Ein himmlisches Interview mit Sigmund Freud über psychische Auswirkungen der Corona-Krise
Als Ergänzung zum Beitrag über die Hochkonjunktur analer Charakterzüge in der Corona-Krise gibt es hier noch einmal das „himmlische“ Interview mit Sigmund Freud. Bei der dabei verwendeten Technik des Sky-Skypens handelt es sich um eine absolute Weltneuheit. Schon allein deshalb erscheint es dringend geboten, das Interview noch einmal in ungekürzter Form zu dokumentieren.
Kontaktaufnahme mit Siggie
Seit der Corona-Krise ist nichts mehr, wie es war. Was gestern undenkbar erschien, gilt heute als normal. Und was früher normal war, ist heute undenkbar.
Wenn aber das Anormale zur Norm wird, wenn also die Welt auf dem Kopf steht, wird auch unser Inneres umgestülpt. Unser ganzes Leben gleicht auf einmal dem von Traumwandlern. So gedeihen allenthalben die Pflanzen des Irrationalen. (Alp-)Traum und Wirklichkeit gehen immer mehr ineinander über.
Vielleicht, habe ich mir gedacht, wäre es daher keine schlechte Idee, Sigmund Freud, den guten alten Meister der Psychoanalyse einmal zu unserer Situation zu befragen. Also habe ich beschlossen, ihn per Sky-Skyping zu kontaktieren.
Als es mir endlich gelungen war, über die Himmelsleitungen – die noch gestörter sind als unsere chronisch überlasteten irdischen Leitungen – einen Draht zu Freud zu finden, lag er ganz entspannt auf einem Sofa. Übrigens handelte es sich dabei keineswegs um die berühmt-berüchtigte Analyse-Couch, sondern um ein rotes Plüsch-Sofa, das von einer schaumwellenweichen Wolke geschaukelt wurde.
Die Engelshaar-Massage
Freud räkelte sich in fast schon unanständiger Weise auf seinen Kissen. Er schien überhaupt viel relaxter zu sein als früher. Sein weißer Bart war voller und nicht mehr so akkurat gestutzt wie früher, und statt eines Jacketts trug er eine Weste aus Wolkenflaum.
„Verehrter Herr Dr. Freud“, begann ich, „ich hätte da ein paar Fragen wegen …“
„Du kannst ruhig ‚Siggie‘ zu mir sagen“, unterbrach er mich. „Das machen hier ja alle.“
„Gut“, stotterte ich, verunsichert über die himmlische Nähe des Unnahbaren. „Also, Siggie, wegen des analen Charakters: Ich wollte fragen, ob Sie … ob du mir da vielleicht mit einer kleinen Diagnose aushelfen könntest.“
Freud richtete sich halb auf. „Du hast also Bock auf ’ne Trauma-Therapie?“
„Nein“, wehrte ich ab. „Es ging mir eher um die allgemeine Situation bei uns hier unten. Für eine echte Therapie fehlt da wohl die Zeit.“
Freud schmunzelte vielsagend. Ich meinte fast, ihn das Wort „Schisser“ sagen zu hören – aber da musste ich mich wohl verhört haben. „Ist ja auch besser so“, bekundete er. „In Kürze beginnt meine Engelshaar-Massage. Die möchte ich auf keinen Fall versäumen.“
Er zog ein Pfeifchen aus einer seiner Taschen und zündet es sich an. War das etwa …? Aber nein, das war ganz undenkbar! Es musste sich wohl eher um eine Art himmlische Friedenspfeife handeln.
„Weißt du was?“ schlug er mir, genüsslich paffend, vor. „Lies doch erst mal nach, was ich und meine Jünger damals so gelabert haben. Dann sind wir nachher schneller fertig, und ich kann mich ganz meinen Engelein widmen.“
Lüstern grinsend wandte er sich von mir ab, ohne meine Antwort abzuwarten. Was blieb mir da anderes übrig – ich musste wohl oder übel erst mal in den Bücherschrank greifen!
