Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit in Russland und den USA – Teil 2
Die politischen Debatten in der Hauptstadt haben oft recht wenig zu tun mit der Art und Weise, wie die Menschen einander im Alltag begegnen. Dies ist in Russland nicht anders als in den USA. In den Vereinigten Staaten ist hieraus ein emphatischer Freiheitsbegriff entstanden, der Übergriffe des Staates in die Privatsphäre der Bürger strikt ablehnt. Dieser Freiheitsbegriff kann ebenso eine ausgrenzende wie eine inklusive Wirkung entfalten.
INHALT:
- Was Russland und die USA verbindet
- Kartoffelernte und Kreml-Kabale
- Dominanzkultur, Parallelkultur, Subkultur, Gegenkultur
- Freiheit und Frontier
- Janusköpfiger Freiheitsbegriff
- Lesetipp
Was Russland und die USA verbindet
Der alltägliche Umgang der Menschen miteinander ist in der amerikanisch-mexikanischen Grenzregion oft viel unkomplizierter, als es die Propaganda gewisser Populisten glauben machen will. Die Parolen aus dem politischen Zentrum erscheinen abgekoppelt von der konkreten Lebenswirklichkeit vor Ort.
Dieses Phänomen ist allerdings kein Spezifikum der USA. Etwas Ähnliches begegnet einem überall auf der Welt. In „la France profonde“, dem „tiefen“, ruralen Frankreich, ist Paris ähnlich weit weg wie Washington von El Paso. Gleiches gilt für die Beziehung von rumänischen Karpatendörfern oder schottischen Highland-Weilern zu ihren jeweiligen Hauptstädten.
Allerdings kann man wohl sagen: Je ausgedehnter das Land, desto größer ist auch die Distanz zwischen politischem Hauptstadtleben und kulturellem Alltag der Menschen im Rest des Landes. Aus der Perspektive der Hauptstadt abfällig als „Provinz“ bezeichnet, schlägt dort de facto aber das Herz des Landes. Besonders ausgeprägt ist diese Diskrepanz in Russland und den USA, die hier also jenseits aller Rivalität eine Gemeinsamkeit aufweisen.
Kartoffelernte und Kreml-Kabale
In Russland dürfte die kulturelle und mentale Distanz zu den Zentren des Landes wohl noch etwas größer sein als in den USA. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst einmal ist da wohl die Infrastruktur zu nennen, die in Russland um einiges brüchiger ist als in den USA mit ihren schnurgeraden Highways. Dies liegt zwar weniger an fehlender Ingenieurskunst als vielmehr an den Witterungsverhältnissen, die stabilen Straßenbau erheblich erschweren – erst recht in Zeiten des Klimawandels mit den vielerorts auftauenden Permafrostböden.
Das Resultat ist jedoch in jedem Fall: Wer in Russland abseits der großen Städte lebt, ist den Launen der Natur ziemlich ungeschützt ausgeliefert. Der richtige Termin für die nächste Kartoffelernte ist da wichtiger als alle Kreml-Kabalen.
Hinzu kommt, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist. Dem trägt auch die Bezeichnung „Rossiskaja Federazija“ Rechnung – was eben, anders als „Russkaja Federazija“, nicht „Russische“, sondern „Russländische“ Föderation bedeutet und damit alle nicht-russischen Völker miteinschließt. Natürlich wird das Land von den fast 80 Prozent ethnischen Russen dominiert. Es gibt jedoch durchaus Regionen, die, wie etwa Baschkirien (Baschkortostan) oder Kalmückien, den kulturellen Selbstbestimmungsbedürfnissen anderer Volksgruppen Rechnung tragen und mit entsprechenden – wenn auch eng umgrenzten – Autonomierechten ausgestattet sind. Zu der räumlichen und geistigen Distanz zu den politischen Zentren kommt in diesem Fall noch die ethnisch-kulturelle hinzu.
Dominanzkultur, Parallelkultur, Subkdominanzkulturultur, Gegenkultur
In den USA dagegen wird jeder Gedanke an echte kulturelle Autonomie für nicht der Dominanzkultur angehörende Gruppen von der Schmelztiegel-Ideologie überdeckt. Die einheimischen Völker, heute beschönigend als „first nations“ bezeichnet, genießen in ihren Reservaten in etwa die kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten von Lagerinsassen. Wollen sie ihre gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten erweitern, müssen sie sich ebenso von dem großen „melting pot“ zu Mainstream-Amerikanern umschmelzen lassen wie alle anderen Volksgruppen auch.
Parallelkulturen, die in einem Vielvölkerstaat neben- und miteinander existieren, können daher in den USA nicht gedeihen. Was es gibt, sind unzählige Subkulturen, wie sie in Chinatown oder Little Italy, von Afroamerikanern oder Hispanics, urbanen Alternativszenen oder einzelnen religiösen Gemeinschaften gebildet werden. Diese Subkulturen bleiben nicht ohne Einfluss auf die Dominanzkultur, mit der sie in einem mal lebendigeren, mal eingeschränkteren Austausch stehen. Sie können jedoch nie die Kraft einer aus dem Inneren der Mainstream-Kultur erwachsenden Gegenkultur entwickeln.
Freiheit und Frontier
Eine solche Gegenkultur, die ein tendenziell von der politischen Machtzentrale unabhängiges Eigenleben führt, ist in den USA aus dem Mythos der „Frontier“ entstanden, der im Kampf gegen die einheimischen Völker sukzessive nach Westen ausgedehnten Grenze des eroberten Landes. Die frühen amerikanischen Siedler haben dabei auf ihren Farmen ein Inseldasein geführt, das nur locker mit dem der anderen Siedler assoziiert und vom ständigen Abwehrkampf gegen Bedrohungen aller Art gekennzeichnet war.
