Was reden wir da eigentlich?
Heute ist der Tag der gewaltfreien Kommunikation. Es erscheint in der Tat sinnvoll, die Gefahr der Gewaltausübung durch Sprache einmal explizit zu betonen. Denn dies geschieht oft unbewusst, ohne dass wir es wollen oder überhaupt merken. Deshalb hier eine kleine Fingerübung in sprachlicher Sensibilität.
Inhalt
Der aggressive Akkusativ
Diskriminierung durch Etikettierung
Sprachliches Vergessen und Bedeutungswandel
Sprachliche Archäologie
Der aggressive Akkusativ
Wer sich mit Lernenden in einem Deutschkurs unterhält, wird schnell feststellen, dass die deutsche Sprache tückischer ist, als es für einen Menschen mit deutscher Muttersprache den Anschein hat.
Ein Satz wie „Der Mann geht in den Keller“ scheint beispielsweise auf den ersten Blick nichts Spektakuläres an sich zu haben. Für Lernende nicht-deutscher Muttersprache stellt der darin enthaltene Akkusativ jedoch eine nicht zu unterschätzende Klippe dar. Denn in zahlreichen anderen Sprachen wird der Akkusativ nicht sprachlich markiert, der zum Substantiv gehörende Artikel (den es ebenfalls nicht in allen Sprachen gibt) also nicht gebeugt.
Dass wir uns solcher Feinheiten im Alltag nicht bewusst sind, ist allerdings keinesfalls von Nachteil. Ganz im Gegenteil: Nur dadurch, dass die sprachlichen Strukturen, deren wir uns bedienen, uns ebenso in Fleisch und Blut übergegangen sind wie das Fahrradfahren (wenn wir es in unserer Kindheit gelernt haben), können wir uns ihrer problemlos bedienen. Auch das wissen alle, die schon einmal eine Fremdsprache gelernt haben. Erst wenn wir beim Sprechen nicht mehr über die fremden Strukturen nachdenken, die Gesprächsmittel also gegenüber den Gesprächsinhalten in den Hintergrund treten, ist eine freie Unterhaltung in der fremden Sprache möglich.
Dies bedeutet nun allerdings nicht, dass Sensibilität im Umgang mit den sprachlichen Strukturen, in denen wir uns ausdrücken, überflüssig wäre. Schon der so harmlos wirkende Akkusativ bietet Anlass für sprachphilosophische bzw. sprachsoziologische Überlegungen. Denn er geht im Deutschen mit einer Reihe von Verben einher, die den Objektcharakter anderer Menschen betonen (betreuen, behüten, befördern …) und eignet sich so in besonderem Maße dazu, den deutschen Untertanengeist sprachlich zu verankern. Dies bedeutet nicht, dass dieser durch die Sprache hervorgebracht worden wäre. Nur erleichtert diese es eben, ihn zum Ausdruck zu bringen, und fördert damit auch ein Denken in Strukturen, in denen Anordnen und Befolgen, Befehl und Gehorsam wichtiger sind als das Handeln auf der Basis von Gleichberechtigung und Übereinkunft.
Diskriminierung durch Etikettierung
Hilfreich ist ein sensibler Umgang mit der Sprache auch dort, wo über sprachliche Strukturen Diskriminierungen zementiert werden. Dies ist zuletzt etwa bei der Diskussion um stigmatisierende Bezeichnungen einzelner Bevölkerungsgruppen (wie etwa „Neger“ oder „Zigeuner“), aber auch im Rahmen der Bemühungen um eine geschlechtersensible Sprache deutlich geworden.
Zuweilen sind es allerdings nicht die Begriffe selbst, die diskriminierend wirken, sondern die Konnotationen, die ihnen im Alltag verliehen werden. So war etwa „Asylant“ ursprünglich schlicht die Bezeichnung für einen Menschen, der in Deutschland Asyl sucht. Erst die Verbindung mit Wortungetümen wie „Asylantenschwemme“ oder „Asylnotstand“ hat den Begriff mit negativen Assoziationen verknüpft und ihn schließlich unbrauchbar gemacht. Dies gilt ansatzweise auch schon für die Ersatzbegriffe „Migrant“ oder „Flüchtling“.
