Überlegungen zu einer kritischen Neubewertung des Heimatbegriffs
Der Heimatbegriff ist oft für sehr „un-heimliche“ Zwecke missbraucht worden. Wenn wir ihn deshalb ganz aus unserem Wortschatz verbannen, verschwindet jedoch auch das, wofür er einmal gestanden hat. Dies würde dann ebenfalls denen dienen, die den Heimatbegriff zuvor für ihre Interessen instrumentalisiert haben.
Der Ausweg: eine kritische Beleuchtung und umsichtige Verwendung des Heimatbegriffs. Dazu ein paar Anregungen.
Eine literarisch-persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik unter dem Aspekt „Deutsche Heimat“ findet sich auf LiteraturPlanet
Text als pfd lesen: Heimat im Windstromzeitalter.pdf
Inhalt:
Heimat und Heimatlosigkeit
Nostalgische Implikationen von „Heimat“
Zur Geschichte des Heimatbegriffs
Manipulatives Potenzial des Heimatbegriffs
Heimat und Natur
Aktive Aneignung von Heimat
Elemente eines kritischen Heimatbegriffs
Heimat und Umweltschutz
Nachweise und Links
Heimat und Heimatlosigkeit
„Heimat“ ist ein ambivalenter Begriff. Dies lässt sich leicht anhand eines Selbstversuchs überprüfen. Dazu muss man nur die Assoziationen aufschreiben, die einem spontan zu „Heimat“ und zu „Heimatlosigkeit“ einfallen.
Meine eigene Assoziationsreihe sieht, ungefiltert, so aus:
„Heimat“: Heimatroman, Heimatfilm, Heimatmuseum, Heimatschlager, Volksmusikparade, Heimatschutz, Heimatministerium, Bürgerwehren, Grenzschutz …
„Heimatlosigkeit“: Flucht, Vertreibung, Haltlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Schutzlosigkeit, Fremdheitsgefühle, Ausgrenzung, Heimweh …
„Heimat“ ist für mich also im einen Fall negativ, im anderen Fall, zumindest implizit, positiv besetzt. Denn das Negative, das ich mit „Heimatlosigkeit“ assoziiere, entsteht ja erst durch den Verlust des Positiven, das ich in diesem Fall mit „Heimat“ verbinde.
„Heimat“ kann also zum einen bedeuten, dass man sich selbst in engen (räumlichen und geistigen) Zugehörigkeitszäunen einsperrt und jeden attackiert, der diese Grenzziehung in Frage stellt. Zum anderen kann damit aber auch das Urvertrauen assoziiert werden, wie es sich aus einer harmonischen Ich-Umwelt-Beziehung ergibt.
Gemeint ist damit eine Beziehung, bei der das Ich so vertraut ist mit seiner geographischen, sozialen und geistig-kulturellen Umwelt, dass es sich mit traumwandlerischer Sicherheit darin bewegt; eine Beziehung, in der die Umwelt vom Ich als Spiegel seiner selbst wahrgenommen wird, weil es unzählige Stationen seiner inneren und äußeren Entwicklung mit ihr verbindet; eine Beziehung, bei der das Ich einen festen Platz in seinem sozialen Umfeld hat, von den darin agierenden Menschen entsprechend respektiert wird und sich in Notfällen auch auf eine Absicherung durch Mechanismen gegenseitiger Unterstützung verlassen kann.
Die Gegenüberstellung der Assoziationen zu „Heimat“ und „Heimatlosigkeit“ zeigt aber auch: Das Heimatkonzept beruht auf Idealvorstellungen. In der ersten Assoziationsreihe beruhen diese auf der Idealisierung einer – größeren oder kleineren, national oder regional definierten – sozialen Gruppe, deren „Reinheit“ durch die Abwehr angeblich gruppenfremder Individuen sichergestellt werden soll. In der zweiten Assoziationsreihe ergibt sich die Idealisierung aus der Ausblendung von Aspekten, die die Ich-Umwelt-Harmonie stören. So kann die Beziehung zur geographischen Umgebung zwar eng sein, dem Ich gleichzeitig aber ein fester Platz im sozialen Gefüge verwehrt werden. Die Beziehungen zur Familie können ungetrübt sein, gleichzeitig aber Respekt und Wertschätzung des weiteren sozialen Umfelds für zentrale Einstellungen und Überzeugungen des Ichs fehlen.
