Musikalische Sommerreise 2019: Bonustrack
Auf meiner Heimreise von der diesjährigen musikalischen Sommerreise habe ich im Baltikum Station gemacht. Dort habe ich ein paar Bekannte getroffen, die ich im letzten Sommer während meiner Musikreise kennengelernt habe. Das Wiedersehen (- und hören!) hat mir viel Freude bereitet. So habe ich mich dazu entschlossen, für diejenigen, die letztes Jahr nicht dabei waren, eine Kurzfassung der drei baltischen Reiseetappen zu erstellen.
Ich selbst werde mich nun wieder in herbstlich-heimische Gefilde begeben. Wer noch Zeit und Lust hat, kann ja auf eigene Faust weiterreisen. Anregungen dazu finden sich in der Übersicht zu den musikalischen Streifzügen.
Baltikum reloaded.pdf
INHALT:
Gemeinsamer Gesang als Politikum: Die „Singende Revolution“
Die baltischen Liederfeste
Besonderheiten der lettischen Gesangskultur
Lettische Frauenpower: Die Band Sus Dungo
Experimentierlabor Estland
Der „Eigen-Sinn“ der estnischen Musikszene: Die Band Trad.Attack!
Euphorischer Aufbruch, schmerzhafter Umbruch
Litauische Melancholie: Ein Lied von Alina Orlova
Gemeinsamer Gesang als Politikum: Die „Singende Revolution“
1989, auf dem Höhepunkt der Unabhängigkeitsbewegung, bildeten Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Kette aus zwei Millionen singenden Menschen, die sich quer durch das Baltikum zog (den so genannten „Baltischen Weg“). Es ist daher kein Wunder, dass das Aufbegehren der baltischen Länder gegen die sowjetische Oberhoheit über ihre Territorien als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingegangen ist.
Der Begriff ist freilich auch deshalb treffend, weil der gemeinsame Gesang schon zu Zeiten der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich für Esten, Letten und Litauer ein wichtiges Mittel war, um sich ihrer kulturellen Identität zu vergewissern. In allen drei Ländern war schon früh eine Gesangskultur entstanden, in der man sich über die Pflege des jeweils eigenen Liedguts zugleich der eigenen Sprache und Geschichte versicherte.
Die baltischen Liederfeste
Höhepunkte dieser musikalischen Zusammenkünfte waren und sind bis heute die alle fünf Jahre stattfindenden Sänger- bzw. Liederfeste, bei denen Chöre aus dem ganzen Land sowie ausländische Gastchöre Kostproben ihrer Kunst geben. Die kulturelle Einzigartigkeit dieser Art von Musikfestivals wurde 2003 auch von der UNESCO gewürdigt, indem sie die Liederfeste in den Rang eines immateriellen Weltkulturerbes erhoben hat.
Während in Litauen die Liederfeste erst seit 1924 gefeiert werden, reicht deren Tradition in Estland und Lettland noch weiter in die Geschichte zurück. In Estland gibt es sie bereits seit 1869, in Lettland seit 1873. Allerdings existiert hier in den deutschbaltischen Liedertafeln und ihren seit 1836 belegten Zusammenkünften ein noch älterer Vorläufer. Dieser weist wiederum Parallelen zu den Gesangsvereinen des deutschen Vormärz auf, in denen man sich jene Versammlungs- und Meinungsfreiheit herausnahm, die von den restriktiven Regimen der Restaurationszeit unterdrückt wurde. Dies drückte sich ebenso im Liedgut selbst aus („Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten …“) wie in der Form der Zusammenkünfte, in denen man eben jene ungezwungene Assoziierung Gleichgesinnter auslebte, die der Staat ansonsten zu unterbinden versuchte.
In gewisser Weise sind die baltischen Sängerfeste damit Erben oder zumindest ein Nachhall der deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied zu den deutschen Gesangsvereinen ist dabei freilich, dass es bei den baltischen Völkern stets nicht nur um politische Rechte, sondern auch um sprachlich-kulturelle Selbstbestimmung ging. Dies erklärt wohl auch, warum den Liederfesten eine zentrale Bedeutung für das nationale Selbstverständnis zukommt. In Lettland sind sie seit 2005 sogar gesetzlich verankert.
