Zu Fernsehkrimis in der Art des Tatort-Zweiteilers In der Familie
Der Sonntags-Tatort ist in Deutschland fast schon zu einer Art nationalem Ritual geworden. So bleiben auch die dabei vermittelten Werte und Haltungen nicht ohne Wirkung auf die Fernsehgemeinde.
Täter, die sich für ihre Tat bemitleiden
Wenn die political correctness sich selbst in die Falle geht
Erleiden statt Veränderung der Realität
Ein melodramatischer Mord
Nehmen wir an, die Mafia entdeckt eine Verräterin in ihren Reihen. Um die Loyalität von deren Ehemann zu testen, beauftragt sie diesen mit dem Mord an seiner Frau.
Wie wird der Mann den Mord wohl ausführen? Wird er unter melodramatischem Geheule stundenlang an seiner geliebten Frau herumwürgen, bis sie tot in sich zusammensinkt? Oder wird er nicht eher eine kontaktlose Tötungsart wählen – Gift, Erschießen, „Unfall“?
Nehmen wir weiter an, die Polizei habe den Verrat zu verantworten, da sie die Frau zu Abhörzwecken verkabelt hat. Wie wird sie wohl reagieren, wenn plötzlich keine Signale mehr zu empfangen sind? Wird die Lauschkolonne seelenruhig im Abhörwagen sitzen bleiben und abwarten, bis der Mörder sein Werk vollbracht hat? Oder wird sie umgehend reagieren, um ihr lebendes Abhörmedium zu schützen?
Fatalistische Moral
Wer den Jubiläums-Tatort In der Familie gesehen hat (1), wird wissen: Hier fällt die Wahl jeweils auf die unwahrscheinlichere Variante. Dies wirft zunächst natürlich die Frage nach dem Warum auf.
Klar, die erste Antwort ist: Der melodramatisch in die Länge gezogene Mord bewirkt einen größeren Nervenkitzel und Spannungsaufbau. Bei genauerem Hinsehen lässt sich hinter dem sadistisch zelebrierten Mord – auf den in Teil 2 noch zwei weitere quälend langsame Morde folgen – jedoch ein Muster erkennen, das auch in anderen Fernsehkrimis zu beobachten ist.
Dieses Muster hat einen fatalistischen Kern. Es besagt: Unglücke geschehen, Mörder existieren, Menschen sterben auf qualvolle Weise – ich aber kann nichts daran ändern. Alles, was ich tun kann, ist, mich in einem Fernsehsessel dem Entsetzlichen auszusetzen. So konfrontiere ich mich wenigstens mit der Realität und lerne, sie als das hinzunehmen, was sie ist: grausam.
Täter, die sich für ihre Tat bemitleiden
Auf der Ebene der ermittelnden Personen kommt oft noch eine Spur Selbstmitleid hinzu. Tenor: So heldenhaft ich mich auch bemühe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen – sie bleibt doch ein Vorhof zur Hölle.
Besonders dissonant wirkt dieses Selbstmitleid, wenn es mit eigenen Verwicklungen der Krimi-Heroen in diese Höllenwelt verbunden ist – wenn von diesen also etwa vermeintliche Bösewichte erschossen werden oder sie die falschen Entscheidungen treffen. Im Selbstmitleid manifestiert sich dabei eine Art Generalabsolution: Ich mag falsch gehandelt haben – mich selbst trifft jedoch keine Schuld daran. Als Akteur in einer von Grund auf schlechten Welt konnte ich vielmehr gar nicht anders handeln.
Der Tatort In der Familie überträgt diese Haltung auch auf das Handeln des Mannes, der zum Mörder an seiner Frau wird. Auch er bemitleidet sich wort- und tränenreich selbst dafür, dass die böse Welt ihn zu einer bösen Tat zwingt.
So bleibt der Fernsehgemeinde in diesem Fall kaum etwas anderes übrig, als in das allgemeine Lamento einzustimmen. Auch sie kann kaum anders, als sich ein paar Tränchen abzudrücken und dann wieder einzutauchen in diese Welt, die nun einmal so ist, wie sie ist.
Verfehlte Katharsis
Einige werden sich bei dieser Beschreibung vielleicht an das antike Theater erinnert fühlen. Auch hier ging es ja darum, sich dem oft grausamen Schicksal zu stellen, es im imaginären Raum des Dramas zu durchleben und so gewissermaßen den Firnis der Angst von der Seele abzuwaschen und sich anschließend frei und geläutert in der Welt bewegen zu können.
Allerdings bezog sich diese kathartische Wirkung im antiken Theater auf Dinge, die in der Tat den Charakter eines unabwendbaren Schicksals haben und bei denen uns keine andere Wahl bleibt, als uns mit ihnen abzufinden: Tod, Krankheit und Alter, aber auch ungewollte Verwicklungen und Leidenschaften, die unser Handeln immer wieder vom Pfad der Vernunft ablenken.
In dem Tatort-Film – und unzähligen anderen Krimis, die ähnlich strukturiert sind – geht es aber keineswegs um unabänderliche Dinge. Die Mafia – im konkreten Fall die kalabrische ‚Ndrangheta – ist ebenso wenig gottgegeben wie eine von larmoyantem Fatalismus geprägte Ermittlungsarbeit. Wäre dem so, so hätte es Giovanni Falcone und Paolo Borsellino nie gegeben – zwei italienische Ermittler, die ihre Weigerung, das kriminelle Netzwerk der Mafia als unantastbar hinzunehmen, ganz bewusst mit dem Opfer des eigenen Lebens bezahlt haben (2).
