Ein psychoanalytischer Blick auf die Corona-Krise

Zur Hochkonjunktur analer Charakterzüge

Schon zu Beginn der Corona-Krise müffelte es bei der plötzlichen Sammelleidenschaft für Klopapier verdächtig nach Anallust. Diese begleitet uns auch jetzt noch durch die Krise, wenn auch in weniger offensichtlicher Weise: Auch Regulierungswut und musterschülerhafte Regeltreue können Ausprägungen von Anallust sein.

Die Bedeutung der analen Phase in der kindlichen Sexualentwicklung

Primäre Anallust

Sekundäre Anallust

Konformismus

Regulierungswut

Gekränkte Allmächtige: Politik in Pandemie-Zeiten

Regulierungswut als Folge des Kontrollverlusts

Die Reißbrettrealität aus dem Regierungsraumschiff

Die Alternative: Die Entdeckung der Realität und des Dialogs

Literatur

Als ich in der ersten Phase der Pandemie noch einmal die freudianischen Studien zum analen Charakter und die damit eng zusammenhängenden psychoanalytischen Autoritarismus-Theorien reanimiert habe, geschah dies vor dem Hintergrund der plötzlich ausgebrochenen Klopapier-Sammelleidenschaft. Es war mehr ein Impuls, einer realen Hysterie mit wissenschaftlich begründeter Ironie zu begegnen.
Mittlerweile denke ich allerdings, dass manche Befunde der Forschungen zum analen Charakter auch zur Analyse der Corona-Politik herangezogen werden können. Im Folgenden fasse ich daher zunächst noch einmal kurz die theoretischen Grundlagen zusammen (ausführliche Herleitung in Kot und Corona). Darauf folgen dann (ab dem Punkt Gekränkte Allmächtige) konkrete Überlegungen zu einer möglichen Anwendung der Theorie auf die Praxis der gegenwärtigen Corona-Politik.

Die Bedeutung der analen Phase in der kindlichen Sexualentwicklung

Bekanntlich geht Freud davon aus, dass sich die kindliche Sexualentwicklung in fünf Phasen vollzieht (vgl. Freud 1905). Diese unterscheiden sich jeweils danach, auf welche Objekte sich die von Freud als „Libido“ bezeichnete Triebenergie richtet. Die endgültige Ausrichtung auf den Genitalbereich erfolgt dabei erst ab der Pubertät. Am Anfang unserer Sexualentwicklung stehen die orale Phase, die von Nuckeln an Brustwarze, Schnuller und Milchfläschchen bestimmt ist, und die auf sie folgende anale Phase.
In der von Freud für das zweite und dritte Lebensjahr postulierten analen Phase verschiebt sich das Lustempfinden auf die Analregion. Lust wird nun aus den Ausscheidungsvorgängen selbst oder auch aus dem Zurückhalten des Kots gewonnen.
Kommt es in den frühen Phasen der kindlichen Sexualentwicklung zu Störungen, so kann sich dies in charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar machen. Bleibt die Libido ganz oder teilweise einer frühen Phase der Sexualentwicklung verhaftet, so geht dies nicht unbedingt mit der Bevorzugung gewisser Sexualpraktiken einher. Die Hauptproblematik ergibt sich vielmehr gerade daraus, dass im Zuge von familiärer und gesellschaftlicher Sozialisation der Bezug zur ursprünglichen Lustquelle verloren geht. Dies gilt auch für die anale Phase.

Primäre Anallust

Der zentrale Gefühlskomplex, der aus einer fortgesetzten Beeinflussung durch die anale Phase der Lustgewinnung resultiert, ist der eines Eindrucks von „Allmacht“ und „Einzigartigkeit“ (Abraham 1923: 31; vgl. Jones 1918). Grundlage ist hier das Gefühl des Kleinkinds, über seinen Exkretionsvorgang aus eigener Kraft etwas „erschaffen“ zu können.
Primäre Einflussfaktoren ergeben sich darüber hinaus auch aus der Lust, die aus dem Zurückhalten des Kots gewonnen werden kann. Hieraus wird im späteren Leben eine allgemeine Lust am „Haben“, also am Besitz im weitesten Sinne des Wortes sowie an dessen „Festhalten“ (Abraham 1923: 38). So ist Geiz eine typische Charaktereigenschaft eines Menschen, dessen Libido der analen Phase verhaftet geblieben ist (vgl. Ferenczi 1914).