Besonderheiten der lettischen Gesangskultur
In der Tat scheint das gemeinsame Singen in Lettland noch stärker in der Alltagskultur verankert zu sein als in den beiden Nachbarländern Estland und Litauen. „Singend wurde ich geboren, singend wuchs ich auf, und singend lebe ich mein Leben“ – so heißt es in einem lettischen Volkslied (vgl. Allwardt 2013). Dem entspricht, dass man in Lettland auf Familienfesten wie selbstverständlich vierstimmig im Chor singt und natürlich unzählige Lieder auswendig kennt (vgl. ebd.).
Ein Grund für diese besondere Bedeutung des musikalischen Gemeinschaftserlebnisses könnte die noch stärkere Abschottung vom Ausland in der Zeit der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich sein: Während die Esten sich an den sprachlich verwandten Finnen orientieren konnten und die Litauer wenigstens noch über die benachbarten Polen, mit denen sie eine lange gemeinsame Geschichte teilen, ein Fenster nach draußen hatten, waren die Letten weitgehend auf sich allein gestellt. Die Konzentration auf die eigenen kulturellen Traditionen fungierte damit hier noch stärker als eine Art Schutzschild gegen die sowjetische Fremdherrschaft.
Die Verankerung des Volkslieds in der Alltagskultur ging dabei allerdings nicht mit einem rückwärts gewandten, musealen Verständnis von Musik einher. Vielmehr scheint gerade der vertraute Umgang mit der musikalischen Tradition Experimentierfreude und kompositorische Innovationen zu begünstigen. Dadurch, dass die Musik ein selbstverständlicher Teil des Alltagslebens ist, fällt es offenbar leichter, mit ihr zu spielen und neue Wege zu erproben. So experimentiert laut Ojar Spartitis, dem Präsidenten der Lettischen Akademie der Wissenschaften, in Lettland jeder Komponist so lange, „bis er das Gefühl des Astronauten bekommt – den Verlust von Gewicht und [ein] Gefühl des Schwimmens in überirdischer Materie“ (zit. nach ebd.).
Lettische Frauenpower: Die Band Sus Dungo
Als Beispiel für diese kreative Bezugnahme auf die musikalische Tradition kann hier auf die seit 2008 existierende Frauenband Sus Dungo verwiesen werden. Die Band vermischt in ihren Liedern traditionelle Elemente der lettischen Musik mit anderen musikalischen Richtungen. Neben Instrumenten, die man eher der klassischen Volksmusik zurechnen würde (wie dem Akkordeon und der Ukulele), kommen auch Instrumente wie die Querflöte und die Harfe zum Einsatz, die eher in der klassischen Musik zu Hause sind. Gleichzeitig sind jedoch auch E-Gitarrenklänge zu hören.
Daraus ergibt sich eine eigenwillige Mischung, die sich bereits im Namen der Band andeutet: „Sus“ ist der Name, den die Bandgründerin, Diāna Čepurnaja, einst ihrer Gitarre gegeben hat und aus dem schließlich ein Spitzname für sie selbst geworden ist. „Dungo“ bedeutet auf Lettisch „summen“. „Sus Dungo“ lässt sich demnach mit „Summende Gitarre“ übersetzen. Der Name deutet also auf eine Musik hin, die die Zuhörer in neue, unerwartete Klangwelten entführt.
Sus Dungo: Rasā Pēdas
aus: Rasā Pēdas (2013)
Übersetzung:
Spuren im Tau
Auch Wildrosen können verloren gehen.
Verstrick dich ruhig in ihnen, aber blick dann nicht zurück!
Schau hin – aber pass auf, dass du dich nicht in ihnen verlierst.
Doch auch wenn du dich bemühst, dich nicht in der Dunkelheit zu verlieren:
Wie kannst du wissen, was Dunkelheit ist, wenn es dunkel ist?
Auch im Tau hinterlässt du Spuren, auch im Tau …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben,
unerkannte Wege bilden, unentdeckte Pfade,
auch Spuren im Tau können unberührt bleiben.
So viele Blüten sind noch im Herzen verborgen,
aber im Dunkeln können sie sich nicht entfalten,
und so verlieren sie sich mit jedem Schritt, mit jedem Schritt.
