scheinselbständige, prekär Beschäftigte – nebensächlich.

Böse Großunternehmen – guter Staat?

Der böse Feind stattdessen: ein Großunternehmen wie BMW. Dabei zeigt ein Vergleich der Gehaltstabellen von öffentlichem Dienst und Metallbranche, dass einfache Angestellte bei BMW keineswegs ein schlechteres Durchschnittsgehalt beziehen als Menschen, die vergleichbaren Tätigkeiten im öffentlichen Dienst nachgehen (1). Zwar sind die Arbeitsverhältnisse in letzterem Fall etwas sicherer. Dafür bekommt hier jedoch, anders als bei BMW, niemand mehrere Tausend Euro Gewinnbeteiligung ausgezahlt (2). Auch Weihnachts- und Urlaubsgeld, die im öffentlichen Dienst in den vergangenen Jahren radikal heruntergespart worden sind, fließen bei BMW – wie allgemein in der Autobranche – nach wie vor als durchaus spürbares Zubrot (3).

Der Vergleich macht auch deutlich, wie zwiespältig der Ruf nach „mehr Staat“ als Bollwerk gegen die Auswüchse des Kapitalismus ist. Denn dieser Ruf geht von einem sehr positiven, verklärten Bild des Staates aus. Er beruht auf der Vorstellung vom fürsorglichen „Vater Staat“, der seine Schutzbefohlenen vor den Schurkereien der kapitalistischen Camarilla bewahrt. In vielen Fällen legt jedoch gerade der Staat eine beachtliche Lust an der Ausbeutung an den Tag. So verdienen einfache Beamte in Deutschland vielfach nicht genug, um sich eine Wohnung in der Stadt leisten zu können. Insbesondere von Frauen wird im Rahmen der Kindererziehung und der Pflege alter Menschen noch immer kostenlose Arbeit erwartet, die ihnen später mit einer Mini-Rente und also mit Altersarmut vergolten wird.

Besonders drastisch ist die Ausbeutung an den Universitäten. Schon die Einteilung der Arbeitskräfte in „Unterbau“, „Mittelbau“ und „Oberbau“ ist bezeichnend, bildet sie doch erstaunlich ungeniert das alte Klassendenken ab. Wer das Pech hat, in „Unter-“ oder „Mittelbau“ beschäftigt zu sein, wird nicht selten mit befristeten Teilzeitverträgen abgespeist. In anderen Fällen gilt es schlicht als „Ehre“, an einer so „ehrwürdigen“ Institution arbeiten zu dürfen, so dass – wie bei den PrivatdozentInnen noch immer üblich – noch nicht einmal eine Aufwandsentschädigung für die geleistete Arbeit gezahlt wird. Zwar soll der in der vergangenen Woche von Bund und Ländern beschlossene „Zukunftsvertrag Studium und Lehre“, der an die Stelle des bisherigen Hochschulpakts treten wird, hier Abhilfe schaffen. Da die Mittelverwendung jedoch nicht unmittelbar an eine qualitative Verbesserung der Arbeitsverhältnisse gebunden ist, besteht die Gefahr, dass die Gelder wie bisher nach Gutsherrenart verteilt werden und so in der Summe wieder vor allem dem „Oberbau“ zugutekommen.

Auch dort, wo es darauf ankommt, innovative Ideen zu entwickeln und in die Praxis zu übertragen, hat sich der Staat in der Vergangenheit nicht gerade als vorbildlich erwiesen. Staatliche Strukturen tendieren grundsätzlich zur Trägheit, sie bewahren den Status quo und hemmen kreative Veränderungen. Hinzu kommt, dass Stellen hier oft über nepotistische Netzwerke statt nach Kompetenz besetzt werden. Schon der Begriff „eine Stelle besetzen“ zeigt ja, dass es darum geht, einen vorgegebenen Rahmen auszufüllen und darin entsprechend den Vorgaben zu funktionieren. Dies ist das genaue Gegenteil innovativer Start-ups, bei denen die kreative Idee am Anfang steht, aus der dann die nötigen Umsetzungsstrukturen und schließlich – ganz am Ende – die bestmöglichen Formen von Arbeitsaufteilung abgeleitet werden.

