Die Fiktion der Bürgernähe

Zur Diskussion um die Verkleinerung des deutschen Bundestags

Das System der Überhang- und Ausgleichsmandate bläht den Bundestag immer weiter auf. Lösungsvorschlag der CDU: eine Wahlrechtsreform, die ihr mit einem verkleinerten Bundestag auch gleich ein Abonnement auf eine Mehrheit im Parlament verschafft.

INHALT:

Das System der Erst- und Zweitstimmen
Direktwahlkandidaten als lokale Ansprechpartner?
Notwendigkeit eines verstärkten Dialogs zwischen Bund und Kommunen
Modell eines bürgernahen Verhältniswahlrechts
Formale Volksherrschaft, realer Autoritarismus

Das System der Erst- und Zweitstimmen

598 Abgeordnete soll der deutsche Bundestag der Idee nach haben: 299 werden über die Erststimme, nach wahlkreisbezogenem Mehrheitswahlrecht, gewählt, und 299 über die Zweitstimme, nach allgemeinem Verhältniswahlrecht. Dabei soll allerdings das durch das Verhältniswahlrecht abgebildete Ergebnis durch die Direktmandate nicht verzerrt werden. Die Folge: Wenn eine Partei über die Erststimme mehr Sitze gewinnt, als ihr nach dem Verhältniswahlrecht zustehen, müssen diese Überhangmandate durch Ausgleichsmandate für andere Parteien kompensiert werden.
In den letzten Jahren nivellieren sich bei der Sitzverteilung nach Verhältniswahlrecht zunehmend die Unterschiede zwischen den ehemaligen Volksparteien CDU und SPD sowie den anderen Parteien. Gleichzeitig gewinnen Erstere aber nach wie vor den Großteil der Direktmandate. Insbesondere die CDU profitiert von diesem System: 2017 gewann sie bei der Bundestagswahl 231 von 299 Direktmandaten. Durch das System der Ausgleichsmandate, die die Abbildung des Zweitstimmenergebnisses in der Sitzverteilung im Bundestag sicherstellen sollen, ist das Ergebnis ein sich immer weiter aufblähendes Parlament: Aktuell gibt es bereits 709 Bundestagsabgeordnete, für die Zukunft wird ein weiterer Anstieg prognostiziert.
Vor diesem Hintergrund ist in der CDU jetzt ein Vorschlag aus der Restaurokratie der Adenauer-Zeit wieder aufgewärmt worden: die so genannte „Grabenwahl“. Dabei werden Erst- und Zweitstimmen nicht miteinander verrechnet, sondern wie durch einen „Graben“ voneinander getrennt. Bei einer Anwendung dieses Prinzips gäbe es folglich 299 direkt gewählte und 299 nach Verhältniswahlrecht bestimmte Abgeordnete.
Das Manöver ist durchsichtig: Aufgrund des hohen Anteils der CDU bei den Direktmandaten wäre es der Partei auf diese Weise möglich, im Extremfall schon mit einem Viertel der abgegebenen Stimmen die absolute Mehrheit der Sitze zu gewinnen. De facto ergäbe sich auf diese Weise also die Möglichkeit, am Volkswillen vorbei zu regieren.

Direktwahlkandidaten als lokale Ansprechpartner?

Angesichts der möglichen Instrumentalisierung des Mehrheitswahlrechts für das Herrschaftsinteresse einer Minderheit stellt sich die Frage: Warum verabschieden wir uns nicht einfach ganz davon? Was soll dieses Zwittersystem aus Erst- und Zweitstimme eigentlich? Warum setzen wir nicht schicht auf ein reines Verhältniswahlrecht?
Das entscheidende Argument für das System der Direktmandate ist, dass auf diese Weise eine größere Bürgernähe entstehe: Indem jeder Wahlkreis mit einem/r konkreten Abgeordneten verbunden sei, erhöhe sich die Identifikation des Wahlvolks mit dem Parlament. Auch gäbe es so für alle Bürger konkrete Ansprechpartner, an die sie sich mit ihren Nöten und Wünschen wenden könnten.
Eine schöne Idee. Nur leider hat sie mit der Realität recht wenig zu tun. Folgende Argumente sprechen dagegen:

  1. Die Wahlkreise sind zu groß, als dass die jeweils gewählten Abgeordneten die Anliegen aller dort lebenden Menschen vertreten könnten.
  2. Wählende, die ihr Kreuzchen bei linken Parteien machen, werden sich kaum von einem Rechtsausleger vertreten fühlen, wenn dieser das Direktmandat erhält (und umgekehrt).
  3. Die Hauptarbeit der Abgeordneten findet im Bundestag statt und weist eine bundespolitische Ausrichtung auf. Die Belange des jeweiligen Wahlkreises zu berücksichtigen, ist dabei nur begrenzt möglich. Auch für konkrete Kontakte mit den Menschen vor Ort bleibt kaum Zeit. Die Verwurzelung im jeweiligen Wahlkreis spielt denn auch nicht überall die entscheidende Rolle bei der Kandidatenauswahl. Es kann durchaus vorkommen, dass Politiker ohne Verwurzelung in dem betreffenden Wahlkreis als Direktkandidaten aufgestellt werden.
  4. In unserem föderalen System gibt es eine strenge Trennung der Zuständigkeitsbereiche zwischen Bund, Ländern, Landkreisen und Kommunen. Erste Ansprechpartner für die Probleme vor Ort sind daher nicht Bundes- oder Landespolitiker, sondern die Kreistags- und Gemeinderatsvertreter. Bundestagsabgeordnete sind für diese Probleme oft weder zuständig, noch liegt deren Lösung in ihrer Kompetenz.

Notwendigkeit eines verstärkten Dialogs zwischen Bund und Kommunen

Das in den Direktmandaten liegende Versprechen, durch direkt gewählte Abgeordnete Ansprechpartner im Bundestag zu haben, erweist sich demnach bei genauerer Betrachtung als Illusion. Schlimmer noch: In der Realität kaschiert diese Illusion die gängige Praxis des Bundestags, über die Köpfe der Kommunen hinweg zu regieren.
Bundespolitik funktioniert nicht selten nach dem Wünsch-dir-was-Prinzip. Ob beim KITA-Qualitätsgesetz, dem Klimaschutzpaket oder dem Gesetz zur Entlastung pflegender Angehöriger: Immer wieder werden im Bundestag hehre Ziele formuliert, für deren Finanzierung und Umsetzung allerdings die Kommunen zuständig sind. Die in der Hauptstadt angeordneten Wohltaten müssen folglich auf kommunaler Ebene durch Einsparungen bei den freiwilligen Leistungen kompensiert werden. In der Folge sind in den letzten Jahren beispielsweise zahlreiche Schwimmbäder geschlossen worden. Die Kinder können dann also einen Kindergarten besuchen, laufen jedoch Gefahr, bei einem Ausflug an den Badesee zu ertrinken.
Sinnvoller als die Fiktion, durch die per Direktmandat gewählten Abgeordneten einen direkten Draht ins Parlament zu haben, wäre deshalb die Wahl kommunaler Verbindungsleute, mit denen die Formulierung, Verabschiedung und Umsetzung bundespolitischer Vorhaben abzustimmen wäre. Auf diese Weise könnte die Berliner Wolkenkuckucksheim-Politik mit den lokalen Realitäten vermittelt werden. Den kommunalen Vertretern müsste dabei im Falle politischer Projekte, die sie direkt betreffen, auch ein formales Mitsprache- und Vetorecht eingeräumt werden

Modell eines bürgernahen Verhältniswahlrechts

Wenn man unbedingt daran festhalten möchte, die Bürgernähe des „Raumschiffs Bundestag“ über den Wahlkreisbezug der Abgeordneten sicherzustellen, sind Reformen unerlässlich. Ein Vorschlag, der das System der Direktmandate nur dafür nutzt, größeren Parteien stabile Mehrheiten im Parlament zu verschaffen, weist dabei jedoch exakt in die falsche Richtung. Denn auf diese Weise würde sich ja gerade die Entfremdung der Abgeordneten von den politischen Präferenzen der Wählenden verstärken.
Denkbar ist stattdessen ein System, das ein reines Verhältniswahlrecht mit dem regionalen Bezug der einzelnen Abgeordneten verknüpft. Dafür müsste das, was es de facto schon gibt, lediglich stärker mit dem Aufgabenprofil der ParlamentarierInnen verknüpft werden. Denn es wird ja schon heute darauf geachtet, dass die Abgeordneten aus allen Teilen des Landes kommen und nicht einzelne Landstriche überrepräsentiert sind.
Bei einem bürgernahen Verhältniswahlrecht müsste vor der Wahl deutlich gemacht werden, welche BewerberInnen auf den einzelnen Listen bei einem Einzug ins Parlament für welche Wahlkreise zuständig wären. Nach der Wahl wären dann zwar einzelne Wahlkreise über- und andere unterversorgt. Dieses Problem ließe sich aber durch Umverteilungen lösen, zumal kaum ein Bundestagsabgeordneter nur zu einer einzigen deutschen Region Beziehungen haben dürfte. Dabei sollte dann auch nicht nur ein einzelner Abgeordneter für eine bestimmte Region zuständig sein. Vielmehr müsste jeweils ein Tandem gebildet werden, das stets verschiedene Pole des politischen Spektrums abdecken sollte.