Auch wenn du dich bemühst …
Auch im Tau hinterlässt du Spuren …
Auch Spuren im Tau können unberührt bleiben …
Mehr zu Lettland: Lettland: Musikalische Frauen-Power
Experimentierlabor Estland
Alle drei baltischen Staaten haben nach der 1990 erlangten Unabhängigkeit von der Sowjetunion keinen nationalistisch-isolationistischen Weg eingeschlagen. Stattdessen haben sie sich darum bemüht, Teil einer größeren Staatenfamilie zu werden. Natürlich geschah dies auch aus Selbstschutzgründen – man wollte sich nach den langen Jahren der Okkupation endgültig dem russischen Machtbereich entziehen. Daneben ging es den neu gegründeten Staaten jedoch auch darum, ihren Teil zur Weiterentwicklung der europäischen und globalen Strukturen beizutragen.
Gerade Estland hat sich dabei zu einer Art Labor für die Erprobung neuer Formen der Organisation des Staatswesens entwickelt. Dies betrifft insbesondere den Bereich des e-governance, in dem Estland eine weltweit führende Rolle einnimmt. Administrative Formalitäten kann man dort zu einem großen Teil online erledigen (für die Steuererklärung gilt das schon seit dem Jahr 2000), auch gewählt werden kann via Internet. Hinzu kommt ein radikal vereinfachtes Steuersystem, das auf das in Deutschland übliche Labyrinth an Sonder- und Ausnahmeregeln verzichtet.
Die spezielle Dynamik der estnischen Gesellschaft ergibt sich somit aus einem nationalen Selbstverständnis, das nicht auf Abschottung gegenüber anderen, sondern im Gegenteil auf einer besonders weltoffenen Haltung beruht. Diese bewirkt, dass man modernen Entwicklungen und Einflüssen anderer Kulturen vorbehaltlos begegnet und sie ggf. mit den Besonderheiten der eigenen Kultur verknüpft.
Vor diesem Hintergrund gefährdet der Eintritt der rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen und EU-kritischen EKRE-Partei in die Regierung nach den Parlamentswahlen vom Frühjahr 2019 nicht nur den sozialen Zusammenhalt in Estland. Vielmehr droht dieses Ereignis die Entwicklungsdynamik der estnischen Gesellschaft insgesamt zu untergraben. Denn für diese Dynamik war und ist die osmotische Beziehung zu anderen Kulturen konstitutiv.
Der „Eigen-Sinn“ der estnischen Musikszene: Die Band Trad.Attack!
Die für die estnische Gesellschaft bislang allgemein charakteristische harmonische Zusammenführung von Altem und Neuem, Eigenem und Fremdem lässt sich auch in der estnischen Musikszene beobachten. Ein Beispiel dafür ist das Trio Trad.Attack!, dessen erster, 2014 veröffentlichter Extended Player in Estland auf Anhieb ein großer Erfolg wurde. Die drei Bandmitglieder sind auf je eigene Weise von der traditionellen estnischen Musikkultur geprägt: Tõnu Tubli, Posaunist und Schlagzeuger, ist Sohn eines Dirigenten estnischer Blasorchester, Sandra Sillamaa spielt den estnischen Dudelsack, und Jalmar Vabarna gehört zur Minderheit der im Süden Estlands lebenden Setukesen, die über eine besondere Gesangstradition verfügen.
Die Band versteckt ihre Prägung durch die estnische Folk-Tradition keineswegs, verbindet diese aber mit experimentellen Ansätzen, die sich auch auf ihre Videoclips übertragen. So handelt es sich etwa bei dem Liedtext zu Kuukene („Mond“) um eine Art Zauberspruch oder Gebet an den Mond bzw. den Morgenstern. Der wie ein Mantra gesungene Text, den die Band einer alten Aufnahme einer traditionellen estnischen Dorfsängerin entnommen hat, entfaltet seinen Sinn allerdings vollständig erst durch die surrealen Bilderwelten des Videos. Die Begegnung zwischen Mann und Frau, ihre schwebende Annäherung aneinander, wird dabei zu einer Art Chiffre für das Mit- und Gegeneinander der Elemente, das das kosmische Geschehen in Gang hält.
Trad.Attack!: Kuukene
aus: Trad.Attack! (EP, 2014); Text: Emilie Kõiv (1966)
Acoustic Session an der Chinesischen Mauer (2016)
Liedtext mit englischer Übersetzung
Übertragung ins Deutsche:
Lieber Mond,
süßer Stern der Morgenröte,
nimm mich in dir auf!
