Ilona Lay, Reichensteiner Poetik-Vorlesungen, Teil 3
Auch in der Dichtung Rainer Maria Rilkes stehen Freiheit und Form in einem spezifischen Spannungsverhältnis zueinander: Die Form kann dem Dichter Halt bieten, darf ihn aber nie „festhalten“. Im Vordergrund steht immer die Entfaltung der dichterischen Kreativität. Hierbei bezieht Rilke sich auch auf die russische Ikonenmalerei.
Russland als Rilkes dichterische Heimat
Ikonen als Quelle künstlerisch-religiöser Inspiration
Gleichzeitige Offenbarung und Verhüllung Gottes
Offenbarungserfahrungen in Rilkes Dichtung
Verwandlungskraft der Dichtung
Die tradierten Formen und ihre dichterische Anverwandlung
Gedichtbeispiel: „Gott, wie begreif ich deine Stunde …“
Nachweise zu den zitierten Werken von Rainer Maria Rilke
Russland als Rilkes dichterische Heimat
1899 – im selben Jahr, in dem Arno Holz seine „Revolution der Lyrik“ ausrief – verfasste Rainer Maria Rilke den ersten Teil seines Stunden-Buchs: das Buch vom mönchischen Leben, das er zusammen mit dem später verfassten zweiten und dritten Teil 1905 veröffentlichte.
Das Werk ist stark von Rilkes erster Russlandreise beeinflusst, die er im Frühsommer 1899 auf Anregung von und gemeinsam mit Lou Andreas-Salomé unternommen hatte. Eine weitere Frucht dieser Reise ist ein Aufsatz über Russische Kunst, der 1901 in der Wiener Wochenschrift Die Zeit erschienen ist.
Das lyrische Ich im Buch des mönchischen Lebens ist ein Mönch, der sich als Ikonenmaler betätigt. Dies verbindet das dichterische Werk mit dem erwähnten Essay. Denn auch in diesem reflektiert Rilke über die Bedeutung der Ikonen und der Ikonenmalerei für russische Religiosität und Kunst. Interessant sind dabei an dieser Stelle vor allem die Überlegungen, die Rilke zum Zusammenhang zwischen der Form der Ikonen und deren Betrachtung durch die Gläubigen anstellt.
Ikonen als Quelle künstlerisch-religiöser Inspiration
Religion und Kunst waren nach Rilkes Beobachtung im damaligen Russland eng miteinander verbunden. Dem steten Wandel künstlerischer Formen sah er deshalb in Russland „eine dauernde Form“ gegenüberstehen. Diese sei „für das Volk die Gebärde des Gebetes, die es mit dem Inhalt seines ganzen Erlebens“ fülle, und für den Künstler „das alte Heiligenbild“, die Ikone (Rilke 1901: 202 f.). Letzterer kommt so die Funktion zu, den religiösen Empfindungen bzw. – angesichts der von Rilke konstatierten engen Verknüpfung von Religion und Kunst – allgemein den schöpferischen Impulsen des Volkes einen Rahmen zu bieten, in dem diese sich entfalten können.
Um dieser Funktion gerecht zu werden, darf der Künstler die vorgegebenen Ikonenformen stets nur maßvoll verändern. Nicht „an der gewohnten Form zu rühren“, ist die Voraussetzung dafür, dass die Betrachtenden ihre jeweils eigenen „Visionen“ in den Ikonenbildern wiederfinden können. Diese erscheinen so als ein Gefäß, als eine Leerstelle, die erst durch die schauenden, fühlenden Rezipienten mit Leben und Sinn erfüllt wird:
„Unzählige Madonnen schaut das Volk in die hohlen Ikone[n] hinein, und seine schöpferische Sehnsucht belebt beständig mit milden Gesichtern die leeren Ovale“ (ebd.: 202).
Rilke ist der Auffassung, dass dieser sich erst in den Betrachtenden vollendende schöpferische Prozess etwas offenbart, das
„im höchsten Sinne von jedem Kunstwerk gilt (…): dass es nur eine Möglichkeit ist, der Raum, in welchem der Schauende wieder[er]schaffen muss, was der Künstler zuerst geschaffen hat“ (ebd.).