Ein kreatives Sozialunternehmerpaar

Tun wir also an dieser Stelle einmal etwas, das auf diesem Blog ansonsten eher selten passiert: Singen wir das Loblied auf das freie Unternehmertum – am besten anhand eines konkreten Beispiels. Meine Wahl fällt dafür auf das deutsch-malische Ehepaar Aida und Torsten Schreiber, das ich vor Kurzem in einer der aufschlussreichen Reportagen von Thomas Kruchem kennengelernt habe (4). Die beiden haben es sich mit ihrem Unternehmen Africa Greentec zum Ziel gesetzt, das bislang so gut wie vollständig von der öffentlichen Stromversorgung abgeschnittene ländliche Mali mit Strom zu versorgen. Dafür werden den Dorfgemeinschaften so genannte „Solartainer“ – von Solarstrom gespeiste Mini-Kraftwerke – auf Leasing-Basis angeboten. In einem nächsten Schritt können die einzelnen Haushalte sich dann Stromleitungen legen lassen, wobei die Grundausstattung auch drei LED-Leuchten und zwei Steckdosen umfasst.

Das Unternehmen bietet die Versorgung mit Solarstrom also nicht kostenlos an. Allerdings handelt es sich bei dem Ehepaar Schreiber auch nicht um Renditejäger. Die beiden sehen sich vielmehr als Sozialunternehmer, die die nach Abzug der Unkosten verbleibenden Gewinne in ihr Projekt reinvestieren. Für die Dorgemeinschaften bietet die privatwirtschaftliche Form der Hilfe den Vorteil, dass die bei staatlichen Projekten übliche Laufzeitbegrenzung entfällt. Stattdessen werden die Solarkraftwerke dauerhaft von der Firma gewartet. Auf etwaige Defekte kann mit Hilfe von Monteuren vor Ort, ergänzt durch regelmäßige Inspektionsreisen des Unternehmerpaares, schnellstmöglich reagiert werden.

Dort, wo die „Solartainer“ errichtet worden sind, haben sie rasch eine positive Wirkung entfaltet. Ein paar Beispiele:

  • Dieselgeneratoren, die bislang für den Antrieb von Kleingeräten benutzt wurden, verlieren an Bedeutung. Das schont die Umwelt und ist angesichts des gestiegenen Ölpreises auch gut für den dörflichen Geldbeutel.
  • Die nächtliche LED-Beleuchtung von Höfen erhöht die Sicherheit. Dies ist insbesondere für Frauen wichtig, die nun nicht mehr so stark in der Gefahr stehen, beim Weg zur Verrichtung der Notdurft vergewaltigt zu werden.
  • Die Dorfwirtschaft erhält zusätzliche Impulse. Ein Handwerker kann durch die verbesserte Stromversorgung nun mehr Aufträge in kürzerer Zeit erledigen. In einem anderen Fall hat jemand sich einen großen Kühlschrank zugelegt, in dem er in der Stadt gekauften Fisch lagert. Dieser ist nun bei unverändertem Preis frischer, und der Gewinn aus dem Handel kommt nun einem Mitglied der Dorfgemeinschaft zugute und nicht mehr fliegenden Händlern, die Ware von zweifelhafter Qualität anbieten.
  • Junge Leute ziehen nicht so schnell aus den Dörfern weg oder kehren sogar zurück, da sie dort nun wieder eine Perspektive für sich sehen.
  • Islamistische Rattenfänger haben durch den höheren Wohlstand der Dorfbevölkerung größere Schwierigkeiten, Nachwuchs für ihre Organisationen zu rekrutieren.

Staatliche Programme versus unternehmerisches Engagement

Natürlich hatte auch die internationale Staatengemeinschaft schon früh die Problematik der Unterversorgung mit Strom im ländlichen Afrika erkannt. Die Reaktion darauf war zu Beginn des Jahrtausends ein Programm zur großflächigen Verteilung von Dieselgeneratoren, verbunden mit dem Bau von Stromleitungen. Dieser Herangehensweise fehlte nicht nur deshalb die Nachhaltigkeit, weil sie die Umweltproblematik außer Acht ließ. Vielmehr wies sie auch keine langfristige Perspektive auf. So führte der Anstieg des Ölpreises dazu, dass die Generatoren im Betrieb zu teuer wurden oder erst gar nicht in Betrieb genommen werden konnten. Die Flexibilität, die bereits errichteten Stromleitungen durch andere Formen der Energieerzeugung zu nutzen, war jedoch nicht vorhanden, da die Gelder eben nur für das Projekt in der bestehenden Form bewilligt worden waren.