Möge mein Körper stark werden
und den Fährnissen des Lebens trotzen!
Mehr zu Estland: Estland: Von der Lust am Experimentieren
Euphorischer Aufbruch, schmerzhafter Umbruch
Die Unabhängigkeit eröffnete den baltischen Ländern die Möglichkeit, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen. Die Loslösung aus dem sowjetischen Imperium brachte jedoch auch Probleme mit sich, die im Überschwang der Unabhängigkeitsfeiern zunächst in den Hintergrund traten. Umso schmerzhafter war dann bei manchen der Kater, der auf den Unabhängigkeitsrausch folgte.
Die baltischen Staaten sahen sich 1990 einer doppelten Umbruchsproblematik gegenüber. Neben der staatlich-administrativen Neuausrichtung mussten auch die wirtschaftlichen und geistigen Umbrüche bewältigt werden, wie sie sich auch in anderen ehemaligen Ostblockländern und in Russland selbst aus dem Kollaps des realsozialistischen Systems ergaben.
Für viele Menschen ging dieser Kollaps mit Verlusterfahrungen einher. Zwar war der „real existierende Sozialismus“ mit geistiger Unterdrückung verbunden und hatte mit seiner dirigistischen Ökonomie zum Staatsbankrott geführt. Konkret bedeutete der wirtschaftliche Zusammenbruch für manche jedoch zunächst einmal die Einbuße ihres Platzes in der Gesellschaft.
In besonderem Maße gilt dies für die ländlichen Regionen. Zwar mögen die Kolchosen, in denen in den realsozialistischen Ländern die Landwirtschaft größtenteils organisiert war, ineffektiv gewirtschaftet haben. Durch die kleinteilige Aufteilung der Arbeiten (Traktorist, Melkerin …) hatte dort aber jeder seine Aufgabe. Damit verbunden war die Gewissheit, dazuzugehören, ein Teil der Gemeinschaft zu sein – was wiederum mit der Sicherheit einer materiellen und medizinischen Grundversorgung einherging.
Die outputorientierte Neustrukturierung der Landwirtschaft förderte folglich in den Ländern des ehemaligen Ostblocks die Landflucht. Vor allem junge Menschen, die in den Dörfern keine Zukunft mehr für sich sahen, zogen weg. Zurück blieben die Alten, denen die zerfallenden Höfe und Häuser nun erst recht die eigene Perspektivlosigkeit vor Augen führten.
Unabhängig zu sein, war so für viele gleichbedeutend mit dem Verlust gesellschaftlicher Teilhabe. Die Plötzlichkeit des Umbruchs verstärkte dabei das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Die Folge war in allen baltischen Staaten eine erhöhte Selbstmordrate. Am deutlichsten war diese Negativentwicklung in Litauen: Das Land weist – auch wenn die Zahlen seit der Jahrtausendwende rückläufig sind – noch immer die fünfthöchste Selbstmordrate der Welt auf.
Litauische Melancholie: Ein Lied von Alina Orlova
Als eine Art musikalisches Dokument der litauischen Depression kann Alina Orlovas Lied Aš neatsimenu, kaip užmigau (‚Ich erinnere mich nicht …‘) angeführt werden. Zwar zählt die 1988 geborene, in der Kleinstadt Visaginas im Nordosten Litauens aufgewachsene Sängerin selbst nicht zu der als besonders selbstmordgefährdet geltenden Gruppe der älteren, vor allem männlichen Bevölkerung auf dem Land. Als Tochter eines litauischen Polen und einer aus dem russischen Woronesch stammenden Mutter ist sie gewissermaßen als Tochter dreier Kulturen aufgewachsen. Dadurch stand sie weder in der Gefahr, den Phantomschmerz zu empfinden, unter dem nicht wenige Russen nach dem Verlust des sowjetischen Imperiums gelitten haben, noch konnte in ihr das Trauma der jahrzehntelangen Degradierung der litauischen Kultur nachwirken.
