Fahrlässige Tötung

Zu den Plänen für ein Ende der Schulschließungen

cemetery-2802233_1920 mit LämpelDie Ankündigungen einzelner Bundesländer zu Schulöffnungen nach den „Osterferien“ sind vorschnell und verantwortungslos. Sie beruhen auf realitätsfremden Empfehlungen, die sich in der Praxis nicht umsetzen lassen.

Missachtung demokratischer Grundregeln
Realitätsferne Experten-Empfehlungen
Angst vor dem Ende der „Kaserne der Nation“?
Verantwortungslosigkeit der politisch Verantwortlichen
Update um 20 Uhr: Zu den Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission

Missachtung demokratischer Grundregeln

Ich hatte mein gestriges Plädoyer gegen ein zu frühes Ende der Schulschließungen kaum ins Netz gestellt, da kam aus Nordrhein-Westfalen die Meldung: Die Schulen werden nach den Osterferien schrittweise wieder geöffnet. Kurz danach zog Baden-Württemberg nach: Schulöffnungen ab 27. April.
Nicht, dass ich annehmen würde, eine FDP-Ministerin aus Nordrhein-Westfalen und eine baden-württembergische Bildungsministerin mit dem bezeichnenden Namen „Eisenmann“ würden sich dafür interessieren, was der Rothe Baron so in seiner Blog-Hütte treibt (ist vielleicht auch besser so …). Ich war und bin allerdings nicht der Einzige, der Schulöffnungen in der derzeitigen Situation für unverantwortlich hält. Was mich daher am meisten erschreckt, ist die Unverfrorenheit, mit der ausgerechnet in einer Notsituation wie dieser demokratische Grundregeln mit Füßen getreten werden.
Warum haben die beiden Ministerinnen nicht wenigstens die heutigen Bund-Länder-Beratungen abgewartet? Sind Diskursivität und das grundgesetzlich garantierte Versprechen „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in der Krise außer Kraft gesetzt? Zählt das Recht auf Leben auf einmal weniger als das Machtbedürfnis deutscher Provinzpotentatinnen?

Realitätsferne Experten-Empfehlungen

Klar, die Ministerinnen können sich bei ihren Entscheidungen auf die Empfehlungen hochwohlgeborener Experten stützen. Die „Leopoldina“, die Nationale Akademie der Wissenschaften, hatte am Ostermontag die Öffnung der Schulen für Grundschulkinder empfohlen, weil diese besonderer Betreuung bedürften. Das Robert-Koch-Institut hatte einen Tag später Schulöffnungen nur für ältere Kinder und Jugendliche empfohlen, da diese sich besser an Abstandregeln halten könnten.
Beide Empfehlungen sind erstaunlich realitätsfremd: Grundschulkinder mögen in der Tat auf besondere Zuwendung ihrer schulischen Bezugspersonen angewiesen sein. Eben deshalb neigen sie allerdings auch nicht dazu, Abstand zu diesen zu halten. Die beste Zuwendung nützt aber nichts, wenn sie am Ende den Exitus der Bezugsperson zur Folge hat.
Bei älteren Kindern und Jugendlichen soll den Leopoldina-Experten zufolge die Einhaltung von Abstandsregeln durch eine großzügigere Verteilung der Lernenden in den Klassenräumen sichergestellt werden. Kleines Problem am Rande: Dafür sind gar nicht genug Klassenräume vorhanden. Und selbst wenn dem so wäre, würden die Lehrkräfte fehlen, um die SchülerInnen in den kleineren Klassen zu unterrichten.
Auch bei ihren Empfehlungen zu den nötigen hygienischen Maßnahmen orientieren sich die Experten eher an den Verhältnissen in Taka-Tuka-Land als in Deutschland. Gepflegte sanitäre Einrichtungen? Flüssigseife? Warmes Wasser? Regelmäßige gründliche Reinigung der Klassenräume, gar nach den Maßgaben des Infektionsschutzes? Nichts davon kann in Deutschland als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Eine Bildungsministerin, die diesen Namen verdient, sollte das eigentlich wissen. Sie müsste erkennen, dass hier ein paar Experten schon lange keine Schule mehr von innen gesehen haben. Stattdessen sind die realitätsfernen Empfehlungen jedoch einfach unreflektiert aufgegriffen worden. Schulöffnungen nach den Osterferien … Auf welchem Planeten lebt eine Bildungsministerin, die so etwas anordnet, eigentlich? Auf dem Planeten Erde hatte in diesem Jahr jedenfalls niemand „Osterferien“.