Nostalgische Implikationen von „Heimat“
Beide Herangehensweisen an „Heimat“ – die direkte und die indirekte, durch das Konzept der „Heimatlosigkeit“ vermittelte – weisen einen nostalgischen Zug auf. Im Fall von „Heimatlosigkeit“ ergibt sich dieser aus der rückblickenden Verklärung dessen, was man verloren hat. Dieselbe „Heimat“, aus der man aufgrund von persönlicher Verfolgung, wirtschaftlicher Not oder gar kriegerischen Auseinandersetzungen geflohen ist, kann vor dem Hintergrund der Fremdheitsgefühle und der Ausgrenzung am Zielort der Flucht als verlorenes Paradies erscheinen. Das, was die Flucht veranlasst hat, wird dabei selbst als etwas Fremdes wahrgenommen, das die Utopie einer vollkommenen Ich-Umwelt-Harmonie zerstört hat. Dementsprechend heller strahlen in der Rückschau die glücklichen Momente, die man am Ausgangsort der Flucht erlebt hat.
Nostalgisch ist allerdings auch das Heimatkonzept, das Heimatromanen, Heimatmuseen oder dem politischen „Heimatschutz“ zugrunde liegt. Es beruht jeweils auf einer in der Regel idealisierenden Sicht auf die Vergangenheit. Im Falle von Heimatroman und Heimatfilm handelt es sich dabei um das bäuerliche Leben von einst. Dieses kann zwar durchaus als konfliktreich gezeigt werden, spielt sich aber in jedem Fall in einer überschaubaren, klar strukturierten und in diesem Sinne „heilen“ Welt ab.
Heimatmuseen richten den Blick auf die Vergangenheit einzelner Orte. Auch dies impliziert eine gewisse Nostalgie, die sich aus dem Verlust der einstigen, von keiner Globalisierung bedrohten Beschaulichkeit ergibt. Zwar kann die Konzentration auf eng umgrenzte Regionen durchaus dazu dienen, die konkreten Auswirkungen überregionaler Entwicklungen vor Augen zu führen. Dies ist in der von der französischen „Annales“-Bewegung angestoßenen Alltagsgeschichte eindrucksvoll gezeigt worden.
Andererseits kann die Fokussierung auf den Heimatort aber auch zu einer fragmentierten Geschichtsbetrachtung führen, bei der das Geschehen vor Ort abgetrennt von den übergeordneten Entwicklungsprozessen dargestellt wird. Dies birgt die Gefahr in sich, dass alles Schlechte als von außen kommend wahrgenommen wird, der Heimatort also als Inbegriff einer idealen Ich-Umwelt-Harmonie erscheint, die durch das Eindringen der bösen, fremden Welt in das heimatliche Nest zerstört wird.
Zur Geschichte des Heimatbegriffs
Angelegt ist der nostalgische Aspekt des Heimatkonzepts bereits in dessen Ursprungsbedeutung. Diese war wesentlich konkreter, als es heute der Fall ist. So diente der Begriff „Heimat“ früher auch der Bezeichnung der Hofstelle, als dem Wohn- und Arbeitsort einer bäuerlichen Familie. Die nostalgische Konnotation des Begriffs ergab sich dabei dadurch, dass die jüngeren Geschwister ihre „Heimat“ nach der Übernahme der Hofstelle durch den ältesten Sohn in der Regel verlassen mussten (vgl. Bausinger 1986: 77).