In ähnlicher Weise lässt sich dieses Phänomen der pejorativen Eintrübung eines ursprünglich neutralen Begriffs auch in Bezug auf die „Hilfsschule“ beobachten. Anfangs nur eine Bezeichnung für Lernende, die besonderer Hilfestellungen bedürfen, erhielt der Begriff durch die Alltagsassoziation mit „Dummenschule“ mehr und mehr einen stigmatisierenden Charakter. Der Ersatzbegriff „Sonderschule“ mochte in der „besonderen“ Hilfsbedürftigkeit der hier Lernenden wurzeln. Er enthielt aber implizit auch den Hinweis auf den „aussondernden“ Charakter dieser Schulform und wirkte so mit der Zeit ebenfalls diskriminierend. Nicht anders erging es der nächsten Wortschöpfung, der „Förderschule“, der die angebliche besondere „Förderbedürftigkeit“ der betreffenden Kinder hervorhob.
Hier zeigt sich, dass alle sprachliche Sensibilität und Umetikettierung nicht weiterhilft, wenn die zugrunde liegenden sozialen Strukturen diskriminierend bleiben. Im Bereich der Bildung gilt dies selbst noch für das Projekt der Inklusion, durch das jede Form von Aussonderung eigentlich obsolet sein sollte. Solange im Alltagsverständnis von Lehrkräften, Eltern und Lernenden Inklusion nicht mit der gleichberechtigten Förderung aller Lernenden entsprechend ihren individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen assoziiert und stattdessen von gesondert zu fördernden „Inklusionskindern“ gesprochen wird, bleibt die diskriminierende Sicht auf einzelne Lernende bestehen.
Das Beispiel ist über den engen schulischen Rahmen hinaus relevant, weil es zeigt, wie die begriffliche Festlegung von Menschen auf einzelne Aspekte ihrer Persönlichkeit oder Biographie stigmatisierend wirken kann. Entsprechende Etikettierungen sind auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beobachten und betreffen etwa auch die Migration. Selbst dann, wenn, politisch korrekt, von „Menschen mit Migrationshintergrund“ gesprochen wird, werden Menschen damit doch einseitig mit einem einzelnen Aspekt ihrer Biographie assoziiert. Wie unsinnig das ist, zeigt sich etwa daran, dass bei aus dem Ruhrgebiet stammenden Menschen ja auch niemand von „Menschen mit Bergbauhintergrund“ sprechen würde.
Sprachliches Vergessen und Bedeutungswandel
In der Praxis geht es also stets darum, die richtige Balance zwischen dem unreflektierten Sprachgebrauch – wie er für die Alltagskommunikation notwendig ist – und der Sensibilität für eine mögliche diskriminierende oder unser Denken einengende Begrifflichkeit zu finden. Dies gilt auch für den Bereich der Redewendungen. Hier ist das Vergessen der Etymologie oft gerade die Voraussetzung dafür, dass die Bedeutung sich aus dem ursprünglichen Verwendungszusammenhang lösen und auf andere Kontexte übertragen werden kann. Dieser metaphorische Gebrauch von Wendungen, die ursprünglich einen ganz konkreten Sinn hatten, ist ein wichtiger Motor des Bedeutungswandels. Er ist letztlich auch ein Beleg für die natürliche Kreativität im Umgang mit der Sprache, für das spielerische Element in ihrer Verwendung, das der Sprache ihre Lebendigkeit erhält und ihre Anpassung an Veränderungen erleichtert.
Auf der anderen Seite geht mit dem Vergessen des ursprünglichen Bedeutungskontexts aber auch das Wissen um kulturelle Praktiken der Vergangenheit verloren. Diese Geschichtsvergessenheit ist insofern ein Verlust für uns, als sie uns von dem Erfahrungsschatz früherer Generationen abschneidet – und zwar offenbar gerade in Bereichen, die einmal als besonders bedeutsam empfunden wurden. Denn nur deshalb, weil die betreffenden sprachlichen Wendungen einmal auf verbreitete soziale Praktiken hinwiesen, waren sie ja so virulent, dass sie schließlich auch auf andere soziale Bereiche übertragen wurden.
