Ein Lied von Michail Antscharow. Auftrakt zu einer Reihe mit russischen Antikriegsliedern
Auch in Russland existiert eine starke Tradition antimilitaristischen Denkens und Dichtens. Besonders ausgeprägt ist sie in der russischen Gitarrenlyrik. Hiervon gibt es an dieser Stelle in den nächsten Tagen ein paar Kostproben.
Antimilitarismus in Russland
Vor dem Hintergrund des Überfalls der russischen Armee auf die Ukraine habe ich meinen Essay über russische Antikriegslieder (Der Krieg als Verrat am Selbst) noch einmal überarbeitet.
Die neue PDF steht unten zum Download bereit. Zusätzlich werde ich in den folgenden Tagen einige neu übersetzte Lieder einzeln präsentieren.
Ich verspreche mir davon zweierlei: Zum einen kann so auf das andere, nicht-militaristische Russland hingewiesen werden. Zum anderen sind die Lieder aber natürlich auch ein Zeichen gegen die monströse Gewalt, mit der die Ukraine derzeit überzogen wird.
Den Anfang macht heute ein Lied von Michail Antscharow (1923 – 1990). Der Autor gilt als einer der Urväter der russischen Gitarrenlyrik, jener Art von Literatur, in der nicht der offiziellen Parteilinie entsprechende Texte an der Zensur vorbei verbreitet wurden. Das Mittel dafür war eine Mundpropaganda im buchstäblichen Sinn – das gemeinsame Singen der regimekritischen Werke.
Michail Antscharow: ein Autor mit Hang zum Phantastischen

Den Krieg kannte Antscharow aus eigener Anschauung. Im Juli 1941, nach dem Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion, meldete er sich als Freiwilliger, um sein Land zu verteidigen. Allerdings wurde er nicht an der Westfront eingesetzt, sondern – nach einem Japanisch- und Chinesischstudium am Fremdspracheninstitut der Roten Armee – als Dolmetscher in die Mandschurei geschickt, im Rahmen des Krieges gegen Japan.
Nach dem Krieg widmete Antscharow sich wieder verstärkt seinen künstlerischen Interessen. Er studierte Malerei am Staatlichen Kunstinstitut Surikov in Moskau und absolvierte einen Kurs für Drehbuchautoren. schrieb aber nicht nur zahlreiche Drehbücher für Film und Fernsehen, sondern machte sich auch als Autor literarischer Werke einen Namen. Seine Werke wiesen dabei oft eine surrealistisch-phantastische Tendenz auf. Hiervon zeugt nicht nur seine 1976 in deutscher Übersetzung erschienene phantastische Trilogie „Ein Clown stellt Fragen“. Auch seine Lieder enthalten nicht selten phantastische Elemente.
Ein Panzer erzählt, wie er vom Saulus zum Paulus wurde
Dies gilt auch für die Ballade über den Panzer T-34 – denn es ist der Panzer selbst, aus dessen Sicht hier das Geschehen geschildert wird. Abgewrackt, ein Mahnmal einer vergangenen Zeit, so steht er auf einem Sockel über den Hügeln einer unbekannten Stadt und denkt zurück an seine aktive Zeit.
Die Erinnerungen des Panzers sind zunächst alles andere als friedfertig. Er vergegenwärtigt sich noch einmal die Tage, als er wie ein „stählerner Elefant“ alles überrollt hat, was sich ihm in den Weg stellte. Nichts konnte ihn aufhalten, alles hat er unterschiedslos zermalmt.
Dann aber ist ihm etwas ganz Banales, Alltägliches begegnet, das ihm urplötzlich die Kraft der Liebe vor Augen geführt hat. So hat er in seinem Tun innegehalten.
Dass der Panzer als Folge seiner plötzlichen Verweigerungshaltung selbst zerstört wird, gibt dem Lied eine doppelte Pointe. Es kann einerseits als Beleg dafür gelesen werden, dass die Kraft der Liebe jederzeit selbst der erbarmungslosesten Tötungsmaschinerie Einhalt gebieten kann.
Andererseits wird so jedoch auch angedeutet, dass es nicht ausreicht, wenn nur Einzelne die Sinn- und Gottlosigkeit des kriegerischen Mordens erkennen – denn sie können dann selbst wieder von anderen überrollt werden, die für die Fortsetzung des Abschlachtens sorgen. Das Innehalten Einzelner ist in diesem Fall, wie der abgewrackte Panzer, nichts als ein Mahnmal für eine andere Welt und einen anderen Umgang miteinander.
Michail Antscharow (Михаил Анчаров): Ballade über den Panzer T-34, der in einer fremden Stadt auf einem schönen hohen Sockel steht (1965)
Tonaufnahme auf ipleer.com: Баллада о танке Т-34, который стоит в чужом городе на высоком красивом постаменте
Liedtext auf culture.ru

Vor den Kolonnen her
bin in die Schlachten ich gestürmt.
Ein stählerner Elefant, habe ich selbst
meinen Weg mir gebahnt.
Wie Donnergrollen rollte ich voran,
die Wut in meinem Sehschlitz wandelnd
in einen Schlag des Schicksals.
Zu Asche wurden Autobahnen,
Gleise wanden sich wie blutige Verbände
unter meinem Raupenwirbel.
Jeden Kerker habe ich gesprengt,
ich war das wahre Hauptquartier,
ich, ein leerer Raum, verlassen
wie ein neuer Sarg.
Minen zerquetschte ich wie Läuse,
Bunker wie Schildkrötenpanzer.
Wie Eiterbeutel sind sie aufgesprungen.
Umzittert von berstenden Totenschädeln,
bin ich in tiefste Höhlen vorgedrungen.
Dann aber sah ich, zwischen all dem Schutt
und den zerborstenen Gebäuden,
eine Puppe. Die Arme von sich gestreckt,
so rief sie nach Umarmungen,
nach der Liebe eines andern,
der geliebt wurde von anderen.
Meine Lukenmütze bebte,
wie Blut kochte das Öl in meinem Bauch –
doch eine Puppe konnte ich nicht überrollen.
Da töteten sie mich.
Nun throne ich still
zwischen den raschelnden Gräsern
hoch über der Stadt,
wie Christus
den Tod im Tod überwindend.
Blut tropft aus meinen Seiten,
ich bin erstarrt
wie eine Schlacht, aus deren Nacht
ein Licht hervorbricht – das Licht,
das mir die Puppe wies.
Essay „Der Krieg als Verrat am selbst. Anti-Kriegslieder in der russischen Gitarrenlyrik“ als PDF
Der Krieg als Verrat am selbst
Bilder: Pixabay: Dimitri Vetsikas. Alter Panzer; Michail Antscharow (Screenshot aus einem YouTube-Video); Mikael Elmkren: Puppe
Der Link zur Tonaufnahme hat leider nicht funktioniert, habe aber auch eine Version auf Youtube gefunden:
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Danke! Ich überprüfe das.
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Was für ein schöner Text!!! Könnte das nur geschehen!!!!!!!
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