Frankreich: Die Keimzelle einer neuen Form von Demokratie

Hoffnungsvoller Jahresausblick, Teil 4

Die Krise der Demokratie lässt sich am besten mit einer stärkeren Einbeziehung des Volkes in die politischen Entscheidungsprozesse überwinden. In Frankreich sind dafür vielversprechende Modelle entwickelt worden.

Was „Demokratie“ bedeutet, haben wir alle in der Schule gelernt: Alle Macht geht vom Volke aus. Damit die schöne Theorie auch in der Praxis funktioniert, müssen allerdings zumindest zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss das Volk überhaupt Macht ausüben wollen. Und zweitens muss es das Gefühl haben, mit seiner Stimme auch etwas bewegen zu können.
Beide Aspekte hängen unmittelbar miteinander zusammen. Wenn das Volk den Eindruck hat, dass seine Stimme nicht gehört wird, wird es diese auch nicht erheben.

„Alle Macht geht vom Volke aus!“ – Wirklich?

Exakt diese Situation haben wir derzeit in unseren westlichen repräsentativen Demokratien. Die politische Elite bildet hier einen so erratischen Block, dass man fast schon von einer Aristokratie der politischen Kaste sprechen könnte. Deren primäres Ziel ist nicht die Gestaltung des Gemeinwesens, sondern der Machterhalt.
Dass dies zu Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz führt, ist nicht erstaunlich. Verwunderlich ist eher, dass sich darüber überhaupt noch jemand wundert.

Die Bastille – ein Symbol rücksichtsloser Herrschaft

Wenn die Demokratie sich selbst abschafft

Als Ausweg aus der Abwendung des Volkes von der (theoretischen) Volksherrschaft sind in letzter Zeit vermehrt Modelle direkter Demokratie diskutiert und teilweise auch praktiziert worden. Das Problem ist nur: Wenn ein Volk, anders als das der Schweiz, hieran nicht gewöhnt ist, besteht immer die Gefahr der Ausnutzung von Plebisziten durch skrupellose Populisten. Diese nutzen die Abstimmungen als Ventil für die allgemeine Anti-Stimmung, an deren Spitze sie sich selbst setzen. Einmal an der Macht, schränken sie die Demokratie dann aber noch stärker ein, als dies zuvor der Fall war.
Wenn man verhindern möchte, dass über die plebiszitäre Demokratie in letzter Konsequenz die Demokratie abgeschafft wird, bietet sich ein Mittelweg an. Dieser lautet: partizipative Demokratie. Gemeint ist damit, dass Bürger, zunächst auf kommunaler Ebene, ganz konkret in die alltäglichen Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Eine Frischzellenkur für die Demokratie

Auch hiermit wird man nicht jeden erreichen. Dies ist allerdings auch gar nicht nötig. Es reicht aus, dass alle das Gefühl haben, mitentscheiden und mitgestalten zu dürfen, wo sie dies wünschen. In der Praxis werden dann Einzelne jeweils dort ihre Kompetenzen einbringen, wo sie über die entsprechenden Erfahrungen und Interessen verfügen. Das kommt am Ende allen zugute.
Die Übertragung einer solchen direkten Bürgerbeteiligung auf die nationale Ebene erscheint nur auf den ersten Blick schwierig. Schließlich müsste man dafür nur die Anhörungen aufwerten, die es schon jetzt im Parlament gibt. Die darin involvierten Interessengruppen und Verbände könnten etwa stärker in die Arbeit der maßgeblichen Ausschüsse eingebunden werden, bis hin zur Verleihung formaler Stimmrechte.
Undemokratisch wäre das übrigens nicht. Schließlich werden die Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft in aller Regel gewählt – und die Mitgliedschaft darin steht bekanntlich allen offen.