Wilde Tiere, Viehdiebe, Stürme – all das konnte die mühsam aufgebaute eigene Existenz gefährden oder gar zerstören. Auch aus dieser generalisierten Verteidigungshaltung heraus ist das Bedürfnis nach individuellem Schusswaffenbesitz und Selbstverteidigungsrecht entstanden.
Für Begegnungen im ländlichen Amerika bedeutet das: Man kann dort zwar das Pech haben, in das Visier eines Gewehrs zu geraten und als feindlicher Eindringling eingestuft zu werden. Dann kommt es womöglich zu einer Begegnung der unangenehmeren Art. Auf der anderen Seite bedingt gerade die Tradition des unbedingten, notfalls auch bewaffneten Kampfs für die eigene Freiheit eine grundsätzliche Achtung vor der Freiheit anderer – denen man dann auch mit der entsprechenden Offenheit und Hilfsbereitschaft begegnet.
Eine solche Haltung legt auch nahe, dass man Gemeinschaft stets vom Individuum aus denkt, weil jedes Aufgehen des Einzelnen in der Gemeinschaft seine Freiheit untergraben könnte. Das Zusammenleben mit anderen ist demzufolge tendenziell eher von friedlicher Koexistenz als von emphatischer Gemeinschaft geprägt.
Eben dies strahlen auch die amerikanischen Straßenpartys aus, die man vielleicht als Gegenstück zu den russischen Gastmählern ansehen könnte. Man kommt zusammen, um sich gutnachbarschaftlicher Absichten zu versichern. Die Grundeinheit bleibt aber schon deshalb das eigene Inseldasein, weil die Anhänglichkeit an einen bestimmten Wohnort im Land der Mobile Homes weit geringer ausgeprägt ist als in Russland oder anderswo.
Janusköpfiger Freiheitsbegriff
Der emphatische Freiheitsbegriff ist damit in den USA grundsätzlich janusköpfig. Auf der einen Seite kann er, wie in den heutigen Diskursen des rechten Libertarismus, für marktliberale Positionen stehen, die auf das freie Spiel der Marktkräfte setzen und auch jede Form von Sozialprogrammen als unzulässige Einmischung des Staates in die private Sphäre der Bürger ablehnen. Dieser Freiheitsbegriff ist tendenziell exklusiv.
Auf der anderen Seite kann das Beharren auf individuellen Freiheitsrechten jedoch auch gerade umgekehrt ein radikales Eintreten für die Rechte von Menschen, deren Freiheit nicht respektiert wird, bedingen. Dementsprechend wird dann auch das Recht des Einzelnen, sich repressiven staatlichen Tendenzen zu widersetzen, betont.
So hat etwa der Essayist und Naturphilosoph Henry David Thoreau, Autor des „Aussteigerbuchs“ Walden oder Leben in den Wäldern (1854), 1849 aus der Praxis unmoralischer Angriffskriege und der Sklaverei nicht nur das Recht, sondern geradezu die moralische Pflicht zu „civil disobedience“ (zivilem Ungehorsam) abgeleitet. Konkret bedeutete das für ihn, dass man einem Staat, der unmoralisch handle, dieses Handeln nicht durch das Entrichten von Steuern ermöglichen dürfe. Für dieses Recht ist er sogar ins Gefängnis gegangen.
Beide Freiheitsbegriffe treffen sich allerdings in der Forderung, dass der Staat lediglich als eine Art Sachwalter für die Interessen der Individuen und als Garant für Bedingungen, unter denen diese sich bestmöglich entfalten können, zu fungieren habe. Ein- und Übergriffe des Staates in die Privatsphäre der Bürger werden hier wie dort radikal abgelehnt. So betont auch Thoreau, eine Regierung könne „kein anderes Recht über meine Person und mein Eigentum haben als das, welches ich ihr gewähre“. Die „Grundlage“ eines jeden Staatswesens müsse stets „das Individuum“ sein:
Es wird nie einen wahrhaft freien und aufgeklärten Staat geben, bis der Staat den Einzelnen als höhere und unabhängige Kraft anerkennt, von dem aus sich seine eigene Kraft und Autorität ableitet, und ihn entsprechend behandelt. Ich erfreue mich daran, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, allen Menschen gegenüber gerecht zu sein und der den Einzelnen mit Respekt als einen Nachbarn behandelt; der es nicht einmal für unvereinbar mit seinem inneren Frieden hält, wenn Einige außerhalb von ihm leben wollen, ohne seine Einmischung und Umarmung, jedoch alle Pflichten eines Nachbarn und Mitmenschen erfüllen.
Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam
Lesetipp
Henry David Thoreaus Essay On the Duty of Civil Disobedience (Über die Pflicht zum zivilen Ungehorsam, 1849) ist gerade heute, in einer Zeit weltweiten Demokratieabbaus, wieder äußerst lesenswert. Es ist im englischen Original (PDF bei biblio.org, 28 Seiten), aber auch in einer deutschen Übersetzung von David Adner (PDF, 14 Seiten; zitierte Passage darin S. 13 f.) im Netz abrufbar.
In Teil 3 wird es am kommenden Sonntag um die russische Gastfreundschaft gehen.
Bilder: Pixabay: René Rauschenberger: Einsames Gebäude; Falkenpost: Farm; Alexandr Smirnov: Winter
Ein sehr interessanter Text. Bin gespannt, wie es mit Russland dann weitergeht. Vielen Dank für die „Geistesanregung“!
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