Im gewählten Beispiel ist das unternehmerische dem staatlichen Handeln eindeutig überlegen. Es erweist sich als flexibler und kreativer beim Umgang mit den Problemen vor Ort, und es ist aufgrund des persönlichen Engagements des Unternehmerpaares auch von größerer Nachhaltigkeit als die staatlichen Programme.

Staatliche Regulierung als Korrektiv

Auf der anderen Seite muss auch ein Start-up mit dezidiert sozialer Ausrichtung irgendwann in die Gewinnzone kommen oder zumindest die ominöse „Schwarze Null“ erreichen, wenn es nicht in Schieflage geraten will. Im konkreten Fall von Africa Greentec ist der finanzielle Druck sogar besonders groß, da die Banken angesichts des hohen Risikos eines unternehmerischen Engagements in der malischen Provinz die nötigen Kredite nur gegen vergleichsweise hohe Zinsen gewährt haben.

Hier liegt denn auch eine der Gefahren jedes innovativen unternehmerischen Engagements. Sobald der Liquiditätsengpass zu groß wird oder die Schulden überhandnehmen, droht der Einstieg von Finanzinvestoren. Diese schließen dann zwar die Finanzierungslücken, haben aber kein originäres Interesse mehr an dem jeweiligen Projekt. Ihnen geht es vielmehr in erster Linie um größtmögliche Rendite. Auf diese Weise droht dann aber der ursprüngliche Sinn des Unternehmens – im konkreten Fall die nachhaltige Sicherung der Stromversorgung im ländlichen Mali – aus den Augen verloren zu werden.

Die gleiche Gefahr kann sich freilich auch durch den raschen Aufstieg und Erfolg eines Start-ups ergeben. Steigende Umsatzzahlen können erst recht die Begehrlichkeiten von Finanzinvestoren wecken und dann ebenfalls zu einer reinen Ausrichtung auf Renditeinteressen führen.

Die Schlussfolgerung hieraus kann nur lauten: Die Alternative „freier Markt oder staatliche Regulierung“ missachtet die Komplexität der ökonomischen Realität. Worum es geht, ist gewissermaßen, das Beste aus beiden Welten miteinander zu verbinden. Freies Unternehmertum ist gut und wichtig, wenn es darum geht, Innovationen voranzubringen, festgefahrene Gleise zu verlassen und – oft genug mit ungewissem Ausgang und hohem persönlichem Risiko – Projekte voranzubringen, von denen man überzeugt ist. Staatliche Regulierung ist dort wichtig, wo die Projekte in die Phase der Konsolidierung eintreten und durch die ganz banale menschliche Gier ihren ursprünglichen positiven Effekt einzubüßen drohen.

Menschliche Grundbedürfnisse und freier Markt: Das Beispiel Wohnen

In verstärktem Maße brauchen wir staatliche Regulierung dort, wo menschliche Grundbedürfnisse betroffen sind. Im Beispiel aus Mali ist das die Stromversorgung. Hierzulande ist in diesem Zusammenhang zuletzt vor allem über das Wohnen diskutiert worden, das durch die exorbitanten Mieten in den Städten zunehmend vom Grundbedürfnis zum Luxus heraufgestuft wird.

Auch im Fall des Wohnens muss deshalb freilich nicht gleich mit der Keule der Enteignung geantwortet werden. Schließlich hat sich der Staat in den Plattenbausiedlungen und Wohnghettos der vergangenen Jahrzehnte nicht unbedingt als Meister des sozialen Wohnungsbaus gezeigt. Ja, sozialer Wohnungsbau ist möglich und wünschenswert. Es gehört dazu aber eine dauerhafte soziale Orientierung in der Kommunalpolitik, eine Kultur der Solidarität, die man nicht von oben herab verordnen, sondern – wie beispielsweise in Wien (5) – über Jahrzehnte hinweg mit Leben erfüllen muss.

Was sich dagegen recht einfach umsetzen ließe, wäre ein Paradigmenwechsel bei der Bemessung der Miete. Die Richtgröße dürfte dabei nicht mehr die Wohnung sein, sondern das verfügbare Einkommen der darin Lebenden. Als Faustregel müsste gelten, dass die Miete 30 Prozent des Monatseinkommens nicht übersteigen sollte.