So ist auch der Aspekt des „Heimatverlusts“ von Anfang an im Heimatkonzept enthalten. Gleichzeitig war in der Notwendigkeit des Verlassens der konkreten „Heimat“ – im Sinne der elterlichen Hofstelle – aber auch die Möglichkeit einer Erweiterung des Heimatbegriffs angelegt. Schließlich mussten die übrigen Kinder ja nicht notwendigerweise weit von dem Ort ihrer Kindheit wegziehen. In der Regel verheirateten oder verdingten sie sich vielmehr an Bauernhöfen der näheren Umgebung. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Ausdehnung des Heimatbegriffs auf ein größeres regionales Umfeld.
Gleichzeitig führte dies auch zu einer stärkeren Entkonkretisierung des Heimatkonzepts. „Heimat“ diente so eben nicht mehr nur der Bezeichnung des Ortes, an dem man aufgewachsen war, sondern bezog sich auf die Region, in der dieser Ort sich befand. Mehr und mehr gingen so auch charakteristische Ausprägungen der Natur in dem betreffenden Gebiet in den jeweiligen Heimatbegriff ein.
Dies war auch eine der Voraussetzungen dafür, dass das Bürgertum des Vormärz sich in der Natur „beheimaten“ konnte. Die Natur diente dabei als eine Art Ersatzheimat, nachdem die Hoffnungen auf eine stärkere Rolle im Staat – also eine politische „Beheimatung“ – sich nicht erfüllt hatten. In der Natur konnte man jene Freiheit ausleben, die einem in der Gesellschaft verwehrt blieb.
Gleichzeitig erlebten die bürgerlichen Schichten jener Zeit jedoch auch die diversen kryptopolitischen Vereine, die damals als Gesangs- und Turnvereine oder auch in der Form von Lesegesellschaften gegründet wurden (vgl. Schmid 1985), als Heimat. Sie waren gewissermaßen das soziale Korrelat jener Freiheit und Ungebundenheit, die man in der Natur ausleben konnte, die Vorwegnahme einer neuen staatlichen Ordnung, in der das Bürgertum zur führenden Kraft aufsteigen sollte.
In ähnlicher Weise fungierten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Arbeitervereine als soziale Heimat. In ihnen fanden diejenigen, die im Zuge der Industrialisierung in die Städte zogen, jenes Zuhause, das sie als Untermieter in den dunklen Hinterhofzimmern der Mietskasernen kaum finden konnten. Je mehr die Arbeitervereine sich von reinen Unterstützungsvereinen zu politischen Gruppierungen wandelten, desto stärker wurde der Heimatbegriff dabei auch in einem ideellen Sinn verstanden.
„Politische Heimat“ boten die Arbeiterparteien ihren Mitgliedern allerdings nicht nur im Sinne einer Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Vielmehr ging es dabei stets auch um die Utopie einer neuen Gemeinschaft, in der die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse des Frühkapitalismus und der Untertanengeist des Wilhelminismus zu Gunsten eines solidarischeren und kooperativeren Umgangs miteinander überwunden werden sollten.
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich seit der Jahrhundertwende das Ideal des „neuen Menschen“. Nach der Oktoberrevolution suchten viele Reisende in Russland nach Manifestationen dieses Ideals. Ein Beispiel unter vielen ist Franz Jung, einer der Hauptakteure der Berliner dadaistischen Bewegung und Mitbegründer der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die sich 1920 von der KPD abspaltete. Russland, wo er 1920 im Rahmen einer längeren Reise an Feiern zum Tag der Arbeit teilgenommen hatte, pries er noch im Rückblick als „Menschenheimat“ (Jung 1961: 153). Schon 1899 hatte allerdings Rainer Maria Rilke, ein revolutionärer Umsturzphantasien unverdächtiger Dichter, Russland als „Heimat meiner leisesten Wünsche und dunkelsten Gedanken“ bezeichnet (Rilke 1899: 68).