Maison de la Citoyenneté in Kingersheim

Das Beispiel Kingersheim

In Frankreich ist man bei der Entwicklung von Formen partizipativer Demokratie deutlich weiter als in Deutschland. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Verwirklichung von Bürgerbeteiligung ist die elsässische Kleinstadt Kingersheim.
In der bei Mulhouse gelegenen Stadt hat Bürgermeister Joseph „Jo“ Spiegel zusammen mit den Bürgern ein wegweisendes Modell demokratischer Mitbestimmung entwickelt. Alle grundsätzlichen Fragen werden hier im „Maison de la Citoyenneté“ (Bürgerschaftshaus) mit allen Interessierten besprochen. Bei Bedarf wird anschließend ein so genannter „Partizipativer Rat“ eingerichtet, in dem gewählte Gemeindevertreter zusammen mit Fachleuten und einzelnen Gemeindemitgliedern konkrete Vorschläge erarbeiten. Diese werden dann im Gemeinderat abschließend diskutiert und verabschiedet.

Wenn alle am Haus der Demokratie mitbauen

Spiegel hat sein Modell demokratischer Mitbestimmung auf der Grundlage seines Ideals einer „démocratie constructionne“ entwickelt. Der Begriff trägt seiner Überzeugung Rechnung, dass Demokratie zunächst einmal eine bestimmte Geisteshaltung voraussetzt, den Willen, mit anderen gemeinsam Dinge zu diskutieren, zu entwickeln und zu gestalten. Gelebte Demokratie ist damit niemals ein fertiges Produkt, sondern etwas, das in stetigem Werden begriffen ist, etwas, das jeden Tag neu durch die gelebte Wirklichkeit in einer Gemeinschaft entsteht.

Alle bauen mit

Gelebte Demokratie als Gegengift gegen Rechtspopulismus

Spiegels erfolgreiche Umsetzung seiner basisdemokratischen Ideale ist umso bemerkenswerter, als das Elsass insgesamt eine Hochburg des rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Rassemblement National (früher Front National) um Marine Le Pen ist. Dies zeigt überdeutlich, dass man dem Rechtspopulismus das Wasser abgraben kann, wenn ihm das Feindbild genommen wird. Wenn die Menschen ihr Umfeld vor Ort selbst mitgestalten können, entfällt auch das Gefühl ohnmächtiger Wut auf „die da oben“ – und damit auch ein entscheidendes Element des Nährbodens, auf dem der Rechtspopulismus gedeiht. Freilich darf es dabei nicht bei dem Gefühl bleiben, gehört zu werden. Mitbestimmung und Mitgestaltungsmöglichkeiten müssen vielmehr ganz konkret erfahrbar sein.

Mehr zum Thema:

Joseph Spiegel im Gespräch mit Michael Magercord: „Man muss über eine neue Beziehung zur Macht nachdenken“. Deutschlandfunk (Essay und Diskurs), 21. Oktober 2018.

Bilder: Pline: Place de la Réunion in Mulhouse, 2012 (Wikimedia); Friedrich Polack (1834-1915): Bastille before destruction (Wikimedia); Klingersheim: Maison de la Citoyenneté; Petit Jack: „Strange“, buntes Haus (Pixabay)

Ein Kommentar

  1. Das ist sehr interessant. Vor allem den Gedanken zu den Schwächen westlicher Demokratien kann ich sehr zustimmen. Die Coronakrise hat gezeigt, wie sehr sich Macht verselbstständigt hat. Das so genannte Corona-Kabinett konnte bei seinen Entscheidungen sogar auf das Parlament verzichten. Das so genannte „Investitionsbeschleunigungsgesetz“ ist in Wahrheit ein „Mitbestimmungsbeerdigungsgesetz“. „Die da oben“ wissen, was gut und richtig ist und lassen sich ungern von kritischen Bürgern stören. Den Titel „mündig“ bekommt man, wenn man ihnen zustimmt. Diskurse? Unerwünscht! Aber das fällt kaum jemandem auf, weil – wie sie richtig schreiben – viele BürgerInnen gar nicht mitentscheiden möchten, sondern lieber mitlaufen oder schimpfen. Umso ermutigender ist dieses Beispiel aus Kingenheim!

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