Die besondere Akzentuierung der subjektiven Komponente des Kunstwerks, seiner Abhängigkeit von den Rezipierenden, hat dabei zur Folge, dass dieses auch dann objektiv unvollendet bleiben kann, wenn der schöpferische Prozess für den Künstler selbst abgeschlossen ist.
Bewahrende Kraft der Ikonen
In der westlichen Welt mit ihrem raschen Wechsel künstlerischer Ausdrucksweisen, wie er zu Lebzeiten Rilkes in gesteigerter Form zu erleben war, kann eine solche Abhängigkeit des Kunstwerks vom schöpferischen Nachvollzug durch die Rezipierenden dazu führen, dass das Kunstwerk im Falle fehlender oder inadäquater Wahrnehmung durch diese seinen Zweck verfehlt, indem dann, hegelianisch gesprochen, subjektiver und objektiver Geist nicht zueinanderfinden.
In der russischen Kultur, wie Rilke sie beobachtet hat, hatte das Kunstwerk jedoch wesentlich mehr Zeit, auf seine Vollendung durch die Betrachtenden zu warten. Denn aufgrund der sich nur langsam wandelnden Formen, in denen die Kunst sich dort Rilke zufolge entfaltete, konnte das Kunstwerk auch Jahrzehnte nach seiner Entstehung noch zum Leben erweckt werden.
Dies bedeutet, dass die künstlerischen Formen die Möglichkeit religiöser Empfindung und künstlerischer Kreativität unter solchen kulturellen Rahmenbedingungen wachhalten. So lässt sich dann auch eine längere künstlerisch-kulturelle Dürreperiode schadlos überstehen. Zwar könne es sein, so Rilke, dass einmal über Jahrhunderte hinweg die beiden zentralen Formen des künstlerisch-religiösen Empfindens – die der betenden „Gebärde und die des Bildes“ – „leer“ und „sinnlos“ erscheinen. Da sie aber (in der Ikonenmalerei) „mit peinlicher Genauigkeit weitergegeben“ würden, bleibe stets die Möglichkeit erhalten, dass irgendwann „wieder ein Andächtiger oder ein Künstler“ komme, der für den „Reichtum“ seiner künstlerisch-religiösen Empfindungen die „schöne, schlichte Schale“ der alten Formen neu entdecke (ebd.: 203).
Gleichzeitige Offenbarung und Verhüllung Gottes
Der Gedanke von der Form als einem Erhaltungs- und Entfaltungsraum künstlerisch-religiöser Inspiration findet sich auch im Buch des mönchischen Lebens wieder. So betont der Ikonen malende Mönch hier ausdrücklich, „nicht eigenmächtig malen“ zu dürfen, sondern „aus den alten Farbenschalen / die gleichen Striche und die gleichen Strahlen“ schöpfen zu müssen wie seine Vorgänger (Rilke 1905: 10).
Die so entstehenden Heiligenbilder sind gleichzeitig Offenbarung und Verhüllung des göttlichen Geheimnisses: Sie deuten es an, eröffnen den Schauenden einen Weg dorthin, bewahren es jedoch gleichzeitig vor der Festlegung auf eine bestimmte Gestalt, die sein die menschliche Auffassungsgabe transzendierendes Wesen notwendig verzerren müsste. Im Gebet findet der Mönch des Stunden-Buchs dafür die folgenden Worte:
„Wir bauen Bilder vor dir auf wie Wände;
so dass schon tausend Mauern um dich stehn.
Denn dich verhüllen unsre frommen Hände,
sooft dich unsre Herzen offen sehn.“
(ebd.)
Diese scheinbar undurchdringlichen Mauern sind für den, der sich auf die Bilder einlässt, jedoch nur „eine schmale Wand“ (ebd.: 11). Sie erscheinen dann nicht als Abwehrzauber, sondern weisen den Weg zu Gott – allerdings nicht in der Weise einer vernunftgesteuerten Entdeckung, sondern im Sinne einer Offenbarung, aus welcher der Ikonenmaler selbst dann wieder neue Inspiration für die Gestaltung seiner Werke zieht:
„Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.“
(ebd: 12)
Offenbarungserfahrungen in Rilkes Dichtung
Zwar hat Rilke sein ganzes Leben lang die Bedeutung seiner Russlanderfahrungen für seine künstlerische und persönliche Entwicklung betont. Dennoch war es natürlich nie sein Ziel, sich als Mönch in ein russisches Kloster zurückzuziehen und Ikonen zu malen. So bleibt die Frage, warum er dennoch eine solche Figur als eine Art äußere Haut für das lyrische Ich in seinem Stunden-Buch gewählt hat.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit zwei kurzen Prosastücken (Erlebnis I und II), die Rilke zu Beginn des Jahres 1913 verfasst hat. Darin überfällt den Protagonisten, als er sich in die „Gabelung eines strauchartigen Baumes“ lehnt, plötzlich ein
„nie gekannte[s] Gefühl: es war, als ob aus dem Innern des Baumes fast unmerkliche Schwingungen in ihn übergingen“ (Rilke 1918: 522).