Sprachliche Archäologie
So kann es auch hier bereichernd sein, das Vergessen – so hilfreich es für die Elastizität der Sprache sein mag – im Rückblick ein wenig durch „sprachliche Archäologie“ aufzubrechen. Nicht selten lassen sich dabei allgemein menschliche Verhaltens- und Denkweisen „ausgraben“, die heute nicht weniger verbreitet sind als damals. So können Vergangenheit und Gegenwart sich ineinander spiegeln und sich gegenseitig erhellen.
In anderen Fällen können durch das Schürfen unter der Oberfläche der Sprache vergangene kulturelle Praktiken zutage gefördert werden, die wie die Ruinen einer untergegangenen Stadt unter der oberen Sprachschicht verborgen sind. Dies kann uns das kulturelle Kontinuum vor Augen führen, das wir in unserer Sprache zum Ausdruck bringen, ohne es zu merken.
Abschließend ein paar Beispiele, die deutlich machen sollen, was ich meine (mehr unter redensarten-index.de) :
- „jemandem einen Korb geben“: Die Redewendung beruht auf mittelalterlichen Liebeständeleien, bei denen der Freier von seiner Angebeteten mit einem Korb ins Liebesnest hochgezogen wurde. War dieser der Freier nicht genehm, so ließ sie einen Korb mit lockerem Boden herab, so dass der Liebeshungrige auf halbem Weg zum siebten Himmel geradewegs in die Hölle fuhr.
- „überall seinen Senf dazugeben“: Hierbei handelt es sich um eine Reminiszenz an die in der Frühen Neuzeit gängige Praxis vieler Wirte, zu jedem Gericht Senf dazuzugeben. Was als Wohltat gedacht war – Senf war damals ein allgemein beliebtes Gewürz –, mundete offenbar nicht allen (was die negative Konnotation der Redewendung erklärt).
- „Das macht den Kohl auch nicht fett!“: Noch ein Beispiel aus der Welt des Essens, das auf den häufigsten Gast am Tisch armer Leute verweist: den Schmalhans, der vielleicht ein paar Waldkräuter mitbrachte, nicht aber nahrhafte Dinge, die die ewige Kohlsuppe „fetter“ gemacht hätten.
- „jemandem aufs Dach steigen“: Die Redewendung verweist auf einen Fastnachtsspaß des Mittelalters, den nicht alle komisch gefunden haben dürften. Dabei deckten junge maskierte Männer Zeitgenossen, die sich eines Verstoßes gegen den mittelalterlichen Regelkodex schuldig gemacht hatten, das Dach ab.
- „jemandem den Laufpass geben“: Der Laufpass war früher ein Dokument, das offiziell die Entlassung aus dem Militärdienst bescheinigte.
- „jemandem die Stange halten“: Die Worte gehen auf mittelalterliche Duelle zurück. Dabei durfte der Sekundant den Duellanten auf dessen Wunsch hin durch eine vor seinen Leib gehaltene Stange schützen, wenn sein Leben unmittelbar bedroht war.
- „für jemanden die Hand ins Feuer legen“: Eben dies – die Hand ins Feuer legen – musste im Mittelalter tun, wer bei einem Gottesurteil die Unschuld eines anderen bezeugen wollte. Wohl dem, dessen Gott solch treue Seelen mit einem dicken Fell gesegnet hatte!
- „stinkreich sein“: Wer es sich leisten konnte, ließ sich früher gerne in der Nähe des Altars zur letzten Ruhe betten. Da die Kirchenböden aber nicht fest genug verfugt waren, stieg der Verwesungsgeruch in den Kirchenraum auf, so dass von dem ganzen schönen Reichtum nichts als ein bestialischer Gestank zurückblieb
- „jemandem das Handwerk legen“: Eine Reminiszenz an die strengen Zunftordnungen des Mittelalters, denen zufolge sein Handwerk niederlegen musste, wer sich eines schweren Regelverstoßes schuldig machte.