Audienz beim Meister
Als ich ihn danach erneut anskypte und ihm von den Dialogen berichtete, die ich im Geiste mit ihm und seinen Jüngern geführt hatte, hatte er es sich gerade wieder auf seinem Plüsch-Sofa bequem gemacht.
„So schlaue Sachen habe ich damals von mir gegeben?“ feixte er. „Gar nicht so blöd, der alte Siggie, was?“
„Das … das denke ich aber auch“, entgegnete ich, verunsichert über den plötzlichen Anflug von Selbstironie, den ich von Freud nicht erwartet hätte. „Deshalb wüsste ich auch gerne, wie Sie, ähm, wie du diese Gedanken auf unsere Situation beziehen würdest.“
„Dann seid ihr also immer noch so autoritätsgläubig da unten?“ fragte Freud spöttisch.
„Nein, das heißt, ich dachte ja nur“, stotterte ich, „weil du doch versprochen hattest, mir …“
„Schon gut“, unterbrach mich Freud. „War ja nur ein Scherz. Du sollst deine Erleuchtung erhalten.“
Siggies Kurzdiagnose
Er lehnte sich in seinem Sofa zurück und zündete sich wieder sein Pfeifchen an. Die Augen in die Tiefen des Himmels gerichtet, redete er dann einfach ins Blaue hinein: „Also dann – hier meine Kurzdiagnose für die Eiligen und Ungeduldigen: Zunächst einmal scheint die Krise bei euch eine plötzliche Lust am Horten ausgelöst zu haben. Meiner bescheidenen Auffassung nach verbirgt sich dahinter eine regressive Reaktion auf die psychische Überforderung durch eine Jahrhundertkrise. Der Versuch, sich an irgendetwas festzuhalten, trifft auf die frühkindliche Anallust, etwas zurückzuhalten, sich etwas für später aufzusparen. Dies bezieht sich übrigens ganz allgemein auf das Horten von Dingen, und nicht nur auf eure anfängliche Gier nach Klopapier – auch wenn hier die Zusammenhänge natürlich besonders augenfällig sind.“
Damit verstummte Freud. Den Blick starr in die kosmische Unendlichkeit gerichtet, scherte er sich nicht weiter um mich. Sollte das etwa schon alles sein? Aber nein, er hatte nur einem Sternschnuppenschwarm zugeschaut, der gerade am Himmelszelt vorbeihuschte. War es denkbar, dass er sich etwas gewünscht hatte? War er am Ende doch nicht wunschlos glücklich auf seinem Plüschsofa?
„Darüber hinaus lässt sich konstatieren“, dozierte er weiter, „dass sich in der Krise bestimmte ohnehin bei euch zu beobachtende anale Charaktereigenschaften verstärkt bemerkbar machen. Dazu zählt etwa eure – sorry – penetrante Regelverliebtheit. Wenn ich recht sehe, habt ihr in eurer Krise ein ganzes Flickwerk unterschiedlicher Regeln aufgestellt, die sich teilweise auch noch gegenseitig widersprechen. Anstatt das zu ändern und zu einheitlichen, in sich logischen Regeln für den Umgang mit der Krise zu finden, versucht ihr euren Gegner durch eine besondere Regeltreue zu beeindrucken. Als würde es sich dabei um eine Art unsichtbaren Papa handeln, der euch mit seinen Schlägen verschont, wenn ihr besonders brav seid.“
Wolkige Warnungen
Bums! Das hatte gesessen. Ob ich vielleicht doch besser die Trauma-Therapie gewählt hätte?
Freud versenkte sich derweil weiter in den vorüberzuckenden Sternenstaub. Fast schien es, als sähe er in den Tiefen des Alls einen Spiegel für die Untiefen der Seele, als würde er in den Sternen-Hieroglyphen Antworten auf Fragen finden, die selbst ein Meister Siggie auf Erden nicht hatte klären können.