Der Heimatbegriff erhält hier eine fast schon religiöse Konnotation. Dies knüpft an den Gedanken einer „himmlischen Heimat“ an, die der unvollkommenen irdischen Heimat gegenübergestellt wird. Die Utopie einer idealen Heimat, im Sinne einer ungetrübten Ich-Umwelt-Harmonie, kann dabei ebenso als tröstender Flucht- und Imaginationsraum dienen wie als kritischer Maßstab, an dem die realen Verhältnisse gemessen werden.
Manipulatives Potenzial des Heimatbegriffs
Durch seine hohe emotionale Aufladung eignet sich das Heimatkonzept in besonderem Maße für Formen manipulativer Einflussnahmen auf andere. Wer an Heimatgefühle appelliert, gewinnt Zugang zu den unbewussten Schichten der Psyche. Der Heimatbegriff fungiert in diesem Fall als trojanisches Pferd, durch das bestimmte Inhalte und Interessen an der Bewusstseinsschranke vorbei an die Adressaten herangetragen werden können.
Dies gilt in besonderem Maße für das politische Heimatschutzkonzept. „Heimat“ ist hier ein Synonym für „Vaterland“. Dabei wird Letzteres zugleich ethnisch definiert, das heißt über Kategorien von Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Auf diese Weise ist der Appell an das Heimatgefühl zugleich ein Aufruf zur Verteidigung des Vaterlandes gegen fremdartige „Elemente“, handle es sich dabei nun um konkrete, abfällig so bezeichnete Personen oder um kulturelle Entwicklungen, die als unvereinbar mit dem eigenen Heimatbegriff angesehen werden.
„Heimatkultur“ wird in diesem Zusammenhang nicht dynamisch betrachtet, sondern als in seinem Kern unantastbarer Kanon tradierter Normen, Sitten, Denkmuster und Verhaltensweisen. Hieraus ergibt sich dann die Vorstellung eines „Kampfs der Kulturen“, in dem die Heimatkultur sich gegen jede Infiltrierung durch fremde Kulturen wehren müsse. Die historische Realität eines fortwährenden Ineinanderfließens und gegenseitigen Sich-Befruchtens der Kulturen wird schlicht ausgeblendet.
Heimat und Natur
Dass die Natur die Urheimat des Menschen ist, von der dieser sich durch den Verstädterungs- und Industrialisierungsprozess beständig entferne, ist seit Rousseau ein gängiger Topos der Zivilisationskritik. Über die Romantik und die Wandervogelbewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts hat er weitergewirkt bis in die Umweltbewegung der Nachkriegszeit.
Als Gegenpol zum Normenkorsett der Gesellschaft, dem Mehrwertdenken der kapitalistischen Wirtschaft und dem Ausbeutungsinteresse der Industrie wird die Natur hier gerade in ihrer möglichst unberührten Wildnis geschätzt. Ein Raum der Freiheit wird sie gerade dadurch, dass sie sich in ihrer Eigendynamik dem utilitaristischen Weltbild der Moderne entzieht. Die persönliche Selbstentfaltung in der Natur erscheint als Entsprechung zu deren eigener Entfaltungsfreiheit.
Hiervon abzugrenzen ist das Naturverständnis der traditionellen Heimatschutzvereine. Bei diesen wird die Natur nicht in ihrer Unberührtheit geschätzt und gesucht, sondern als Zeichensystem, durch das man sich der Verwurzelung an einem bestimmten Ort versichern kann. Es geht also etwa nicht um den Wald als solchen, sondern um bestimmte markante Punkte darin, die mit bestimmten Namen belegt werden und so die Beziehung der Betreffenden zu der umgebenden Natur bezeugen sollen.
Ziel ist dementsprechend auch nicht das Erlebnis eigener Freiheit in der freien Natur, sondern die rituelle Begegnung mit dieser. Wanderungen führen wie Pilgerreisen zu den sagenbehafteten Orten, Gemälde in Gaststätten zeigen alte Ansichten der Dorflinde, an der Wand hängen Hirschgeweihe und landwirtschaftliche Geräte der Urahnen.
