Vexierbild Karfreitag

Eine Karfreitagsmeditation von Bruder Norabus

Mit einem Lied des italienischen Cantautore Francesco Guccini

Die ursprüngliche Bedeutung des Karfreitags mag in unserer heutigen säkularen Gesellschaft längst verblasst sein – als Teil unserer kulturellen DNA entfaltet sie dennoch bis heute ihre Wirkung.

Karfreitag: Moralischer Offenbarungseid …

Für Menschen christlichen Glaubens ist der Karfreitag der traurigste Tag des Jahres. Genau genommen ist es auch nicht einfach nur ein sehr trauriger Tag. Der Karfreitag steht für den ultimativen moralischen Offenbarungseid der Menschheit: Der Mensch, der sich am meisten für sie eingesetzt hat, der ihr Glück am meisten gewollt hat, ist von seinen Mitmenschen auf bestialische Weise zu Tode gefoltert worden. Derjenige, der Gewaltlosigkeit vorgelebt hat, ist auf besonders gewalttätige Weise getötet worden.
Insofern erscheint der Karfreitag als die endgültige Beerdigung aller Hoffnungen, das Wort „human“ irgendwann mit jener Bedeutung anfüllen zu können, den es seinem Klang nach haben sollte.

… und absolutes Hoffnungszeichen

Nun ist der Karfreitag allerdings ein wenig wie ein Vexierbild. Wir können die Perspektive auch umdrehen und sagen: Ein Mensch – wenigstens ein einziger – hat es geschafft, alle Selbstsucht zu besiegen. Zumindest einmal in der Geschichte der Menschheit ist es jemandem gelungen, das eigene Glücksstreben ganz mit dem Streben nach einer allgemeinen Harmonie zu verbinden, nach einem Glück, das alle anderen mit einschließt.
Dies wiederum ist ein absolutes Hoffnungszeichen: Wenn ein Mensch hierzu fähig ist, sind potenziell auch alle anderen dazu fähig. Sie müssen nur dem Vorbild desjenigen folgen, der ihnen den Weg dorthin gewiesen hat.

Der Karfreitag als Teil unserer kulturellen DNA

In unserem heutigen Alltag ist diese Bedeutung des Karfreitags natürlich verblasst. Die christlichen Feiertage bestimmen wohl noch hier und da den Rhythmus unseres Lebens – ihrer ursprünglichen Bedeutung aber sind sie längst entkleidet. Selbst Weihnachten ist ja heutzutage vor allem ein Fest der Familie und der Geschenke. Das Christliche ist hier oftmals nur noch schmückendes Beiwerk.
Dennoch sind in Ländern mit einer katholisch geprägten Geschichte christliche Traditionen bis heute ein Teil der kulturellen DNA. Auch wenn man sich über einen Tag wie den Karfreitag keine tieferen Gedanken macht, prägt er dann doch in spezifischer Weise die Stimmung.
In besonderem Maße gilt das in einem Land wie Italien, das wohl in mancherlei Hinsicht als eine Art Heimat des Katholizismus angesehen werden kann. Was Karfreitagsstimmung dort bedeutet, zeigt sich exemplarisch an einem Lied des berühmten italienischen Cantautore Francesco Guccini.
Das Lied thematisiert durchaus auch die Seelenfinsternis, die sich aus dem Kreuzigungstod Christi ergibt. Sie manifestiert sich in dem Gefühl, in einer „Dunkelheit“ zu leben, „die dem Nichts entwächst“. Dies geht hier auch mit einem Überdruss an der „Gesellschaft anderer“ einher: Die existenzielle Verlassenheit, für die der einsame Tod des Erlösers steht, ist durch keinerlei menschliche Gemeinschaft zu heilen.