Das Fremde als das Böse
So sind auch durchaus Formen der filmischen Auseinandersetzung mit der Mafia vorstellbar, die zum aktiven Einsatz gegen deren Aktivitäten anregen. Dafür freilich müssten diese auch in ihrem komplexen Charakter durchschaubar werden. Dies betrifft Aufbau und Arbeitsweise der Organisation, die Rekrutierungspraktiken vor Ort, insbesondere aber auch die Verflechtungen mit lokalen Autoritäten und der legalen Wirtschaft.
Letzteres leistet der Tatort-Film allenfalls andeutungsweise in Teil 2, der die Beziehungen der ‚Ndrangheta zur örtlichen Bauwirtschaft in den Blick nimmt. Insgesamt aber wird das Bild einer Mafia gezeichnet, die ihre Macht der Tatsache verdankt, dass ihre Mitglieder ihre bösartige Natur skrupellos ausleben.
Besonders bedenklich ist dabei, dass das Böse hier zugleich das Fremde ist. Die Mafiosi sprechen in dem Film vorwiegend, einige auch durchgehend ihr kalabrisches Italienisch, sind also klar von der deutschen Kultur geschieden.
Wenn die political correctness sich selbst in die Falle geht
Dies widerspricht nicht nur der faktischen Verwurzelung der Mafia in den Gesellschaften der Zielländer ihres illegalen Handels – ohne die sie gar nicht die Macht hätte, über die sie heute verfügt. Es ist auch ein vielsagendes Beispiel dafür, wie die political correctness sich selbst in die Falle gehen kann.
Der Mafioso, der den ganzen Film über kein Wort Deutsch spricht, mag authentisch wirken. Wenn er jedoch gleichzeitig das absolut Böse repräsentiert, wird das Fremde unwillkürlich mit diesem gleichgesetzt. Faktenwidrig erscheint die Mafia so als das ganz Andere, das mit der deutschen Kultur nicht das Geringste zu tun hat.
In gewisser Weise verschiebt sich so durch die neuen Formen der political correctness nur das Koordinatensystem der Werte. Sexuell diverse Menschen stehen neuerdings auf der Seite der Guten, Süditaliener oder etwa auch Araber sind dagegen zumindest suspekt.
Erleiden statt Veränderung der Realität
Einem Fernsehkrimi einen längeren Beitrag zu widmen, mag zunächst unnötig erscheinen. Schließlich sind deutsche Fernsehfilme, die Stereotypen bedienen und nach vorhersehbarem Strickmuster ablaufen, eher die Regel als die Ausnahme.
Allerdings hat kaum ein Fernsehformat so hohe Einschaltquoten wir der Tatort. Das mediale Blutbad am Sonntagabend ist fast schon zu einer Art nationalem Ritual geworden. Entsprechend hoch ist die Wirkung der Werte und Haltungen, die von den einzelnen Filmen vermittelt werden.
Hinzu kommt, dass gerade der Jubiläums-Tatort von der Kritik ausgesprochen positiv aufgenommen worden ist (3). Aussage und Machart scheinen also einem in unserer Kultur verbreiteten Konsens zu entsprechen.
Dieser Konsens lautet in Kurzform: Was mich nicht tötet, härtet mich ab (4). Das Hauptproblem der dazugehörigen Haltung ist, dass sie das Ertragenkönnen von Leid mit einem Engagement gegen die Zustände, die das Leid verursachen, verwechselt.
Sadomasochismus als Lebensart
Im Endeffekt zementieren die entsprechenden Filme damit die bestehenden Verhältnisse. Anstatt zu gesellschaftsveränderndem Handeln angeregt zu werden, empfinden die Menschen vor den Fernsehgeräten lediglich einen masochistischen Stolz auf ihre eigene Fähigkeit, die sadistische Zurschaustellung des Leids anderer 90 Minuten lang mitansehen zu können
So fördert ein solches Fernsehprogramm sadomasochistische Persönlichkeitsstrukturen, die schon in der Frankfurter Schule um Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Erich Fromm als Kernelement des autoritären Charakters beschrieben worden sind (5). Mit einer demokratischen Kultur hat das herzlich wenig zu tun.
Weiterer Beitrag zum Thema: DerKrimi als Katharsis. Woher kommt unsere Lust am Mord?
Links
- Der erstmals Ende 2020 erschienene Zweiteiler ist (von Deutschland aus) bis Anfang Juli 2022 in der ARD-Mediathek abrufbar.
- Über Giovanni Falcone gibt es einen zweiteiligen Podcast in der Reihe Tatort Geschichte von Niklas Fischer und Hannes Liebrandt. Teil 1: Der Mafiajäger Giovanni Falcone und der Boss zweier Welten; Teil 2: Der Mafiajäger Giovanni Falcone – die wandelnde Leiche; mit weiterführenden Links. Bayern 2, 1. und 8. Oktober 2021.
- Vgl. die Auswahl an Kritiken, die im Wikipedia-Eintrag zu dem Film aufgeführt sind.
- Dass dieser Satz einen faschistoiden Kern enthält, habe ich an anderer Stelle ausführlich erläutert: „Was mich nicht tötet, härtet mich ab!“ Über faschistische Kontinuität in Deutschland. Überarbeitete Fassung Oktober 2021.
- Vgl. Adorno, Theodor W. / Frenkel-Brunswik, Else / Levinson, Daniel J. / Sanford, R. Nevitt. The Authoritarian Personality. New York 1950: Harper & Brothers. (Beiträge von Adorno); Fromm, Erich: Sozialpsychologischer Teil. In: Horkheimer, Max u.a.: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, S. 77 – 135. Paris 1936: Alcan.
Bild: Anne Worner: Bogeyman (Wikimedia)