„Wenn das alles einmal vorbei ist“, raunte er schließlich, „rate ich euch dringend: Hört endlich mit diesen kindischen Versuchen auf, das Leben mit immer neuen magischen Berechnungen von euch fernzuhalten!“
Typisch Freud, dachte ich. Er war eben noch nie ein Freund der empirischen Wissenschaft gewesen. Sollte er am Ende doch noch einen geheimen Groll gegenüber seinen Kritikern hegen, die ihm eben dies stets vorgeworfen hatten? Kannte selbst dieser unerschrockene Reisende durch das Land der Seele das Ressentiment? Oder wehrte ich mit diesen Gedanken nur das ab, was Freud mir in mein Seelen-Stammbuch schrieb?
„Es geht hier nicht um statistische Analysemethoden zum Zweck der Forschung“, präzisierte Freud, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Problematisch wird es für euch immer dort, wo aus der zweckmäßigen Berechnung ein Zweck an sich wird. Dort, wo aus der Berechnung Kontroll-Lust wird und aus der Kontroll-Lust Kontroll-Wahn. Wo ihr hinter all euren schönen Diagrammen und Kurven, dem immer neuen Klassifizieren und Dokumentieren und Protokollieren, den Menschen nicht mehr seht.“
Himmlische Freiheiten
An diesem Punkt begann meine Sky-Skype-Leitung zu Freud brüchig zu werden. Immer mehr verschwamm seine Wolke vor meinen Augen, seine Worte drangen nur noch wie aus weiter Ferne an mein Ohr. „Eine Tabelle duldet keinen Widerspruch“, hörte ich ihn noch sagen. „Eine Tabelle hat immer Recht. Aber wer hat denn die Tabelle gemacht? Auf welcher Grundlage? Zu welchem Zweck? Wenn ihr diese Fragen nicht stellt, ist euer Glaube an die Aussagekraft von Tabellen nur ein Ausdruck eurer Autoritätsgläubigkeit. So trifft hier Kontroll-Lust auf Unterwerfungslust – was beides nicht gerade von einer Überwindung der analen Phase zeugt.“
Es hätte noch so vieles gegeben, was ich Freud hätte fragen wollen. Aber auf einmal war nichts mehr von ihm zu sehen.
So plötzlich, wie das Sky-Skypen begonnen hatte, war es auch wieder vorbei. An der Stelle, wo eben noch King Siggie auf seinem Plüschsofa gethront hatte, war jetzt nur noch ein blaues Loch im Himmel zu sehen. War der Meister etwa schon wieder zu einer Engelshaar-Massage davongeschwebt?
Der Glückliche! dachte ich unwillkürlich. Aber es sei ihm gegönnt. Wer sich dem Irrgarten der irdischen Lüste entwunden hat, darf eben die himmlischen Wonnen ganz ungetrübt genießen. Im Himmel gibt es kein Daumenlutschen und keine Analerotik – und wenn doch, dann ist zumindest niemand da, der einem die Lust daran vermiest.
Bild: Collage unter Verwendung des Fotos „Landscape“ von Sergej Remisow (Pixabay)
Schmunzel … herrlich! 😇
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Große Klasse der Text! Über die Wandlung von „Siggie“ kann man nur staunen. Und er hat ja Kluges zu sagen. Hab mich amüsiert! 😀
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Großartig! Der Siggie hat sich echt entwickelt. Ich habe vor ein paar Jahren selbst ein Interview mit ihm geführt. Da war er noch nicht so locker. http://tiefflug.blog/2015/03/17/selfie-stange-oder-wie-man-sich-selbst-fickt/
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Das ist ja ein völlig neuer Freud, so locker kennen wir ihn gar nicht. Aber toll. Da musste sich unser Massterchen noch mit seiner freudianischen klugsteifen Lehranalytikerin herumplagen. Durch welche Therapie ist denn Freud bei dir gegangen, die ihn derart befreite, so unfreudianisch zu sein?
Mit herzlichen Grüßen vom Meer
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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