Heimat droht auf diese Weise zum bloßen Zitat zu werden, zu einem reinen Schmückedeinheim, das beim prasselnden Kaminfeuer eine gewisse bürgerliche Behaglichkeit signalisieren soll. Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hat dies treffend „Heimat von der Stange“ genannt (Bausinger 1986: 83).
Ein solches Schwundkonzept von Heimat droht zum Opfer seiner eigenen Oberflächlichkeit zu werden. Dieselben Heimatpilger, die am Sonntag die heiligen Heimatorte erwandern, können tags darauf im Gemeinderat für die neue Umgehungsstraße stimmen. Der Sonntagsdienst an der Heimat ist hier nur noch eine Art Ablasshandel, durch den man sich selbst von der Schuld an der realen Schädigung der Heimat freispricht.
Hinzu kommt, dass eine solche Feiertags- und Lippenbekenntnis-Heimat leicht für fremde Zweck instrumentalisiert werden kann. Ein Politiker, der um Zustimmung für ein neues Einkaufszentrum werben möchte, muss lediglich im Trachenjankerl auftreten, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken.
Die Natur wird bei diesem Heimatkonzept auf Gartenzwerggröße zurechtgestutzt oder erstarrt gleich ganz zum Steingarten. Wenn überhaupt noch von echter Natur die Rede ist, so wird in xenophober Weise über „invasive“ Pflanzen geklagt. Die Sicht auf die Wirklichkeit ist dabei ebenso verzerrt wie im Bereich der Kultur und vernachlässigt nicht anders als dort die permanente Frischzellenkur, die sich aus der Berührung mit dem Fremden ergibt.
Aktive Aneignung von Heimat
Die Strategie, die faktische Heimatzerstörung durch die Berufung auf Heimatsymbole zu kaschieren, ist lange aufgegangen. Ab einem bestimmten Punkt hat sie sich jedoch gewissermaßen selbst demaskiert. Diesen Punkt beschreibt Hermann Bausinger bereits 1986:
„Erneut ist es in den letzten Jahrzehnten dazu gekommen, dass ganze Regionen und Landschaften industriell ‚erschlossen‘ und damit überrollt wurden. Solange die Rechnung wirtschaftlich aufzugehen schien, blieb diese Entwicklung relativ unauffällig; seit die Verschandelung von Landschaften aber keine wirklichen Garantien mehr für Arbeitsplätze und steigenden Wohlstand bringt, sind die Bewohner solcher Landschaften wach geworden“ (Bausinger 1986: 86).
Allerdings führte nicht nur die fehlende Verhältnismäßigkeit von Landschaftsverschandelung und ökonomischem Profit dazu, dass „die Selbstherrlichkeit der Planer und die Eigendynamik der Planung (…) mehr und mehr in Frage gestellt“ wurden. Es war vielmehr auch die zunehmende propagandistische Überhöhung der Heimatzerstörung selbst, die eine aufrüttelnde Wirkung entfaltete:
„Beton wird nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als schön verkauft“ (ebd.: 87).
Als Konsequenz aus den „massiven Eingriffen in die unmittelbare Umgebung jedes einzelnen“ sei es, so Bausinger, zu einer Abkehr von der bis dato üblichen Betrachtung von Heimat als „Freizeit- und Kompensationsphänomen“ gekommen. Die fortwährenden „Irritationen“ der Menschen im Nahbereich ihres Alltags hätten zu fundamentaler Verunsicherung geführt. Inzwischen hätten
„die Irritationen ein Ausmaß und eine Frequenz erreicht, dass viele Menschen die Heimatzerstörung nicht mehr nur resignativ über sich ergehen lassen, dass sich sie sich vielmehr dagegen formieren und aktiv Heimat zu retten und zu schaffen suchen“ (ebd.).