Auch persönlich bietet Orlovas bisheriger Lebenslauf kaum einen Anlass für Selbstmordgedanken. Schon ihre erste Single, die sie mit gerade einmal 18 Jahren herausgebracht hat, war ein großer Erfolg und wurde von dem populären litauischen Jugendmagazin Pravda zum Debüt des Jahres gewählt. Spätestens seit ihrem zwei Jahre darauf erschienenen ersten Album hat sie sich nicht nur in der Musikszene ihres Landes etabliert, sondern tritt auch regelmäßig außerhalb Litauens auf.
Allerdings gibt es auch für den glücklichsten Menschen Augenblicke, in denen ihm das Nichts, dem sein Dasein entspringt und in das es irgendwann wieder einmünden wird, zum Bewusstsein kommt. Genau hiervon scheint Orlovas Lied Aš neatsimenu, kaip užmigau („Ich erinnere mich nicht …“) zu erzählen. Das Ich, das sich hier ausspricht, befindet sich an einem im Wortsinn „gottverlassenen“ Ort (an einem Ort, an den „Gottes Blick nicht vordringt“); an einem Ort, wo die Stille so mächtig ist, dass sie jedes Wort, das gesprochen wird, augenblicklich verschluckt. Wie sich das Ich innerlich in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen befindet, sind auch äußerlich alle Gegensätze aufgehoben: Es gibt weder Helligkeit noch Dunkelheit, und jede Bewegung ist nur eine scheinbare, die den faktischen Stillstand nicht tangiert.
Der Ort erweist sich damit als eine vollkommene Entsprechung des Nichts („hier existiert wirklich gar nichts“). Der Schrei des neu geborenen Säuglings fällt hier mit dem Todesschrei zusammen, den man ausstößt, ehe man verschwindet „wie eine bedrückende Erinnerung“.
Das Lied kann allerdings nicht als repräsentativ für Orlovas Musik angesehen werden. Anders als der Song vermuten lässt, strahlen Orlovas Konzerte dieselbe Lebensfreude aus, die auch von den baltischen Liederfesten ausgeht. So könnte etwa das Lied Baltos baltos geradezu als eine Art Gegengift zu der selbstmörderischen Melancholie angesehen werden, die in Aš neatsimenu, kaip užmigau thematisiert wird. Der Leidenschaft der Verzweiflung wird hier die verzweifelte Leidenschaft des Trostes gegenüberstellt. Diese manifestiert sich nicht zuletzt in der befreienden Kraft des Gesangs, wie ihn Orlova auf ihren Konzerten erlebbar macht.
Alina Orlova: [Aš neatsimenu, kaip užmigau]
Konzertmitschnitt:
Liedtext auf der Website der Sängerin, mit russischer Fassung
Übersetzung:
[Ich erinnere mich nicht …]
Ich erinnere mich nicht, wie ich eingeschlafen bin,
ich weiß nicht, ob ich schon aufgewacht bin.
Hier wird es weder dunkel noch hell,
und das Wasser ist hier immer bräunlich.
Gottes Blick dringt hierher nicht vor,
das Gebell der Hunde ist nicht zu hören.
Man braucht hier keine Fälle für die Worte,
weil sie in der Stille ohnehin absterben.
Hier kannst du so laut schreien,
wie du es nur bei deiner Geburt getan hast,
schreien, ehe du zu verschwinden beginnst
wie eine bedrückende Erinnerung.
Ob du dich wohl erinnerst, wie du eingeschlafen bist,
ob du weißt, dass du nicht mehr schläfst?
Hier existiert wirklich gar nichts,
und du verharrst auf der Stelle, wenn du davonläufst.
Alina Orlova: [Baltos baltos]
Konzertmitschnitt:
Liedtext auf der Website der Sängerin, mit russischer Fassung
Übersetzung:
[Deine weißen, weißen Hände …
Deine weißen, weißen Hände
suchen und suchen – und finden nichts,
so, wie im Sturm die Vögel
gegen die dunkelsten Fenster der Stadt fliegen.
Deine weißen, weißen Hände
suchen und suchen – und finden doch nichts.
Gib sie mir.
Mehr zu Litauen: Melancholie in Litauen
Ein ganz wunderbarer Beitrag. Vielen Dank!- Es ist schon interessant, wie wenige Menschen sich diese Musik anhören oder sich auch mal mit den Hintergründen befassen. Bei dem üblichen Einheitsbrei aus der Retorte gehen die Klickzahlen in die Tausende…Ich freue mich jedenfalls über diese feine Anregungen, mal über den Tellerrand zu blicken!
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