- „Das geht auf keine Kuhhaut!“: Die wahrscheinlichste Herkunftsgeschichte verknüpft diese Redewendung mit einer im Mittelalter verbreiteten Legende von einem Teufel, den ein Priester während einer Messe beim Kritzeln auf einer Kuhhaut entdeckte. Als er ihn fragte, was er tue, seufzte der Teufel: Er bemühe sich, alle Freveleien mitzuschreiben, die die Gottesdienstbesucher während der Messe so von sich gäben. Leider reiche seine Kuhhaut dafür aber nicht aus. Wir haben es hier also mit einem frühen Beispiel für die propagandistische Phantasie der Herrschenden zu tun, die schon damals durch Fake-Narrative Gehorsam erzwingen wollten.
- „alle(s) über einen Kamm scheren“: Die Redewendung erinnert wahrscheinlich an die Schafschur, bei der für gröbere und feinere Wolle unterschiedliche Kämme verwendet werden mussten. Offenbar scheuten allerdings manche Schäfer diesen Aufwand. Eine andere etymologische Variante verbindet die Redewendung mit der Welt der mittelalterlichen Bader, die zugleich Barbiere waren und bei ihrer Arbeit nicht für jeden Gast einen neuen Kamm benutzten.
- „etwas ausbaden müssen“: Auch hinter diesen Worten verbirgt sich die nicht sehr einladende Umgangsweise der Bader mit den Besuchern der Badehäuser. Wie der Kamm wurde auch das Badewasser nicht für jeden erneuert, und außerdem wurde dem Letzten auch noch die Pflicht auferlegt, die restliche Drecksbrühe auszugießen. Ob es dafür wohl wenigstens einen Preisnachlass gab?
„In der Praxis geht es also stets darum, die richtige Balance zwischen dem unreflektierten Sprachgebrauch – wie er für die Alltagskommunikation notwendig ist – und der Sensibilität für eine mögliche diskriminierende oder unser Denken einengende Begrifflichkeit zu finden.“ Dieser Satz versucht die Quadratur des Kreises. Einerseits wird ein unreflektierter Sprachgebrauch für notwendig erklärt, andererseits wird bereits eine mögliche (!) diskriminierende Begrifflichkeit verworfen. Und das in Zeiten verschärftester hypersensibler Sprachpolizei! In Zeiten, in denen jeder, der überhaupt spricht, sogleich unter Verdacht gestellt wird, etwas Rassistisches, Sexistisches usw. zu sagen. Es gab Zeiten, in denen man die Wörter wie „Neger“ oder „Zigeuner“ ohne Diskriminierungsabsicht rein deskriptiv verwenden konnte. Diese Zeiten sind vorbei. Man darf im Französischen vielleicht noch „black“ sagen, aber nicht mehr „nègre“. Viele Phänomene dürfen überhaupt nicht mehr benannt oder bemerkt werden, für andere muss man Begriffe verwenden, die manche Leute gar nicht verstehen. Über vieles kann man nicht sprechen, wenn man die übelsten Sprachverhunzung*innen nicht mittragen will. Ein unreflektierter Sprachgebrauch ist nicht mehr möglich. Es gab so nach und nach immer mehr Petitionen gegen rassistische, sexistische oder auf andere Weise diskriminierende Sprache. Anfangs habe ich solche Petitionen unterzeichnet, weil ich Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung unsinnig und abstoßend finde. Nach und nach entsteht aber eine Mentalität, die sämtliche Äußerungen nur noch auf „eine mögliche diskriminierende Begrifflichkeit“ hin abklopft. Irgendwann ist es mir selbst passiert, dass eine arglose Äußerung meinerseits von einer darin routinierten Frau in einer Gesellschaft als sexistisch gedeutet und gebrandmarkt wurde. Seitdem vermeide ich es, den Ausdruck „Frauen“ zu benutzen, und meide, so gut es nur geht, Gesellschaften, in denen ich es mit welchen zu tun haben könnte, deren Charakter ich nicht so gut kenne.
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