„Völlig eingelassen in die Natur“, verharrt er „in einem beinah unbewussten Anschaun“ (ebd.) und hat schließlich den Eindruck, „auf die andere Seite der Natur geraten“ zu sein (ebd.: 523). Dies manifestiert sich darin, dass die Dinge ihm „entfernter und zugleich irgendwie wahrer“ erscheinen, dass sie ihn „aus geistigerem Abstand“ berühren, „mit so unerschöpflicher Bedeutung, als ob nun nichts mehr zu verbergen sei“ (ebd.: 524).
In dem zweiten, erst posthum (1935) veröffentlichten Prosatext wird dieser Bewusstseinszustand damit umschrieben, dass die Dinge sich nicht mehr „an der Grenze des Körpers“ brächen. Vielmehr würden äußere Erscheinung und inneres Erleben „zu einem ununterbrochenen Raum“ zusammenwachsen, „in welchem, geheimnisvoll geschützt, nur eine einzige Stelle reinsten, tiefsten Bewusstseins“ bleibe. Dadurch, so heißt es in dem Text weiter,
„ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich in ihn über, dass er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen“ (Rilke 1935: 525).
Verwandlungskraft der Dichtung
Was in dem Buch vom mönchischen Leben durch die Ikonen ermöglicht wird, ergibt sich in den Erlebnis-Texten demnach durch ein meditatives Sich-Versenken in die Natur. Hier wie dort geht es um eine Offenbarungserfahrung, nur bezieht sich diese im einen Fall auf Gott und die Spuren, die er in der Welt hinterlassen hat, und im anderen Fall auf das Wesen der Dinge und das Eingewobensein des Ichs in die unendliche Textur des Seins.
Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Offenbarungserfahrungen ist es dabei, dass erst die „Bilder“ und die „Namen“, die das Wesen Gottes bzw. der Dinge umhüllen, durchdrungen werden müssen, bevor sich deren eigentlicher Sinn erschließt. Im Falle der Erlebnis-Texte ergeben sich dadurch auch Berührungspunkte mit den platonischen Ideen, als den wahren, wesenhaften Urbildern, die sich hinter den Namen der Dinge verbergen.
Für die Dichtung folgt hieraus eine radikal andere Konsequenz, als sie Arno Holz in seiner Revolution der Lyrik gefordert hat. Während dieser dafür plädiert, den Worten „ihre ursprünglichen Werte“ zurückzugeben und nicht ‚hinter die Dinge zu horchen‘ (vgl. Teil 1 dieser Vorlesungsreihe), muss eine Dichtung, welche die Wahrheit gerade umgekehrt hinter den tradierten Namen und Bildern der Dinge sucht, die überlieferte Wertigkeit und Verwendungsweise der Worte notwendigerweise hinterfragen. Denn in der Art und Weise, wie die Begriffe im Alltag benutzt werden, spiegeln sich ja eben jene Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wider, die uns daran hindern, die Dinge in ihrem So-Sein, unabhängig von dem soziokulturellen Kontext, in dem sie uns im Alltag begegnen, zu erfassen.
Was im Buch vom mönchischen Leben die Ikonen sind – ein Ermöglichungsraum, in dem die Gotteserfahrung potenziell erhalten bleibt, auch wenn sie im Alltag verschüttet ist – ist dabei für die Dichtung ihre Eigenweltlichkeit bzw. ihr Eigen-Sinn. Gemeint ist damit nicht ein vom Alltag abgekoppeltes „l’art pour l’art“. „Eigen-Sinn“ meint hier vielmehr die der Dichtung eigene Verwandlungskraft, ihre Fähigkeit also, neue Bedeutungen zu generieren sowie alte Bedeutungen zu hinterfragen und so auch das mit den jeweiligen Wörtern Bezeichnete aus den Fesseln der tradierten Wahrnehmungsmuster zu befreien.