Dies müsste nicht unbedingt mit übermäßigen finanziellen Verlusten für die Vermieterseite einhergehen. Gleichzeitig könnte nämlich auf eine soziale Mischung in den einzelnen Miethäusern hingewirkt werden – was zugleich der Gentrifizierung entgegenwirken würde. Von betuchteren Haushalten könnte dann mehr Miete als von sozial schlechter gestellten Mietparteien gefordert werden, wodurch sich die Verluste in der Summe weitgehend ausgleichen würden. Eine gewisse Absenkung der Rendite wäre jedoch auch durchaus ein gewünschter Effekt. Dadurch nämlich würde langfristig der Kaufpreis für Wohnungen sinken, wodurch sich wieder mehr Menschen Wohneigentum leisten könnten.

Da bei dieser Praxis die Einkommensverhältnisse offengelegt werden müssten, sollte die Wohnungsvermittlung über Wohnungsämter erfolgen. So könnte auch verhindert werden, dass auch hier wieder wohlhabende Zeitgenossen bevorzugt werden. Bei größeren Wohnungen stünden Mehrpersonenhaushalte und insbesondere Familien mit kleinen Kindern ganz oben auf der Liste.

Natürlich müsste bei diesem System auch darauf geachtet werden, dass von den Mieten genug Rücklagen für Renovierungen gebildet werden können. Wo dies nicht der Fall ist, müssten staatliche Darlehen an die Stelle der bisher dafür üblichen Mieterhöhungen treten.

Maßnahmen zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit

Dass soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft miteinander vereinbar sind, ist keine neue Erkenntnis. Dafür bedarf es allerdings einer konsequenten staatlichen Korrektur der natürlichen menschlichen Gier. Die Bereitschaft dazu hat in letzter Zeit, im Zuge der neoliberalen Wende, massiv abgenommen. Mit dem nötigen politischen Willen lässt sie sich jedoch jederzeit reaktivieren.

Was spricht beispielsweise dagegen, gesamtgesellschaftlich in ähnlicher Weise ein Maß für die Gehaltsunterschiede einzuführen, wie es auch für die immer weiter auseinanderklaffende Lohnschere innerhalb der Unternehmen diskutiert wird? (6) BMW mag ein vergleichsweise angenehmer Arbeitgeber sein. Aber müssen die beiden Großaktionäre, die Geschwister Susanne Klatten und Stefan Quandt, deshalb drei Millionen Euro pro Tag verdienen? (7) Könnte hier nicht eine Grenze eingezogen werden, durch die das Einkommen wenigstens mit dem des Managements vergleichbar wäre?

Hier haben wir es übrigens mit einem Problem zu tun, das keineswegs auf die „besitzende Klasse“ beschränkt ist. Auch Fußballprofis – bei denen es sich formal um angestellte Arbeitskräfte handelt – müssten im Falle der Einführung eines Entlohnungssystems, das die Unterschiede bei den Monatsgehältern auf ein einigermaßen erträgliches Maß beschränkt, massive Abschläge in Kauf nehmen.

Eine solche Regulierung einzuführen, ist nicht nur für den sozialen Zusammenhalt wichtig. Vielmehr ist die finanzielle Macht einzelner Akteure mittlerweile so stark, dass die Autonomie des staatlichen Handelns dadurch gefährdet ist. Dabei zeigen Milliardäre wie Bill Gates mit ihren Stiftungen, dass sie durchaus bereit sind, unternehmerischen Erfolg mit sozialem Engagement zu verknüpfen. Dies gilt, eine Etage tiefer, auch für Fußballstars. Es ist jedoch nicht unproblematisch, wenn Menschen nur deshalb, weil sie auf irgendeinem Gebiet große Gewinne einfahren, darüber entscheiden können, wo und in welcher Weise soziale Projekte gefördert werden. Denn dabei besteht stets die Gefahr, dass sachfremde Interessen in die Entscheidungen miteinfließen und die vorgeblich hehren Ziele konterkarieren (8).

Staatliche Regulierung müsste demzufolge ihre Zielrichtung radikal ändern. Anstatt, wie es derzeit geschieht und auch in der aktuellen, auf „nationale Champions“ abzielenden Wirtschaftspolitik vorangetrieben wird, die großen „Player“ zu schonen, müssten bei diesen die Gewinne stärker abgeschöpft und an kleinere Start-ups umverteilt werden. Diese zu fördern und ihnen größtmögliche Freiräume zu bieten, liegt im ureigenen Interesse des Staates, der von der innovativen Kraft und dem kreativen Geist neu durchstartender Unternehmen nur profitieren kann.