Wiederauferstehung und Frühlingserwachen

Insgesamt ist die Grundstimmung des Liedes jedoch nicht von düsterer Trauer gekennzeichnet. Es ist eher eine sanfte Melancholie, die von ihm ausgeht. Der Grund dafür ist wohl nicht zuletzt das Bewusstsein des nahen Wiederauferstehungsfestes, die Gewissheit also, dass der Tod hier nur als Etappe auf dem Weg zu einer umfassenden Erlösung erscheint.
Vor diesem Hintergrund verknüpft Guccini die Karfreitagsatmosphäre auch mit der Stimmung des beginnenden Frühlings, dessen Duft sich in den engen Gassen mit den aus den Kirchen dringenden Weihrauchschwaden vermischt. Denn auch der Frühling ist ja mit der neu aufkeimenden Vegetation eine Form von Wiedergeburt.

Kreuzigungstod und Liebestod

Zusammengebunden werden Karfreitagsstimmung und Wiederauferstehungshoffnung in einer persönlichen Liebeserfahrung. Der Tod des Erlösers wird dabei unmittelbar zu dem Tod der Geliebten in den Armen des Sängers in Beziehung gesetzt.
Der Liebestod ist nun aber ebenso zweideutig wie die Karfreitagssymbolik: Er steht einerseits für eine Form äußerster Hingabe, andererseits aber auch für den Tod der Liebe, also eben jene Verfinsterung des Daseins, wie sie auch der Karfreitag symbolisiert.
Sittenstrenge Naturen werden eine solche Vermischung von erotischer und religiöser Sphäre wohl als blasphemisch zurückweisen. Sie sollten allerdings nicht vergessen, dass es hierfür auch in der Bibel ein sehr bekanntes Beispiel gibt: das Hohelied Salomos. Und auch die spätmittelalterliche Mystik hat immer wieder die religiöse in der erotischen Ekstase gespiegelt.
So mag Guccinis Karfreitagslied sich zwar nicht sklavisch an die christliche Dogmatik halten. Gerade dadurch zeigt es allerdings, wie bestimmte religiöse Erfahrungen auch dann noch in der Kultur eines Landes weiterleben können, wenn die dahinter stehenden Glaubenssätze längst verblasst sind.

Francesco Guccini: Venerdì Santo

aus: Folk beat n. 1, 1967

Liedtext

Übersetzung

Karfreitag

Karfreitag …
In der Abenddämmerung
weht ein Hauch von Frühling.

Karfreitag …
Die geöffneten Kirchen künden
mit violetten Farben
vom Tod Christi.

Karfreitag …
Weihrauchschwaden ziehen
durch die alten Straßen des Zentrums –
aber vielleicht ist es auch nur Staub,
der im Frühling wie Wachs zu brennen scheint.

Karfreitag …
Der Gesellschaft anderer überdrüssig,
leben wir in einer Dunkelheit,
die dem Nichts entwächst.

Karfreitag …
Selbst die Liebe
scheint sich nach Buße zu sehnen.

Karfreitag …
Gott stirbt, und du,
amore mio,
stirbst in meinen Armen.

Und dann, am Abend,
bleibt nur eine sanfte Erinnerung zurück:
Karfreitag …

Karfreitag, in der Abenddämmerung …

Karfreitag, der Gesellschaft anderer überdrüssig …

Mehr Österliches:

Das Liebstöckel-Mysterium. Osterbotschaft von Bruder Norabus

Canzoni di Pasqua. Österliches aus der italienischen Cantautori-Szene

Bild: Tünde Bede: Engel (Pixabay)

2 Kommentare

  1. Was für ein schöner Text mit Lied! – Interessant, diese religiösen Gedanken auf diesem Blog zu lesen. Ich gehe doch davon aus, dass der „Bruder Norabus“ ein Pseudonym ist 😉

    Gefällt 1 Person

  2. Oh, da bin ich entschieden nicht deiner Meinung: Karfreitag ist ein glücklicher Tag für die Christen, muss ein glücklicher Tag sein für die Christen, denn ohne Karfreitag gibt es keine Ostern. Karfreitag ist die Osterbotschaft schlechthin!

    Ohne Dunkel, kein Hell.

    Kann es sein, dass es diesen Unterschied in der Wahrnehmung von Karfreitag von traurig und glückliche zwischen den Katholiken und Reformierten gibt?

    Liebe Grüsse von

    Regula

    Gefällt 1 Person

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