So führt die konkrete Zerstörung von Heimat letztlich zu einer Re-Konkretisierung des Heimatbegriffs. Diese geht einher mit einer aktiven Aneignung des Heimatkonzepts und einer entsprechend aktiven Beteiligung an der Gestaltung des jeweiligen Lebensumfelds der Einzelnen:
„Heimat ist nicht mehr nur Gegenstand passiven Gefühls, sondern Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzung. (…) Heimat ist nichts, das sich konsumieren lässt, sondern sie wird aktiv angeeignet. Heimat hat, wie in der ursprünglich-konkreten Bedeutung des Wortes, wieder sehr viel mit Alltag und alltäglichen Lebensmöglichkeiten zu tun“ (ebd.: 88).
Elemente eines kritischen Heimatbegriffs
Vieles von dem, was Hermann Bausinger über den Prozess der Landschaftszerstörung in den 1980er Jahren festgestellt hat, lässt sich auch auf den Ausbau der Windkraft beziehen. Wenn er von der „Selbstherrlichkeit der Planer“ und der „Eigendynamik der Planung“ spricht oder davon, dass „ganze Regionen und Landschaften industriell ‚erschlossen‘ und damit überrollt“ würden, dass „Beton (…) nicht nur als zweckmäßig, sondern auch als schön verkauft“ werde, so stellen sich bei heutigen Lesenden unmittelbar Bilder des unkontrollierten Windstromausbaus und seiner propagandistischen Überhöhung ein.
Vor diesem Hintergrund erscheint auch das von Bausinger neu entworfene Heimatkonzept als möglicher Ansatzpunkt für den Widerstand gegen die weitere Umformung Deutschlands in ein Mega-Kraftwerk und die damit einhergehende Naturzerstörung. Dafür ist es allerdings unerlässlich, klarzustellen, von welchem Heimatbegriff aus- und wie mit ihm umgegangen wird. Gleichzeitig muss auch das Heimatkonzept derer, die den Windstromausbau vorantreiben, dekonstruiert werden. Folgende Punkte scheinen mir dabei von zentraler Bedeutung zu sein:
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- Der Heimatbegriff der Windkraftenergiebranche weist zwei in sich widersprüchliche Facetten auf. Einerseits wird mit Wortneuschöpfungen wie „Windpark“ und „Energielandschaft“ an das semantische Umfeld von „Heimat“ angeknüpft und dadurch die faktische Heimatzerstörung euphemistisch ummäntelt. Andererseits wird jeder Versuch, das Heimatkonzept gegen das destruktive Potenzial von Windkraftanlagen in Stellung zu bringen, mit dem Verweis auf die problematischen Konnotationen dieses Konzepts zurückgewiesen. Auf diesen Widerspruch ist bei Diskussionen mit Projektierern und Betreibern von Windkraftanlagen gegebenenfalls hinzuweisen.
- Die emotionalen Fallstricke, die sich aus den nostalgischen Implikationen des Heimatkonzepts ergeben, müssen bei dessen Benutzung berücksichtigt werden. Dies heißt nicht, dass die emotionalen Bezüge zum eigenen Lebensumfeld negiert oder verdrängt werden sollten. Diese sind vielmehr eine wichtige Grundlage, um ein Gespür für die Zerstörung von Natur, Landschaft oder auch alter Bausubstanz zu entwickeln.
Um Vermischungen mit den irrationalen Bezügen zum Nahbereich des eigenen Alltags zu vermeiden, sollten die Emotionen jedoch zunächst als Motivation dafür genutzt werden, die Veränderungen gedanklich zu durchdringen und nötigenfalls auch durch spezielle Studien neutral zu bewerten. Gerade dort, wo Profitinteressen das zentrale Motiv für die Zerstörung von Heimat darstellen und/oder – wie bei der derzeitigen „Energiewende“ – ideologisch überhöht werden, kann dies ein wirksames Mittel des Widerstands sein.