Angst vor dem Ende der „Kaserne der Nation“?

Die Begründungen für die überstürzten Anweisungen, die Schulen wieder zu öffnen, klingen immer ausgesprochen fürsorglich: Die armen Kinder! Sie werden ja noch ganz blöd, wenn wir nicht bald wieder unser Bildungs-Manna auf sie herabregnen lassen! Corona-Tote und strenge Schutzvorschriften hin oder her: Die Kinder müssen schulbeglückt werden!
Vielleicht steckt hinter der fast schon panischen Angst vor zu langen Schulschließungen aber in Wahrheit etwas ganz anderes. Womöglich fürchtet hier manch einer, die Kinder könnten eine ganz neue, anarchische Lust am Lernen entdecken, wenn sie zu lange des Vorschriftenknüttels der Schulbürokratie entwöhnt werden. Wenn Lernende und Lehrende auf einmal ein partnerschaftliches Verhältnis zueinander entwickeln, das, ungetrübt von Notendruck und Lehrplanvorgaben, allein auf geistiges Wachstum und individuelle Entfaltung abzielt. Auf etwas, das letztlich an die Grundfesten unserer sozialdarwinistischen Konkurrenzgesellschaft rühren würde.
Ist Schule in Deutschland also doch noch immer das, als was Wilhelm Liebknecht sie 1872 bezeichnet hat: eine „Kaserne der Nation“? Beruht die Angst vor zu langen Schulschließungen auf der Angst, die Schule könnte ihre Funktion verlieren, Unterordnung und Anpassung einzuüben?

Verantwortungslosigkeit der politisch Verantwortlichen

Selbst wenn dem so sein sollte, bleibt das Faktum: Manche politisch Verantwortliche handeln – verantwortungslos. Sie tragen ihre Bezeichnung zu Unrecht.
Schlagen wir doch mal das Bürgerliche Gesetzbuch auf. In Paragraph 276, Absatz 2, lesen wir: „Fahrlässig handelt, wer die (…) erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.“ Fahrlässige Tötung liegt demnach dann vor, wenn ein Mensch das Leben verliert, weil ein anderer seine Sorgfaltspflichten verletzt hat.
Dies ist eine exakte Beschreibung des Verhaltens, das manche politische EntscheidungsträgerInnen derzeit an den Tag legen. Besonders erschreckend ist dabei, dass das einzelne Menschenleben auf einmal nichts mehr zählt. Es mag ja sogar sein, dass rasche Schulöffnungen schneller zu der ersehnten „Herdenimmunität“ führen. Wenn dabei aber nur eine einzige lungenkranke Mutter ihr Leben verlieren kann, indem sie sich bei ihrem symptomfreien Kind ansteckt, ist die Vorgehensweise dennoch ethisch nicht vertretbar.
Wie hatte Bundespräsident Steinmeier uns zu Ostern doch so salbungsvoll belehrt? Alle wollen das Beste für dich, du armes Volk, hab Vertrauen zu den Regierenden …
Dazu kann ich nur sagen: Vertrauen lässt sich nicht dekretieren. Man muss es sich verdienen!

Update um 20 Uhr: Zu den Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission

Die Bund-Länder-Videokonferenz hat in Bezug auf die Schulschließungen immerhin einen großzügigeren Zeitkorridor anberaumt: Öffnungen ab 4. Mai. Es bleibt aber dabei, dass die Länder prinzipiell in Eigenregie handeln können – als würde das Virus in Bayern einer anderen Logik folgen als in Hessen oder Berlin.
Die Schulöffnungen werden ferner an Bedingungen geknüpft, die die Einhaltung der Abstands- und Hygienevorschriften sicherstellen sollen. So sind spezielle Pausen- und Schulbuspläne vorgesehen, und die Klassen sollen verkleinert werden.
Da Räumlichkeiten und Personal dann nicht für alle SchülerInnen ausreichen werden, sollen zuallererst jene unterrichtet werden, denen wichtige Prüfungen bevorstehen. Es bleibt also dabei: Examination first! Im Vordergrund steht nicht, den Kindern und Jugendlichen bei der Verarbeitung der auch für sie zutiefst beunruhigenden Wochen zu helfen. Stattdessen werden sie zusätzlich durch Prüfungsrituale belastet, die ungefähr so sinnvoll sind wie ein Ritterturnier in einer Geisterstadt.
Die Kanzlerin spricht selbst von einem „hohen logistischen Aufwand“, der für die Durchführung von Prüfungen und Prüfungsvorbereitungen zu leisten sei. Die meisten Kinder und Jugendlichen würden auf diesen Aufwand sicher gerne verzichten. Warum wird derselbe Aufwand nicht betrieben, um den Lernenden mit verbesserten Online-Angeboten und -Kontakten zu den Lehrenden eine schöne Lern-Zeit zu Hause zu ermöglichen? Die erzwungene Zäsur im Alltagsleben ganz einfach für individuelles geistiges Wachstum zu nutzen? Warum muss es immer der Prüfungshammer sein? Wem ist denn damit geholfen?
Insgesamt funktioniert das Bund-Länder-Empfehlungspaket nach dem Motto: Geh mit mir ins Bett, aber fass mich nicht an! Das Tragen von Schutzmasken in Supermärkten und öffentlichem Nahverkehr wird dringend empfohlen, gleichzeitig sollen aber neben den Schulen auch die Geschäfte ab dem 4. Mai wieder schrittweise geöffnet werden.
Ich weiß nicht, in welcher Glaskugel die Damen und Herren Regierenden gelesen haben, dass das Virus ab dem 4. Mai die Waffen zu strecken gedenkt. Ich kenne nur die aktuellen Todeszahlen aus Frankreich, die für Anfang der Woche über 700 Corona-Tote an einem einzigen Tag verzeichnen. Aber vielleicht ist Frankreich im Zuge der Grenzschließungen ja der Status als Nachbarland aberkannt worden. Vielleicht wird die Entwicklung der Epidemie dort bis 4. Mai einfach per Dekret für irrelevant erklärt.
Besonders gespannt bin ich auf die Umsetzung der Empfehlungen in den Friseursalons. Denn auch diese dürfen zwar öffnen, müssen aber die Einhaltung der Abstandsregeln garantieren. Kontaktloses Haarewaschen – das wäre dann ein echtes Krisenwunder!

Nachweis Liebknecht-Zitat:

Liebknecht, Wilhelm: Wissen ist Macht – Macht ist Wissen. Vortrag, gehalten zum Stiftungsfest des Dresdener Arbeiterbildungsvereins am 5. Februar 1872 und zum Stiftungsfest des Leipziger Arbeiterbildungsvereins am 24. Februar 1872. In: Ders.: Kleine politische Schriften, Kap. 3. Leipzig 1976: Reclam.

Bild: Collage aus S. Hermann und F. Richter: Friedhof (Pixabay) und Wilhelm Busch: Meister Lämpel (Wikimedia)

2 Kommentare

  1. Man fragt sich tatsächlich, ob überhaupt eine* der Politiker*innen auch Aushilfslehrer*in in der Homeschool ist. Arbeitet jemand von denen im Homeoffice und hat gleichzeitig ein Kind in einer präpubertären Phase?
    Ich vermute nicht. Deswegen mal eine kleine Wasserstandsmeldung: Nehmt die Schule nicht so wichtig. Das meiste, was man dort lernt, vergisst man sowieso wieder. Sonst würde ich in der Homeschool nicht gerade so viel lernen.
    Bevor Schulen geöffnet werden, müssen die Sportvereine wieder geöffnet werden. Die Kinder sind nicht ausgelastet. Sie drehen zu Hause frei. Und ich drehe durch. Ich halte es nicht mehr aus. So viel Homesport kann man gar nicht anbieten. Sie müssen zurück auf den Rasen. Meinetwegen Bubble-Ball statt Fußball, damit die Abstandsregel eingehalten wird…

    Gefällt 1 Person

    1. Finde ich einen guten Vorschlag. Sport geht auch im Freien. Da ist die Ansteckungsgefahr geringer, Abstand besser einzuhalten. Vielleicht hätten Übungsleiterinnen und Trainerinnen sogar völlig innovative Ideen.

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