Die tradierten Formen und ihre dichterische Anverwandlung
Betrachtet man den dichterischen Prozess aus der Perspektive der Dichtenden, liegt es nahe, eine Parallele zwischen der bewahrenden Kraft der Ikonen und dem tradierten Formenschatz der Lyrik zu ziehen. Hier ist allerdings Vorsicht geboten. So ist Rilke selbst in einem weiteren, 1902 publizierten Aufsatz über russische Kunst (Moderne russische Kunstbestrebungen) zu der Einschätzung gelangt, dass Ikonen aufgrund ihrer „Starrheit“ selbst noch keine Kunst darstellten, sondern lediglich ein Weg seien, auf dem man sich dieser annähern könne (vgl. Rilke 1902: 214).
Die verhältnismäßig starren Vorgaben, wie sie für die Ikonenmalerei gelten, sind damit Rilke zufolge nur für vorkünstlerische, den eigentlichen schöpferischen Prozess vorbereitende Phasen – sei es auf individuell-biographischer oder auf menschheitsgeschichtlicher Ebene – sinnvoll und charakteristisch. Sobald der Geist einmal in die Phase der eigenständigen künstlerischen Aktivität eingetreten ist, muss er frei über die tradierten Formen verfügen können. Dies schließt die Möglichkeit, sie um neue Formen zu erweitern, ebenso ein wie die Freiheit, sie abwandeln und miteinander kombinieren zu können, wo dies für den jeweiligen künstlerischen Ausdruck notwendig erscheint.
Gedichtbeispiel: „Gott, wie begreif ich deine Stunde …“
Rilke selbst ist für einen solchen freien Umgang mit dem überlieferten Formeninventar das beste Beispiel. So knüpft er etwa in seinen Duineser Elegien nur locker an die evozierte antike Gedichtform an. Und im Buch vom mönchischen Leben findet sich eine solche Vielfalt an Variationen von Metrum und Strophenformen, dass an keiner Stelle der Eindruck des von Arno Holz für rhythmisierte Verse befürchteten „Leierkastens“ entsteht.
Hierzu trägt freilich auch bei, dass Rilke den Reim in einer Virtuosität verwendet, durch die dieser nie gezwungen wirkt, sondern als organischer Teil des lyrischen Sprechens erscheint. Hierfür abschließend noch ein Beleg aus dem Buch vom mönchischen Leben:
„Gott, wie begreif ich deine Stunde,
als du, dass sie im Raum sich runde,
die Stimme vor dich hingestellt;
dir war das Nichts wie eine Wunde,
da kühltest du sie mit der Welt.
Jetzt heilt es leise unter uns.
Denn die Vergangenheiten trinken
die vielen Fieber aus dem Kranken,
wir fühlen schon in sanftem Schwanken
den ruhigen Puls des Hintergrunds.
Wir liegen lindernd auf dem Nichts
und wir verhüllen alle Risse;
du aber wächst ins Ungewisse
im Schatten deines Angesichts.“
(Rilke 1905: 35 f.)
Nachweise zu den zitierten Werken von Rainer Maria Rilke
Das Buch vom mönchischen Leben (1899). In: Ders.: Das Stunden-Buch (1905); hier zit. nach Rilke, Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Beda Allemann, Bd. I/1 (1955), S. 7 – 57. Frankfurt/Main 1980: Insel.
Russische Kunst (1901). In: Ders.: Bücher, Theater, Kunst, S. 200 – 208. Frankfurt/Main 1991: Suhrkamp.
Moderne russische Kunstbestrebungen (1902). In: Ebd., S. 209 – 216.
Erlebnis I (e 1913, v 1918). In: Rilke, Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Beda Allemann, Bd. III/2 (1966), S. 522 – 525. Frankfurt/Main 1980: Insel.
Erlebnis II (e 1913, v 1935). In: Ebd., S. 525 – 527.
Bildnachweis: Leonid Pasternak (1862 – 1945): Porträt von Rainer Maria Rilke (Wikimedia commons)
Was für ein interessantes Essay!!! -Vielen Dank dafür!
LikeLike