Paul Verlaines Art poétique

Ilona Lay, Reichensteiner Poetik-Vorlesungen, Teil 2

Wie Arno Holz trat auch Paul Verlaine für eine Erneuerung der Lyrik ein. Anders als Holz lehnte er dabei das Streben nach einer besonderen Musikalität jedoch gerade nicht ab. Vielmehr sah er darin ein Mittel, den „Eigen-Sinn“ der Dichtung zur Geltung zu bringen.

Arno Holz‘ Kritik an der L’art-pour-l’art-Dichtung

Paul Verlaine Dichtungsideal: „Vor allem muss es musikalisch sein!“

Dichtung als Selbstaussprache des lyrischen Ichs

Gedichtbeispiel: Il pleure dans mon coeur …

Arno Holz‘ Kritik an der L’art-pour-l’art-Dichtung

In der ersten Vorlesung ging es um Arno Holz‘ Plädoyer für eine „Revolution der Lyrik„. Holz bezog sich damit zwar auf die dichterische Tradition im Allgemeinen. Konkreter Anknüpfungspunkt für seine Kritik am Bestehenden war jedoch offenbar die L’art-pour-l’art-Dichtung der Jahrhundertwende.
Dies wird deutlich, wenn Holz die Gedichte jener „wohlhabenden Jünglinge“ attackiert, die vor dem „graue[n] Regenfall der Alltagsasche“ in ihre Welt der „Preis- und Hirtengedichte, der Sagen und Sänge, der hängenden Gärten und der heroischen Zierate“ entflöhen (Holz 1898: 267). Denn hiermit zitiert er, ohne den Dichterkollegen explizit zu erwähnen, Stefan Georges 1895 erschienenen Gedichtband Die Bücher der Preis- und Hirtengedichte, der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten.
Ein dichterisches Vorbild für George war Paul Verlaine, von dem er – wie übrigens auch Rainer Maria Rilke, dem der dritte Teil dieser Vorlesungsreihe gewidmet ist – mehrere Gedichte ins Deutsche übertragen hat. Es lohnt sich deshalb, sich an dieser Stelle Verlaines dichtungstheoretischen Vorstellungen zuzuwenden.

Paul Verlaine Dichtungsideal: „Vor allem muss es musikalisch sein!“

Auf den ersten Blick scheint Verlaine genau für jenes Ideal von Lyrik einzutreten, das Arno Holz so wortreich zurückweist. Dass die Dichtung vor allem musikalisch zu sein habe („de la musique avant toute chose“), ist eine der Kernaussagen in Verlaines programmatischem Gedicht Art poétique, das er 1882 erstmals veröffentlicht und 1884 in seine Gedichtsammlung Jadis et naguère („Einst und jüngst“) aufgenommen hat.
Zwar trifft sich Verlaine mit Holz in seiner Kritik am Reim, den er in seiner Art poétique als Erfindung eines „tauben Kindes“ oder eines „wilden Negers“ verhöhnt. In einer der Musikalität verpflichteten Dichtung sieht er den Reim jedoch, wie er in seinem 1888 in der Zeitschrift Le Décadent publizierten Essay Un mot sur la rime („Ein Wort über den Reim“) unterstreicht, als „notwendiges Übel“ an, ohne das „unsere wenig akzentuierte Sprache“ keine Dichtung hervorbringen könne. Dabei plädiert er in der Art poétique allerdings für einen „rime assagie„, also einen „weiseren“, bewussteren und kontrollierteren Einsatz des Reimes.