Formale Volksherrschaft, realer Autoritarismus

Alle hier vorgestellten Reformvorschläge sind sehr weit davon entfernt, umgesetzt oder auch nur diskutiert zu werden. Denn: Wir leben in populistischen Zeiten. Bürgernähe und Volkstümlichkeit werden mit Unterstützung von PR-Profis eingeübt und auf öffentlichen Versammlungen vorgetäuscht, um die faktisch immer autoritärere Regierungspraxis zu kaschieren.
Hierzu passen Abstimmungsverfahren, die entweder – wie bei Referenden – durch eine entsprechende Stimmungsmache im gewünschten Sinn beeinflusst werden können oder – wie der Unionsvorschlag zur Reform des Wahlrechts zum Bundestag – mit einer eingebauten Siegesgarantie für die Initiatoren verbunden sind. Die Volksherrschaft wird so zur reinen Fiktion, zu einer Farce, deren Aufrechterhaltung lediglich dazu dient, die immer weiter um sich greifenden Tendenzen zur Entdemokratisierung zu verschleiern.

Bild: Mario Vogelsteller: Reichstagskuppel von innen (Pixabay)

5 Kommentare

    1. Philipp Amthor? – Ob der sich wirklich einsetzt? In Bezug auf die so genannte Energiewende hast du Recht. Das ist eine Bundesangelegenheit. Ansonsten läuft es nach dem Motto: Der Bund macht Versprechungen, die Kommunen zahlen. Mein Punkt war aber vor allem der CDU-Vorschlag zur Verkleinerung des Bundestages.

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      1. Ich habe das schon verstanden, worum es geht. Nicht zustimmen möchte ich dem Satz „Warum setzen wir nicht schlicht auf ein reines Verhältniswahlrecht?“ Ich bin der Meinung, dass die Bundestagsabgeordneten dadurch, dass sie versuchen müssen, ein Direktmandat zu erlangen, gezwungen werden, sich mit den Problemen der Menschen in ihrem Wahlkreis auseinanderzusetzen. Es ist ja schon schlimm genug, dass sie, wenn sie einmal gewählt worden sind, dem Wähler keine Rechenschaft schuldig sind, sondern sich ganz und gar dem Lobbyismus hingeben und für die Lebensphase danach sorgen können. Der andere Satz, mit dem ich nicht einverstanden bin, ist der: „Erste Ansprechpartner für die Probleme vor Ort sind daher nicht Bundes- oder Landespolitiker, sondern die Kreistags- und Gemeinderatsvertreter.“ Und hier stelle ich fest, dass ich solche „Probleme vor Ort“, die die Mitglieder des Kreistags oder die Gemeindevertreter lösen könnten, nicht habe. Letztere haben bei uns in Vorpommern, wo die Kommunen sehr arm sind, kaum Handlungsmöglichkeiten. Die Umweltzerstörung durch die Windkraft, aber auch durch die hochindustrialisierte Landwirtschaft wird weniger durch die Akteure vor Ort, die unter ökonomischen Zwängen handeln oder Selbstbereicherungsmöglichkeiten nutzen, als durch die Rahmenbedingungen, die auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene geschaffen werden, herbeigeführt. Deshalb ist die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zu den direkt gewählten Vertretern wichtig, so unbefriedigend das auch ist. Denn natürlich hätte ich als lokalen Ansprechpartner lieber Mike Mohring, Carsten Linnemann oder Jens Koeppen als Philipp Amthor.

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