Zu den Landtagswahlen in Sachsen und
Brandenburg
Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen: Wieder einmal reden wir über einen Wahlabend wie über einen Spieltag in der Fußball-Bundesliga: Wer hat gewonnen? Wer hat verloren? Wer ist Erster? Wer ist Zweiter?
Ein treffliches Mittel, von den entscheidenden Erkenntnissen abzulenken, die der Wahltag zu bieten hat …
Perspektivenwechsel: Ein anderer Blick auf die Wahlergebnisse
Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg laufen nun wieder einige mit dicker Hose herum. Neben der AfD sehen sich vor allem die Grünen als Wahlgewinner. Sachsen: 8,4 %, sprich + 2,7 %! Brandenburg: 10,8 %, sprich + 4,6 %!
Der schöne Schein beruht allerdings zu einem großen Teil auf bestimmten Konventionen der Wahlberichterstattung. Wenn man die Perspektive nur geringfügig verändert, erscheint das Ergebnis schon weit weniger beeindruckend. So gibt es in Sachsen 3,3 Millionen, in Brandenburg 2,5 Millionen Wahlberechtigte. Davon haben 94,5 % bzw. 93,6 % die Grünen nicht gewählt.
Dieselbe Realität löst also, anders betrachtet, eine ganz andere Wirkung aus. Die konventionelle Darstellung der Wahlergebnisse suggeriert, dass die Grünen mit ihrem erhöhten Stimmenanteil eine wichtigere Rolle in der Landespolitik spielen sollten. Bei der Berücksichtigung der Gesamtheit der Wahlberechtigten bleibt ihre Bedeutung dagegen marginal.
Derselbe Perspektivenwechsel lässt sich natürlich auch bei den anderen Parteien vornehmen. Bei den Grünen erscheint die Relativierung der angemaßten Bedeutung jedoch besonders wichtig, da sie wie keine andere Partei bereits aus geringfügigen Stimmenzuwächsen die Berechtigung zum Umbau des Landes ableiten. „Umbau“ ist dabei wörtlich zu nehmen: Er bedeutet bei den Grünen die Zubetonierung des Landes mit Windkraftanlagen, im Interesse der mit dieser Partei besonders eng verwobenen Windstromlobby.
50 Prozent Neinsager
Im Prinzip läuft es allerdings bei den anderen Parteien nicht anders. Alle versuchen, ihr Ergebnis schönzurechnen und damit die Durchsetzung ihrer eigenen politischen Interessen zu legitimieren. Durch die Fokussierung auf den eigenen prozentualen Anteil bei denen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben, gerät aber das eigentliche Ergebnis der Wahlen aus dem Blick. Im Falle der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg lautet es: 47,8 % bzw. 54,5 % der Wahlberechtigten gehen zu dem demokratischen System, wie es in Deutschland praktiziert wird, auf Distanz.
Ich fasse hierbei die Gruppe derer, die nicht zur Wahl gegangen sind, und diejenigen, die für die AfD votiert haben, zusammen: Das Nichtwählen lässt sich als passiver, das Wählen der AfD als aktiver Protest werten. Dementsprechend vorsichtig ist meine Formulierung: Distanz zum demokratischen System in der hierzulande üblichen Form ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Ablehnung der Demokratie als solcher. Vielmehr sind viele Menschen der Überzeugung, dass es in unserem System für sie keine echte Teilhabe an demokratischen Mitbestimmungsprozessen gibt.
In Ostdeutschland ist dieser Eindruck besonders ausgeprägt. Hier mussten die Menschen schon seit der Wende erleben, dass andere bis in den Nahbereich ihres Alltags hinein Entscheidungen für sie getroffen haben, auf die sie so gut wie keinen Einfluss hatten. Ihre eigene Expertise war nicht gefragt, ihr eigene Kultur und Alltagserfahrung wurde zusammen mit der DDR auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. So erlebten die Menschen die Demokratie von Anfang an als die „Demokratie der Anderen“, als Scheinveranstaltung, bei der das „Abgeben“ der Stimme eine ganz andere Bedeutung hatte, als in den politischen Sonntagsreden behauptet wurde.
Luftschloss Parlament
Vom Grundsatz her ist es hier allerdings nicht anders als in den westlichen Bundesländern: Die Politik wird als Luftschloss wahrgenommen, in dem Dinge verhandelt werden, die mit dem eigenen Alltag nicht das Geringste zu tun haben.
Wenn etwa Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer voll des Lobes ist über die Politik seiner Partei, die dem Land zu einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit verholfen habe, geht dies an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen schlicht vorbei. Deren Alltag ist geprägt von Minijobs und anderen prekären Beschäftigungen, die kaum ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dabei kommt noch erschwerend hinzu, dass die Tarifbindung in Sachsen mit 39 % so niedrig ist wie nirgends sonst in Deutschland.
Die entscheidende Frage, die sich aus den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg ergibt, ist deshalb nicht: Welche Partei darf in welchem Maße ihr Grundsatzprogramm politisch umsetzen? Sondern: Wie lässt sich die Demokratie so umgestalten, dass die Kluft zwischen den Raumschiffen der Parlamente und den Bodenstationen der konkreten Lebenswirklichkeiten geschlossen wird? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, damit die Menschen nicht mehr das Gefühl haben, nur Spielsteine auf dem Schachbrett der Politik zu sein?
