Revolution und Resignation

Der lange Weg zum Barrikadenbau in Russland

Die vom Kreml verkündete Teilmobilmachung macht auch in Russland unübersehbar deutlich, dass das ganze Land für einen schmutzigen Krieg in Geiselhaft genommen wird. Ob das zu einem Sturz des Regimes führen kann, ist jedoch fraglich.

Das Wunder der Oktoberrevolution

In den 1990er Jahren, als für kurze Zeit die Fenster Russlands weit offen standen und ein fruchtbarer gegenseitiger Austausch zwischen Ost und West möglich war, habe ich oft nächtelange Gespräche mit einem russischen Bekannten geführt. Igor Alexandrowitsch war zwar von Beruf Physikprofessor – im Herzen aber war er, wie so viele Russen, Philosoph.

Dies galt erst recht, wenn sich nach dem x-ten abendlichen Gläschen die Zunge lockerte. Dabei tranken wir übrigens – Achtung, Klischee! – nicht Wodka, sondern Cognac. Igor Alexandrowitsch liebte den samtigen georgischen Weinbrand, den es damals, vor dem Zerwürfnis mit dem kaukasischen Nachbarn, noch überall zu kaufen gab.

Bei einem unserer feucht-fröhlichen Symposien sagte Igor Alexandrowitsch einmal – ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass – zu mir: „Weißt du, was ich nicht verstehe? Wie es in Russland eine Revolution geben konnte! So etwas passt doch gar nicht zu uns! Den Leuten muss es damals schon sehr dreckig gegangen sein, dass sie sich auf ein so ungemütliches Abenteuer eingelassen haben!“

Hürden für den Barrikadenbau

In der Tat ist die russische „Oblmowschtschina“ sprichwörtlich – diese leicht melancholische Trägheit, die jedem aktiven Eingreifen in den Gang der Dinge mit einer resignativen Skepsis begegnet. Heute wird diese Skepsis noch durch einen extrem repressiven Machtapparat bestärkt, der überall unsichtbare Ohren und Augen hat und auf jedes der Staatsdoktrin widersprechende Wort mit einer Einladung in eines der gar nicht gemütlichen russischen Straflager reagiert.

Für den Barrikadenbau müsste es den Menschen unter solchen Umständen – um es mit den Worten Igor Alexandrowitschs zu sagen – schon „sehr dreckig gehen“. Schließlich erscheint angesichts der engmaschigen staatlichen Kontrolle über Fernsehen, Internet und soziale Medien eine organisierte Revolution kaum möglich. Denkbar ist allenfalls ein spontaner Volksaufstand.

Ansätze dazu sind derzeit aufgrund der vom Kreml angekündigten Teilmobilmachung überall im Land zu sehen. Allerdings sollte man sich über das Ausmaß dieser Mini-Aufstände nicht täuschen: Es sind noch immer einzelne kleine Brandherde. Von einem echten Revolutionsfeuer sind wir noch immer weit entfernt.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Gewaltorgane des russischen Staates – Polizei, Geheimdienste, Armee, Nationalgarde … – durch eine verstärkte Indoktrinierung und besondere Privilegien auf eine besondere Loyalität gegenüber dem Regime eingeschworen sind. Zu den Privilegien zählen dabei nicht nur eine überdurchschnittliche Bezahlung und soziale Absicherung, sondern – zumindest in den höheren Rängen – auch die Möglichkeit diverser Geschäfte im Graubereich zwischen Korruption und Insiderwissen.

Daraus entsteht ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten, das auch einen Staatsstreich aus dem Inneren des Machtapparats heraus unwahrscheinlich macht – zumindest, solange westliche Sanktionen und ein mögliches desaströses Ende des Angriffs auf die Ukraine die eigene privilegierte Stellung nicht in Frage stellen.

Das zweischneidige Schwert der Teilmobilmachung

Aus diesem Grund hat der Kreml auf die Misserfolge in der Ukraine nun auch mit einer Teilmobilmachung reagiert. Diese ist jedoch eben deshalb so lange hinausgezögert worden, weil sie eine zweischneidige Angelegenheit ist. Sie kann zwar – zumindest vorübergehend – die zunehmende Unzufriedenheit im Inneren des Machtapparats dämpfen. Sie hat aber andererseits zur Folge, dass größere Teile der Bevölkerung als bisher direkt vom Krieg betroffen sind.

Dass der Krieg bislang weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit geführt bzw. als eine Art erweitertes Militärmanöver verkauft werden konnte, liegt auch an der ungeheuren Ausdehnung Russlands. Der Großteil der Menschen lebt eben weitab von den Entscheidungszentren des Landes, unberührt von den dortigen Ränkespielen. Den Staat nimmt man dort in der Regel nur wie einen übellaunigen Gutsbesitzer wahr, der von dem mühsam Erarbeiteten seinen Anteil einfordert.

Diejenigen, die sich in den einzelnen Regionen in der Opposition engagieren, haben alle Hände voll damit zu tun, die lokalen Auswirkungen der Kreml-Kleptokratie einzudämmen. Die meisten aber haben bislang einfach die Tür hinter sich zugemacht. Was im fernen Moskau vor sich geht, wollen sie gar nicht wissen. Politik ist schmutzig – diese Überzeugung ist in Russland noch weiter verbreitet als anderswo.

Eben dieses Wegschauen hat wiederum die unterschwellige Beeinflussung im Sinne der Staatsführung erleichtert. Dies wird sich aber ändern, wenn der Anteil der jungen Männer aus der Provinz, die von Putins Kriegsmaschinerie zerrieben werden, eine kritische Schwelle überschreitet – wenn der Tod der eigenen Söhne auf dem Altar eines wahnhaften Vernichtungsfeldzugs deutlich macht, dass dieser eben sehr wohl jede einzelne Familie im Land unmittelbar betrifft.

Weitere Beiträge zum Thema (mit weiterführenden Links)

Zur Förderung von Gewaltbereitschaft im System Putin:

Der Große Vaterländische Blutrausch. Die russische Gesellschaft unter Putin und die Gewaltexzesse in der Ukraine.

Zum Nebeneinander von Gewalt und Mitgefühl in Russland:

Putin und Stalin versus Achmatowa und Dostojewski: Was ist die russische Seele? In: Anna Achmatowa und die russische Seele. Gedichte gegen den Terror, S. 18 – 23.

Zur Oblomowschtschina:

Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit. Über paradoxe Koinzidenzen in Russland und den USA, Kapitel 5 (Melancholie auf Russisch: Zu Iwan Gontscharows Roman Oblomow) und 6 (Das süße Gift der Oblomowschtschina: Wenn aus Fatalismus Opportunismus wird).

Zur musikalischen Gegenkultur in Russland:

Putinistan und Russkij-Rockistan. Zur Kontinuität der musikalisischen Gegenkultur in Russland.

Der Krieg als Verrat am Selbst. Anti-Kriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik.

Bild: Semjon Nikiforov (1877 – 1912): Morgens auf den Barrikaden (um 1905); Wikimedia commons

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