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- Das zentrale Charakteristikum eines nicht-nostalgischen Heimatbegriffs ist seine Offenheit. Er bezeichnet ganz allgemein ein Lebensumfeld, das den darin lebenden Menschen eine größtmögliche Ich-Umwelt-Harmonie ermöglicht. Heimat kann demzufolge ebenso in einem ländlichen wie in einem städtischen Umfeld gefunden werden.
Das nicht-nostalgische Heimatkonzept ist ferner gekennzeichnet durch eine Balance aus Kontinuität und Veränderung. Die Überbetonung von Kontinuität führt zu Erstarrung, die Überbetonung von Veränderung zu Halt- und Orientierungslosigkeit. Heimat ist demnach ein atmender Raum, der osmotisch mit der weiteren Umgebung verbunden ist.
Dies schließt auch die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit von Migration mit ein. Sie verbindet sich dort organisch mit dem Heimatkonzept, wo sie sowohl von Seiten der Alteingesessenen als auch von Seiten der Neuankömmlinge von einem Prozess des neugierigen Aufeinander-Zugehens und der Bereitschaft, voneinander zu lernen, getragen wird.
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- Ein Heimatkonzept, das auf die Erhaltung einer intakten Lebensumwelt abzielt, gleichzeitig aber zukunftsorientiert ist und damit die Notwendigkeit von Veränderungen anerkennt, ist notwendigerweise aktivisch ausgerichtet. Ihm geht es nicht um „die Heimat“, sondern um „Beheimatung“, im Sinne der aktiven Auseinandersetzung der Einzelnen mit dem Nahbereich ihres Alltags und der Schaffung der Voraussetzungen für einen harmonischen Bezug zu diesem.
Das Heimatkonzept ist, so verstanden, auch nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Es schließt vielmehr die Möglichkeit ein, sich immer wieder neu an anderen Orten zu „beheimaten“.
Heimat und Umweltschutz
Bereits für die 1970er Jahre berichtet Hermann Bausinger von Versuchen einzelner Umweltschutzgruppen, die Heimatverbände für eine Mitarbeit an ihren Projekten zu gewinnen. Diese Versuche seien seinerzeit noch an dem Gegensatz von passivischem Heimat- und aktivischem Umweltkonzept gescheitert. Schon ein Jahrzehnt später – Mitte der 1980er Jahre – sah Bausinger angesichts einer Landschafts- und Naturzerstörung, die immer deutlicher auch als Heimatzerstörung erkennbar wurde, die Voraussetzungen für eine stärkere Verknüpfung der beiden Formen zivilgesellschaftlichen Engagements als gegeben an (vgl. Bausinger 1986: 88 f.).
Dies gilt heute noch mehr als damals. Mehr denn je wird klar: Wer Heimat verliert, verliert mit dem Bezug zum Nahbereich seines Alltags auch den Bezug zur Natur. Und wer den Bezug zur Natur verliert, verliert damit auch die Motivation, diese Natur zu schützen.
Die offene Diskreditierung des Heimatkonzepts durch diejenigen, die dieses Land in ein Kraftwerk verwandeln wollen, untergräbt demnach nicht nur die Möglichkeiten der Einzelnen, sich durch eine aktive Auseinandersetzung mit ihrem Lebensumfeld in diesem zu beheimaten. Sie unterminiert damit zugleich auch die Voraussetzungen für einen bewussten Umgang mit der Natur und für deren aktiven Schutz.
Heimat- und Umweltschützer kämpfen heute also an derselben Front. Um Synergieeffekte zu erzielen, ist es sicher für beide Seiten sinnvoll, die Zusammenarbeit zu intensivieren. Diese wird allerdings nur dann gelingen, wenn sie mit einem Austausch über das jeweilige Verständnis des Heimat- und Umweltkonzepts einhergeht.