Sekundäre Anallust

Außer von der Lust an den Ausscheidungsvorgängen selbst können sich Elemente des analen Charakters auch aus einer Überidentifikation mit der Reinlichkeitserziehung entwickeln. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Letztere zu abrupt oder zu rigide erfolgt. Die erzwungene Abkehr von der ursprünglichen Lustquelle führt dann, auf dem Wege der Verschiebung, zu einer paradoxen Ausrichtung der Libido auf das, was den primären Lustgewinn verhindern sollte.
Das Gefühl der Selbstgefälligkeit kann sich auch in diesem Fall einstellen. Es resultiert dann jedoch nicht aus dem Eindruck, selbst etwas „erschaffen“ zu können, sondern bezieht sich, als eine Art Musterschüler-Syndrom, auf das Lob anderer für das eigene, stets um Regeltreue bemühte Verhalten (vgl. Abraham 1923: 30).

Konformismus

Der zentrale Charakterzug, der sich hieraus ergibt, ist eine übertriebene Orientierung an der Meinung anderer. Dies kann bedeuten, dass die Betreffenden es immer „allen recht machen“ wollen, aber auch, dass sie sich grundsätzlich Mehrheitsmeinungen anschließen und Autoritäten nicht in Frage stellen.
Natürlich neigen Personen, die von einer sekundären Anallust geprägt sind, auch zu einer zwanghaft ausgelebten Sauberkeit. Die Reinlichkeitsdressur der Kindheit geht hier in einen „Reinlichkeitsfimmel“ über.
Das Sauberkeitsbedürfnis kann sich jedoch auch im übertragenen Sinne äußern. Es führt dann zu einer an Pedanterie grenzenden Ordnungsliebe und zu einer allgemeinen Rubrizierungs- und Klassifizierungssucht. Charakteristisch ist dabei, „daß die Vorlust am Ausarbeiten eines Planes stärker hervortritt als die Befriedigung an seiner Ausführung“, so dass es zu dieser oft gar nicht mehr kommt (ebd.: 44). Die immer neue Einteilung und Untergliederung der Dinge erfolgt also nur, um einer generalisierten Regulierungswut Genüge zu tun, nicht aber, um damit ein planvolleres Handeln oder besseres Verstehen der Welt zu ermöglichen.

Regulierungswut

Wie bei einem von primärer Anallust geprägten Charakter können sich auch auf dem Wege der sekundären Anallust diktatorische Persönlichkeitsmerkmale herausbilden. Diese beruhen dabei allerdings nicht auf den Allmachtgefühlen, die das Kind aus seinem „Schöpfertum“ ableitet. Sie ergeben sich vielmehr aus dem Bedürfnis, die gesamte Umwelt in derselben Weise unter Kontrolle zu halten wie das eigene Leben (vgl. ebd.: 33).
In milderen Fällen resultiert hieraus schlicht das Bedürfnis nach sauberen und geordneten Verhältnissen. Sind die entsprechenden Charakterzüge stärker ausgeprägt, so führen sie jedoch zu einer ausgesprochenen Kontroll- und Herrschsucht. Die Betreffenden neigen dazu, ein in seiner Detailversessenheit oft absurdes Regelwerk aufzustellen, dessen lückenlose Befolgung sie penibel überwachen.
Das Trauma der frühkindlichen Reinlichkeitsdressur wird hier demnach dadurch zu verarbeiten versucht, dass wieder und wieder die Rolle des Reinlichkeitsdompteurs übernommen wird. Da eine solche Überidentifikation mit dem Angstobjekt sich unbewusst vollzieht, kann die Reinszenierung des Traumas freilich nie zu dessen Bewältigung führen. Sie verstärkt vielmehr den Zwang, dieses wieder und wieder zu durchleben – mit der Folge, dass die Betreffenden immer verbissener an ihrer selbst gesetzten Ordnung festhalten und Verstöße gegen sie immer unerbittlicher ahnden.