Der Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten haben gezeigt, wie eine solche Neuausrichtung der Demokratie nicht aussehen darf: Sie darf nicht auf landesweiten Referenden beruhen, die der populistischen Stimmungsmache Tür und Tor öffnen. Der entscheidende Ansatzpunkt für eine Ausweitung demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten ist stattdessen die kommunale Ebene. Dies ist der Ort, wo sich Mitbestimmung und Mitgestaltung konkret erleben lassen. Dies ist folglich der Ort, an dem die Menschen in politische Entscheidungen miteinbezogen werden müssen.
Für mehr Mitbestimmung: Beispiel Flüchtlingspolitik
Nehmen wir zum Beispiel das besonders heikle Flüchtlingsthema. Die derzeitige Praxis sieht so aus, dass die Aufnahme von Flüchtlingen von oben verfügt wird. Das ist so, als wenn mir heute jemand sagen würde, dass ich morgen Gäste in meinem Haus aufnehmen muss. Dabei provoziert schon die Tatsache, dass ich nicht gefragt werde, ob mir das passt, Widerstand.
Hinzu kommt in diesem Fall aber noch, dass mir vorgeschrieben wird, wie ich mit den Gästen in meinem Haus umzugehen habe. Ich muss ihnen zwar höflich begegnen, darf sie aber keinesfalls an der Hausarbeit beteiligen, weil irgendwo anders vielleicht irgendjemand morgen entscheidet, die Gäste wieder in ihre Heimat zurückzuschicken. Also vermeide ich den Kontakt zu den ungebetenen Gästen lieber gleich ganz.
Dies verübeln mir aber dann nicht nur die bei mir untergebrachten Fremden. Vielmehr werde ich dafür auch noch von denen, die die Gäste bei mir einquartiert haben, als fremdenfeindlich beschimpft. Sie selbst schotten sich in ihren gentrifizierten Stadtvierteln von allem ab, was sie in ihrer feinen Gesellschaft nicht haben wollen. Und wenn sie die Zeit für gekommen halten, schieben sie Menschen, die sie gar nicht kennen und auch nie kennenlernen wollten, in ihre zerbombte Heimat ab. Als fremdenfeindlich aber gilt nur der, der die Fremden nicht widerspruchslos bei sich aufnimmt.
Demokratische Mitbestimmung würde in diesem Fall bedeuten: Die Gemeinden werden gefragt, ob und in welchem Ausmaß sie zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind. Auf Bürgerversammlungen wird dann vor Ort besprochen, wie und von wem Flüchtlinge untergebracht werden können. Diese dürfen dann auch vom ersten Augenblick an uneingeschränkt am Leben der Gemeinde teilnehmen. Wenn sie sich gut integrieren, dürfen sie für immer bleiben.
Nach diesem Modell dürfte also jede Gemeinde selbst entscheiden, inwieweit sie ihr Haus für Fremde öffnen möchte. Die Freiwilligkeit wird dann auch die Bereitschaft erhöhen, auf diejenigen zuzugehen, die man in seinem Haus aufgenommen hat. Sie sind dann eben nicht mehr gezwungenermaßen Einquartierte, sondern Gäste, die man selbst eingeladen hat.
Beteiligt man die Gemeinde zusätzlich noch an der Entscheidung über die Bleibeperspektive, kann auch vor Ort der Nutzen der Zuwanderer erlebt werden. Gerade auf dem Land können sie ihre Kraft und Expertise in eine Reihe von Serviceangeboten einbringen, für die der Staat sich nicht mehr zuständig fühlt – von Fahrdiensten in die nächste Stadt über Einkäufe für alte Leute bis hin (bei entsprechender Qualifizierung) zu medizinischer Grundversorgung und Nachmittagsbetreuung an den unter Lehrkräftemangel leidenden Schulen.
Fremdenfeindlichkeit und Entfremdung
Natürlich ist es erschreckend, dass die AfD mit dem Schüren von Fremdenfeindlichkeit von einem Wahlerfolg zum nächsten eilt. Die Frage ist jedoch, ob hier nicht womöglich ein grundlegendes Entfremdungsgefühl in skrupelloser Weise auf konkrete Fremde umgeleitet wird. Ob also im Grunde mit dem Fremdenhass gar nicht die fremden Zuwanderer, sondern die fremden Politiker gemeint sind, die einen vom eigenen Alltag entfremden, indem sie ihn der Verfügungsgewalt der vor Ort lebenden Menschen entziehen.
Im Übrigen relativieren sich auch die Wahlerfolge der AfD, wenn man nicht die Anzahl der abgegebenen Stimmen, sondern die Gesamtheit der Wahlberechtigten zum Maßstab nimmt. Dann lautet das Ergebnis: In Sachsen haben 87,7 % nicht die AfD gewählt, in Brandenburg haben ihr 86,5 % die Stimme verweigert.
Es war auffällig, wie die Kommentatoren im ARD die vom massiven Windkraftausbau betroffenen Gebiete, in denen viele Unzufriedene die AfD gewählt haben, charakterisiert haben: Lausitz, ländliche Räume, abgekoppelte Regionen, Regionen mit Lehrer- und Ärztemangel, Überalterung und Landflucht usw. usf. Sie haben die Merkmale der vom massiven Windkraftausbau betroffenen Gebiete einzeln aufgezählt und dabei geflissentlich vermieden, das Problem beim Namen zu nennen.
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