Dichtung als Selbstaussprache des lyrischen Ichs

Interessant ist nun, dass Verlaine sich mit seiner eigenen Konzeption einer „l’art pour l’art“ von den Parnassiens absetzt. Diese Dichtergruppe trat zwar ebenfalls für die Eigenweltlichkeit und Eigengesetzlichkeit der Kunst ein. Sie verband dies jedoch mit dem Ideal der „impersonalité“, also einer vom lyrischen Ich abstrahierenden Darstellungsweise, durch welche die göttlichen, an antiken Idealen geschulten Harmonien ungefiltert zum Ausdruck kommen sollten.
Verlaine trat dagegen gerade umgekehrt für die Selbstaussprache des lyrischen Ichs ein. Dieses durfte und sollte in Verlaines Gedichten seine Nöte, Wünsche und Sehnsüchte artikulieren. In seiner Art poétique entspricht dem die Aufforderung an die Dichter, „l’Impair“ zu bevorzugen – also eben jenes „Ungerade“, Unschickliche, als das den Parnassiens die Abweichung von klassischen Dichtungsnormen und vom Ideal der „Impersonalité“ erschien. Gerade das, was diese ablehnten – die authentische, nicht durch metrische oder inhaltliche Konventionen „gebändigte“ Wiedergabe subjektiver Stimmungen – war Verlaines dichterisches Ideal.
So ist der „Eigen-Sinn“ der Dichtung bei Verlaine weder Selbstzweck, noch kommt ihm eine eskapistische Funktion zu. Er steht vielmehr in einem spezifischen Spannungsverhältnis zu der Gestimmtheit des lyrischen Ichs, die in dem Gedicht zum Ausdruck gebracht wird. Die Musik der Verse greift diese auf, kann sie jedoch – insbesondere dann, wenn das Gedicht auf der Inhaltsebene melancholisch grundiert ist – auch konterkarieren und so eine tröstende, versöhnliche Wirkung entfalten.

Gedichtbeispiel: Il pleure dans mon coeur …

Veranschaulichen lässt sich Verlaines Dichtungsideal durch ein berühmtes Gedicht, in dem Verlaine die Monotonie des rauschenden Regens mit der melancholischen Gestimmtheit des lyrischen Ichs verknüpft. Die Musikalität der Dichtung manifestiert sich hier in der besonderen Harmonie, die durch Rhythmus, Assonanzen und Reime erzeugt wird. Der rein sprachlichen Bedeutungsebene wird so eine eigene Klangwelt gegenübergestellt, die an ein mantrahaft wiederholtes Kinderlied erinnert und damit einen Kontrapunkt zu der subjektiv zum Ausdruck gebrachten Verzweiflung darstellt:

(aus: Romances sans paroles, 1874; Nachdichtung von Ilona Lay )

Nachweise

Art Poétique (1882); aus der Gedichtsammlung Jadis et Naguère (1884), S. 19 – 21. Paris 1891: Vanier.

Il pleure dans mon coeur …; aus der Gedichtsammlung Romances sans paroles (1874), S. 6 f. Paris 1891: Vanier.

Un mot sur la rime (1888). In: Oeuvres posthumes, Bd. 2, S. 281 – 288. Paris 1911: Messein.

Bildnachweis: Paul Verlaine (links) und Arthur Rimbaud in Brüssel, 1873; unbekannter Fotograf (Wikimedia commons

2 Kommentare

  1. Es ist das einzige französische Gedicht, das ich seit meiner Schulzeit auswendig weiß. Unsere ältliche, dickliche und unschöne Französischlehrerin (wir nannten sie Ohm Krüger oder Bum Krüger, denn so sah sie aus) liebte es heiß und innig, und so empfand ich ihren ganzen Lebenskummer, wenn sie es rezitierte. Danke fürs Erinnern.

    Bei der Übersetzung geht freilich der ganze Zauber verloren. Es weint zB nicht über der Stadt, sondern es regnet. pleure von pleuvoir und pleut von pleurer. Das Spiel mit Lautmalereien – bruit doux de la pluie par terre et sur les toits …., das sich durch das ganze Gedicht zieht und seine Atmosphäre prägt, lässt sich nicht ins Deutsche übertragen. Ein deutsches Regengedicht klingt eben ganz anders.

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  2. Vielen Dank. Das ist eine großartige Einführung. Ich finde die Übertragung auch sehr gelungen. Deutsch und Französisch haben einen ganz anderen Klang. Hier wurde wirklich versucht , das Gedicht in ein anderes Spachsystem zu übertragen und nicht einfach wörtlich zu übersetzen.Das ist hohe Kunst und bis in den Rhythmus und den Reim hinein gelungen. Großes Kompliment. Da ich selbst Übersetzerin bin, weiß ich das zu würdigen.

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