Gekränkte Allmächtige: Politik in Pandemie-Zeiten

Maskenpflicht, Präsenzpflicht, Beherbergungsverbot, Aufenthaltsverbot – die deutsche Corona-Politik ist ein einziger Dschungel von Verhaltensgeboten und -verboten. Jeden Tag beglückt irgendein Westentaschenpotentat das Volk mit einer neuen goldenen Corona-Regel, die er dann auch gleich zu einer Art elftem Gebot erklärt. Wer dagegen verstößt, wird mit der Strafgebührenpeitsche bedroht.
Was wir hier erleben, ist die Handlungsweise von Menschen, die den Kontrollverlust durch die Pandemie als persönliche Kränkung erleben – weil die Krise ihnen unübersehbar die Grenzen ihres Allmachtsanspruchs aufzeigt. Die Folge ist eine kompensatorische Regulierungswut. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, die Pandemie zu bekämpfen. Entscheidend ist bei all den Erlassen vielmehr das subjektive Gefühl, die Krise unter Kontrolle zu haben.
Die Vielzahl einander teilweise widersprechender Regeln bewirkt allerdings gerade das Gegenteil. Dies führt dann dazu, dass noch mehr Ge- und Verbotstafeln aufgestellt werden. Denn natürlich suchen die selbst ernannten Allmächtigen die Schuld für ihr Scheitern nicht bei sich selbst. Stattdessen wird unterstellt, dass die Regeln an sich ein geeignetes Bollwerk gegen die Pandemie darstellen, aber leider von dem ewig uneinsichtigen, ewig pubertierenden Volk nicht eingehalten würden. Die Folge: Die Strafgebührenpeitsche wird in noch bedrohlichere Schwingungen versetzt.

Regulierungswut als Folge des Kontrollverlusts

Die komplementäre Ergänzung zu einem solchen Autoritarismus ist der Konformismus. Er äußert sich in einer unhinterfragten Hinnahme der Corona-Regeln sowie – als vorauseilender Gehorsam – in der Propagierung der Regeln gegenüber anderen und in der Denunziation jener, die die Regeln nicht oder ungenügend befolgen.
Bei vielen anderen weckt die autoritäre Vorgehensweise aber auch einen ganz natürlichen Widerstandsgeist. Dieser richtet sich dann auch gegen jene Maßnahmen, die an sich sinnvoll sind. Das ist die logische Konsequenz einer Politik, die nicht auf die Einsicht der Menschen setzt, sondern die unwidersprochene Umsetzung aller angeordneten Maßnahmen einfordert.
Erschwerend kommt hinzu, dass der autoritäre Habitus der Politikerriege es auch unmöglich macht, die Maßnahmen jeweils situationsadäquat anzupassen. Dies aber erscheint schon deshalb notwendig, weil viele Corona-Regeln sich auf eine am Reißbrett entworfene Realität beziehen, die nichts mit dem tatsächlichen Alltag der Menschen zu tun hat.

Die Reißbrettrealität aus dem Regierungsraumschiff

Nehmen wir zum Beispiel die Maskenpflicht. Hier muss man den Damen und Herren aus dem Regierungsraumschiff immerhin zugutehalten, dass ihnen – wenn auch reichlich spät – gedämmert hat, dass Maske nicht gleich Maske ist. Nun soll es also eine „medizinische“ Maske sein, wenn möglich vom Typ FFP2. Wenn man schon auf Maskenzwang setzt, ist das fraglos konsequent.
Allerdings hebt die neue Vorschrift die Probleme, die schon für die Community-Masken galten, keineswegs auf. Auch FFP2-Masken entfalten ihre Schutzwirkung nur dann, wenn sie eng am Gesicht anliegen und regelmäßig gewechselt werden. Bei Durchfeuchtung bieten sie dagegen ein ideales Habitat für Viren und können die Ansteckungsgefahr dadurch sogar erhöhen.
Wie aber will man kontrollieren, wie lange und wie oft die einzelnen Masken getragen werden? Und was soll mit Bart- und Brillenträgern und Menschen mit extrem faltiger Haut geschehen, bei denen die Maske nicht eng genug anliegt? Werden jetzt auch noch Schönheitsoperationen angeordnet? Machen wir eine Zeitreise an den Anfang des 18. Jahrhunderts und führen, wie Zar Peter der Große, eine Bartsteuer ein? Oder werden Bartträger gleich ganz zu vorzivilisatorischen Wilden erklärt – und entsprechend verfolgt? Nehmen wir uns ein Beispiel am kambodschanischen Diktator Pol Pot und stellen alle Brillenträger unter den Generalverdacht der Staatszersetzung? Oder wird eine Kontaktlinsenpflicht eingeführt?