Fragwürdige Debattenkultur

Sozialismus oder Kapitalismus? – Das ist in der Tat eine Fragestellung aus dem vorigen Jahrhundert. Die Dinge sind komplexer geworden, heute brauchen wir freien Unternehmergeist ebenso wie staatliche Regulierung, die – durchaus auch von der Aussicht auf persönlichen Gewinn befeuerte – Lust an neuen unternehmerischen Projekten ebenso wie die staatliche Grenzziehung beim Ausmaß des persönlichen Profits.

Die Frage, wie soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert aussehen könnte, ist also weitaus komplexer, als es bei der Retro-Diskussion um „Freiheit oder Sozialismus“ in der vergangenen Woche den Anschein hatte. Wer sich darüber mit kritischen Ökonomen unterhalten würde, könnte sicher ein paar interessante, bedenkenswerte Antworten erhalten. Wer aber die Debatten von einem 29-jährigen Studienabbrecher beherrschen lässt, nur weil die Jugendorganisation einer ehemaligen Volkspartei ihn zu ihrem Vorsitzenden gewählt hat, muss sich nicht wundern, wenn nichts als heiße Luft dabei herauskommt.

Nachweise

(1) Vgl. IG-Metall, Bezirk Bayern: Übersicht über die Entgeltgruppen (April 2018) und oeffentlicher-dienst.info: Prognose zur Beamtenbesoldung in Bayern 2019.

(2)  Handelsblatt: Familie Quandt verdient drei Millionen Euro – pro Tag. 21. März 2018.

(3) Vgl. IG-Metall, Bezirk Bayern: Übersicht über die Entgeltgruppen; zur historischen Entwicklung der Sonderzahlungen im öffentlichen Dienst vgl. die Übersicht auf oeffentlicher-dienst.info.

(4) Kruchem, Thomas: Solarstrom für Mali: Die Lichtbringer. Deutschlandfunk Kultur, 19. April 2019.

(5) Vgl. den Eintrag im Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie: Kommunaler Wohnbau; dasrotewien.at.

(6) Weckes, Marion: Manager to Worker Pay Ratio 2017. Das Verhältnis der Vorstandsvergütung zur Mitarbeitervergütung im DAX. Mitbestimmungsreport Nr. 44, Juli 2018, Hans-Böckler-Stiftung.

(7) Handelsblatt: Familie Quandt verdient drei Millionen Euro – pro Tag. 21. März 2018.

(8) Vgl. Kruchem, Thomas: Weltgesundheitsorganisation am Bettelstab: Was gesund ist, bestimmt Bill  Gates. Deutschlandfunk Kultur, 16. Mai 2017.

 

Bild: Jorge I. Angulo: mexikanischer Unternehmer, Anfang 20.Jahrhundert (Pixabay)

 

 

2 Kommentare

  1. Guten Tag,

    ihr Artikel hat meine Widerspruchslust gereizt. Vielleicht bietet meine Antwort eine ergänzende und berichtigende Perspektive:

    Sogenannte Retro-Diskussionen können sowohl formal anachronistisch sein im Hinblick auf obsolete Argumentations- und Begriffsformen, als auch thematisch in bezug auf längst überlebte Lebensprobleme. Für letzteres sei als Beispiel genannt die Diskussion über die Existenz Gottes, für ersteres die Beschreibung psychischer Strukturen mithilfe von Substanzbegriffen, wie etwa der Seele.

    Spricht Kühnert von Ausbeutung, dann dürfte er nicht nur an die subtilen Formen in unseren Breitengraden denken, sondern, insofern es Ausbeutung gibt und global, auch an die „klassische“ Exploitierung in den Formen des 19. Jahrhunderts, anzutreffen in der Kinderarbeit in Bangladesch, abzulesen an einstürzenden Fabrikgebäuden. Woraus folgt, dass wir es weniger mit Retro-Diskussionen zu tun haben, als vielmehr mit einer nicht unzutreffenden Kennzeichnung ungleichzeitiger Ausbeutungsformen. Retro ist also nicht der Begriff bzw. die Diskussion, sondern das retrograde Ausbeutungsverhältnis, das er mit umfasst.

