Das süße Gift der Oblomowschtschina: Wenn aus Fatalismus Opportunismus wird

Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit in Russland und den USA – Teil 6

Die „Oblomowschtschina“ – ein im Anschluss an Iwan Gontscharows Roman Oblomow (1859) geprägter Begriff – kann schlicht eine extreme Form von Antriebsarmut und melancholischem Rückzug bezeichnen. Der daraus resultierende Fatalismus kann jedoch auch in einen gefährlichen Opportunismus münden.

Oblomow und die Angst vor Veränderung

Pjerjemjen! Viktor Tsojs Hymne für und gegen Veränderungen

 Drinnen Jesus, draußen Stalin

Hörtipp

Oblomow und die Angst vor Veränderung

Neben der Deutung von Gontscharows Roman Oblomow als sozialkritischer Charakterstudie eines parasitären Adligen und als Décadence-Roman gibt es noch einen weiteren Interpretationsansatz. Er ist für den gegebenen Zusammenhang besonders bedeutsam. Danach würde es in Gontscharows Werk nicht um eine schicht- oder epochenspezifische Lethargie gehen, sondern allgemein um die Angst vor Veränderung.
Diese Angst ist jedem bekannt, der sein Leben einmal von Grund auf verändern wollte. Spätestens wenn es an die konkrete Ausführung geht, regen sich die Zweifel: Wird denn wirklich alles besser werden, weil alles anders wird? Werde ich durch die Veränderungen nicht am Ende mehr verlieren, als ich gewinnen kann? Oder, übertragen auf die Makro-Ebene gesellschaftlicher Veränderungen: Werden die Strukturen nach der Revolution wirklich humaner sein als vorher? Wird es danach mehr soziale Teilhabemöglichkeiten und eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums geben? Oder werden – wofür es in der Geschichte ja nicht wenige Beispiele gibt – nur andere Gruppen die Rosinen unter sich aufteilen?
In Russland kommt hinzu, dass die Utopie einer idealen Gemeinschaft im Privatleben für viele ja bereits verwirklicht ist. Dies führt rasch zu der Frage, ob man sich nicht lieber damit bescheiden soll, anstatt durch Bemühungen um einen gesellschaftlichen Umsturz am Ende womöglich auch jenes kleine Inselglück zu verlieren, an dem man sich derzeit noch erwärmen kann.

Pjerjemjen! Viktor Tsojs Hymne für und gegen Veränderungen

Auf den Punkt gebracht hat diesen Gefühlskomplex Viktor Tsoj (Viktor Tsoi) in seinem berühmten Lied Pjerjemjen (Peremen; „Veränderungen“, 1989). Der brennende Wunsch nach Veränderungen, ekstatisch herausgeschrien („Veränderungen! Das ist es, wonach unsere Herzen verlangen!“), wird hier erstickt von dem altbekannten Muster eines Zusammenhockens mit Bekannten am Küchentisch. Mit dem dampfenden „Tee auf dem Tisch“ und der betäubenden „Zigarette in der Hand“ erscheint es auf einmal „schrecklich“, etwas verändern zu müssen: „Zigaretten in der Hand, Tee auf dem Tisch – so schließt sich der Kreis. Und plötzlich kommt es uns schrecklich vor, etwas zu verändern.“

"Zigaretten in der Hand, Tee auf dem Tisch –
so schließt sich der Kreis.
Und plötzlich kommt es uns schrecklich vor,
etwas zu verändern."

Diese Haltung ist gerade in Russland sehr gut nachzuvollziehen, wo weiße wie rote Zaren das Land und die Bedürfnisse der einzelnen Menschen jeweils ihren eigenen Herrschaftsinteressen untergeordnet haben. Da liegt es nahe, Moskau und St. Petersburg wie ferne Galaxien zu betrachten und sich innerlich von den politischen Machtzentren des Landes abzukoppeln.

Drinnen Jesus, draußen Stalin

Nun haben aber politische Entscheidungen auch in Russland bis in den hintersten Winkel des Landes Einfluss auf das Alltagsleben der Menschen. Die Rechnung, Privates und Öffentliches strikt voneinander zu trennen, geht also selbst dann nicht auf, wenn man von der Situation autarker ländlicher Siedlungen ausgeht.
Noch schwieriger wird eine solche Trennung von privater und öffentlicher Sphäre für jene Menschen, die zwischen beiden Bereichen pendeln. Vor allem bei Staatsdienern kann dies in letzter Konsequenz zu einer schizoiden Spaltung der Persönlichkeit in ein privates und ein öffentliches Ich führen. Während das private Ich ein emphatisches Verständnis von Gemeinschaft pflegt, ordnet sich dieselbe Person dann als öffentliches Ich uneingeschränkt dem staatlichen Uniformierungswillen unter. Denselben Menschen, den die Person als privates Ich herzlich aufnimmt und bewirtet, den sie ohne zu fragen an der heimischen Gemeinschaft teilhaben lässt, lässt sie als öffentliches Ich anderntags in den Gulag deportieren.
Besonders eindrücklich hat diese Form von Soziopathie Nikita Michalkow in seinem Film Die von der Sonne Ermüdeten (dt. „Die Sonne, die uns täuscht“, 1994) in der Gestalt des Geheimdienstmitarbeiters Dimitrij „Mitja“ Arsentjew vor Augen geführt. Diesen lernen die Zuschauer zunächst von seiner menschlich-privaten Seite kennen, als Teil der Hausgemeinschaft des hochrangigen Militärangehörigen Sergej Kotow. Dessen Frau war früher allerdings auch von dem Gast des Hauses umworben worden. Als Rache für den verlorenen Konkurrenzkampf, der ihn vorübergehend ins Ausland getrieben hat, plant er deshalb von Anfang an die Denunziation und schließliche Erschießung Kotows als Volksfeind. Erdrückt von der Last seiner inneren Zerrissenheit, nimmt er sich am Ende selbst das Leben.

Hörtipp

Den vollständigen Liedtext von Tsojs Veränderungshymne gibt es auf Literaturplanet, verbunden mit einer kurzen Einführung in die Geschichte des Songs, die Biographie des Sängers – und natürlich mit Links zu verschiedenen Fassungen des Songs!

Viktor Tsoj mit der Band Kino: Pjerjemjen! (Veränderungen!).

Am kommenden Sonntag heißt es im abschließenden Beitrag dieser Reihe: Sack zusammenbinden, Fäden zusammenführen!

Bild: W. M. Menschikow: Oblomow, Buchcover um 1900

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diesen spannenden Artikel. Für diese „Spaltung“ in Veränderungswille und Fatalismus/Opportunismus sind wir alle mehr oder weniger anfällig. Die Frage ist nur, wann unser moralische Empfinden eine rote Linie vorgibt. Wir müssen uns immer auch misstrauen. Der Held in Michalkows Film kennt keine Selbstreflexion. Als ihm seine Handlungsweisen bewusst werden, kann er mit seiner Schuld nicht weiterleben. Ich fand den Film sehr aufwühlend. Danke auch für den tollen Musiktipp mit Übersetzung!

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