Die Alternative: Die Entdeckung der Realität und des Dialogs

Am Ende erscheint es da vielleicht doch sinnvoller, das bestehende Regelsystem zu optimieren. Dies würde beispielsweise bedeuten, dass nicht einfach eine Maskenpflicht angeordnet, sondern auch überlegt wird, wie diese sinnvoll umgesetzt werden kann.
Möglich wäre dies etwa dadurch, dass dem Einzelhandel Gelder für die Anschaffung hochwertiger Masken zur Verfügung gestellt werden. Diese könnten dann jeweils am Eingang zu den Märkten ausgegeben und am Ausgang entsorgt werden. Damit könnte nicht nur sichergestellt werden, dass die Masken nicht durch zu langen oder zu häufigen Gebrauch ihre Funktion verlieren. Es wäre auch gewährleistet, dass die Masken nicht als Corona-Minen auf der Straße verteilt werden.
Mit einer solchen Vorgehensweise würde sich nicht nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, mit den Maßnahmen das Bezweckte zu erreichen. Es wäre auch ein Signal einer veränderten Kommunikation, die nicht mehr auf An- und Unterordnung, sondern auf eine Kultur des Dialogs setzen würde. Anstatt als Zwang erlebt zu werden, würden die Maßnahmen eher als Hilfestellung wahrgenommen werden. Dadurch würden sie auch eher aktiv befolgt werden. Auch die Einsicht, dass der Maskenschutz ohne die Einhaltung der Abstandsregel seine Wirksamkeit einbüßt, könnte so eher im Bewusstsein verankert werden.
Leider legt die Pandemie hier aber – wie bei so vielem anderen – gnadenlos den Finger in die Wunde. Eine Kultur des Dialogs ist unserer Herrschaftselite mit ihren Allmachtsphantasien fremd. Dadurch ist in ihrer Regulierungswut auch kein Resetknopf oder wenigstens eine Korrekturtaste eingebaut. So sind wir dazu verdammt, am Gängelband eines absurden Regelwerks durch das Labyrinth der Pandemie zu irren. Ob wir so jemals den Ausgang finden werden, ist fraglich.

Literatur

Abraham, Karl: Ergänzungen zur Lehre vom Analcharakter. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse (IZP) 9 (1923), H. 1, S. 27 – 47.

Ferenczi, Sándor: Zur Ontogenese des Geldinteresses (1914). In: Ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1. Theorie (1927), S. 109 – 119. Bern 1964: Huber.

Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Gesammelte Werke, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte herausgegeben von Anna Freud, Edward Bibring, Willi Hoffer, Ernst Kris und Otto Isakower, Bd. 5, S. 27 – 145. Frankfurt/Main 1942: Fischer.

Ders.: Charakter und Analerotik (1908). In: Ebd., Bd. 7 (1941), , S. 203 – 209.

Jones, Ernest: Anal-Erotic Character Traits. In: Journal of Abnormal Psychology 13 (1918), S. 261 – 284.

Sadger, Isidor: Analerotik und Analcharakter. In: Die Heilkunde 14 (1910), S. 43 – 46.

Bild: Caro Sodar: Statue (Pixabay)

4 Kommentare

  1. Das Thema hat mich auch schon beschäftigt, zusammen mit der Frage, ob der Analcharakter, der als Ergebnis früherer deutscher Erziehungsmaximen sehr verbreitet war, immer noch vorherrscht. Offenbar gibt es eine Aufweichung, denn es gibt ja trotz allem viele, die heute den „Kadavergehorsam“ verweigern. Die lassen sich dann wohl anderen pychoanalytischen Rubriken zuordnen. So gibt es die, die in ungebrochener Allmachtsphantasie der Säuglingsphase ihrem „Lustprinzip“ folgen wollen, andere, die „grundsätzlich dagegen“ sind, schließlich aber auch die, die eine ausreichend große Ich-Stärke ausgebildet haben, um reife Dialoge zu führen, in denen Tatsachen anerkannt und Probleme gelöst werden können. Diese letzte Sorte scheint, wenn ich die große Zahl ernst zu nehmender Kritiker der Maßnahmen anschaue, im Wachsen begriffen zu sein.

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    1. Gerne möchte ich dieser Einschätzung zustimmen. Aber dass da vieles im Fluss ist, trifft eher auf die Bevölkerung und ihre wachsende Diversität zu. Was das Regierungshandeln anbelangt, da überzeugen mich die Abschnitte „Regulierungswut …“ und „Reißbrettrealität“. Das Problem ist hier gut beschrieben: Das alles geschieht unbewusst, ist also mit Argumenten schwer umzustoßen. Selbstreflektion ist nun aber gerade PolitikerInnen ganz fremd. Sie leben von Macht und von einer Legislaturperiode zur nächsten.

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