Nachweise und Links
Bausinger, Hermann: Heimat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte. In: Kelter, Jochen (Hg.): Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Weingarten 1986: Drumlin. Bausinger_Hermann_Heimat_in_einer_offenen_Gesellschaft.pdf
Bosse-Brekenfeld, Peter (Red.): Heimat im 21. Jahrhundert. Moderne, Mobilität, Missbrauch und Utopie. Ausgewählte Beiträge zur gleichnamigen Tagung der Evangelischen Akademie in Kooperation mit der Westsächsischen Hochschule Zwickau, 7. – 9. Mai 2010. Frankfurt/Main 2010: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP). Heimat im 21. Jahrhundert.pdf
Jung, Franz: Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit. Autobiographie (1961; 1972 u.d.T. Der Torpedokäfer). Leipzig 1991: Reclam.
Rilke, Rainer Maria: Brief an Emil Faktor vom 3. Juni 1899; in: Gesammelte Briefe in sechs Bänden, herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Bd. 1, S. 68. Leipzig 1936 ff.: Insel.
Schmid, Pia: Zeit des Lesens – Zeit des Fühlens. Anfänge des deutschen Bildungsbürgertums, S. 129 und 127. Berlin 1985: Quadriga-Verlag Severin.
Thiemeyer, Thomas: Die Provinzialisierung der Heimat. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2018, S. 69 – 78.
Viele Menschen haben zu einer bestimmten Region ein besonders enges emotionales Verhältnis, das kann die Gegend, aus der sie herstammen, oder die Gegend, in der sie leben, sein. Ich selbst als Berliner, der seit 15 Jahren auf dem Lande lebt, bin nicht betroffen, da ich zu der Landschaft, in der ich lebe, ein intensiveres Verhältnis habe als zu Berlin, meine soziale Rolle hier aber für alle Zeiten durch mein Umfeld auf die eines Fremden festgelegt ist. Nur unter dieser Prämisse kann ich integriert sein und respektiert werden. Ich leide unter meiner Heimatlosigkeit nicht, erkenne aber trotzdem ohne Neid und Missgunst, dass Heimat etwas Kostbares ist. Da ich selbst heimatlos bin, kann ich das, was anderen Menschen ihre Heimat ist, möglicherweise objektiv erfassen. Diese Heimat hat wenig mit dem kulturhistorischen politischen Heimatbegriff zu tun, der im Zentrum des exzellenten Essais steht. Es ist eher so etwas wie „un paysage, un vieux clocher, et, dans un nuage, le cher visage de mon passé“, also etwas Persönliches. Durch den Windkraftausbau leiden viele Menschen unter dem Verlust ihrer Heimat. Ich als Heimatloser erleide diesen Verlust auf andere Weise, weil ich sehe, dass nicht nur die konkrete Heimat dieses oder jenes Menschen vernichtet wird, sondern dass überhaupt alles vernichtet wird, was jemandem Heimat sein könnte, sodass Heimatlosigkeit das Schicksal aller sein wird. Ich war zweimal mit dem Thema konfrontiert. Das erste Mal, als ein SPD-Politiker den Menschen in meiner Region, die sich gegen die Schändung und Auslöschung ihrer Heimat wehren, noch in der Zeit vor der Gründung des Heimatministeriums, vorwarf, mit der Verwendung des Begriffs ‚Heimat‘ rechtsextremes Gedankengut zu vertreten, das zweite Mal angesichts der Bestrebungen des Landes Mecklenburg-Vorpommern (SPD/CDU), eine „Heimat“ zu postulieren, die die faktische Spaltung des Landes und die Zurücksetzung Vorpommerns überwinden oder wohl eher überspielen soll.
Heimat ist etwas Starkes, Positives und Unpolitisches. Das ist die Grundlage aller Versuche, Heimat politisch zu funktionalisieren.
https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/04/12/heimatmuseum-statt-heimat/
https://sternkekandidatkreistagvg.wordpress.com/2019/04/12/heimatschmonzette/
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