    Die Kapitalismus-Sozialismus-Debatte krankt an einer Besetzung der Begriffe: sie diskutiert nicht Probleme, sondern verfestigt Positionen, indem sie mit Abstrakta hantiert. Es ist, als säßen Theologen zusammen und diskutierten einen neuen Existenzbeweis Gottes, einen Vorschlag also. Und da sagt einer: „Das ist typisch katholisch.“ Um die Unsinnigkeit dieser Argumentation zu illustrieren, lasse ich den anderen Theologen erwidern: >>Nein, das ist typisch evangelisch.“ Was passiert? Eine Sachaussage wird mit einem Werturteil vermengt, oder anders: Es wird nicht das Was-Sein definiert, sondern das Was-Sein wird über sein Wert-Sein bestimmt – und damit nicht bestimmt, sondern bestimmt als bestimmungsunwürdig kaltgestellt. Der Diskutant sagt also nicht, was Sozialismus ist oder an welchen Sozialismus er denkt; er sagt: „Das ist Sozialismus!“ Früher hieß es: „Das ist der Teufel“

    Das ist im übrigen die erste Ironie in der ganzen Diskussion. Man wähnt, gegen Gestriges zu diskutieren, und polemisiert mit scheinbar überwundenen Schlagworten. So kehrt das Gespenst des Kommunismus als Gespenst des Sozialismus wieder. Es flattert als abschreckendes Hohlwort durch die Diskussionen, indem es nicht näher bestimmt wird. Stattdessen ein abwinkender Wink nach Gestern (der Staatssozialismus in der DDR) oder nach Morgen ins angeblich phantastische Blaue und Blauäugige der Utopie (der Kommunismus).

    Die zweite Ironie untergräbt den Boden, auf dem sie selber steht, indem sie verneint, was sie bejaht: Also, wenn die Soziale Marktwirtschaft seit Erhard nicht ein verkappter Marktsozialismus ist – sozialistischer als jeder je existierende Staatssozialismus -, dann weiß ich auch nicht: In der DDR gab es zum Beispiel kein Wohngeld. Viele Amerikaner bezeichnen unsere gesetzliche Krankenversicherung als reinsten Staatssozialismus. Im übrigen erinnert das Beispiel des neuen Unternehmertums, das sie bringen, frappant an den utopischen Sozialismus eines Robert Owen.

    Was machen wir jetzt damit? Sagen wir jetzt Sozialismus und bedeuten damit, dass sei von Übel, und beenden die Diskussion, oder schauen wir nach, wo es sinnvolle, pragmatische, schon realisierte Lösungstendenzen gibt, gleichgültig ob sozialistisch oder kapitalistisch. Ein Beispiel wären die heutigen landwirtschaftlichen Erzeugergemeinschaften. Früher nannte man dergleichen LPG oder Genossenschaften. Diese Erzeugergemeinschaften haben verstanden, dass der Sektor Landwirtschaft – für andere Sektoren sind andere Formen sinnvoll – nicht primär global und marktorientiert operieren sollte, sondern lokal und bedürfnisorientiert. Wenn wir das unbedingt mit einem Etikett belegen wollten, dann hieße das in der Tat sozialistisch. Aber sozialistisch wäre dann nicht gleichbedeutend mit rückwärtsgewandt, sondern mit einer praktischen Übersetzung der sozialen Frage in eine zeitgemäße, weil sozialökologische Form des Wirtschaftens in der Landwirtschaft.
    Ein weiteres Beispiel wäre die Verschiebung des marktorientierten Pflegesektors in den Aufgabenbereich der einzelnen Gemeinden, steuerfinanziert und über Beiträge aus lokal gegründeten Pflegegemeinschaften. Ist das sozialistisch? Egal. Entscheidend ist die Frage, ob das sinnvoll, das heißt: wünschenswert und praktikabel ist.

    Wer seine Vorurteile gegen den Sozialismus überwinden möchte, dem empfehle ich die Lektüre eines ideologisch unverdächtigen Dichters. Oscar Wilde hat in seinem glänzenden Essay ‚Die Seele des Menschen im Sozialismus‘ entscheidende Einsichten formuliert, wie Freiheit, Individualismus und Sozialismus zusammengehn. Entlang dieses Essays könnte die Einsicht wachsen, dass heute am Runden Tisch nicht nur die Ökonomen, sondern auch die Ökologen, die Dichter und die Experimentalutopien sitzen sollten.

    Freundliche Grüße

    phileos

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    1. Danke für diesen ausführlichen Kommentar. Das Denken freier zu gestalten und sich von den Begriffen und ihrer historischen Verortung ein Stück weit zu lösen, erscheint mir pragmatisch. Der Gedanke, dass die Dichter (innen) und Ökolog(inn)en mit am Tisch sitzen sollten, gefällt mir auch sehr. Wir haben doch allzu viele Schranken und mehr Phantasie würde jeder Debatte gut tun.

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