Der Krimi als Katharsis

Woher kommt unsere Lust am Mord?

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Abend für Abend versammeln wir uns vor dem Fernseher und schauen den Bösewichten bei ihren Missetaten zu. Mit wohligem Schaudern versinken wir in ihrer verkommenen Gefühlswelt, bewundern gleichzeitig aber auch die siegfriedhaft-siegreichen Kommissare, die sich dem Abartigen todesmutig in den Weg stellen.
Woher kommt diese Faszination für das Böse, zumal in einer Gesellschaft braver Bürger, wie wir es sind?

Krimi-Kartharsis.pdf

Inhalt

Der Krimi als kalkulierte Regelübertretung
Der Kommissar als Drachentöter
Der Krimi und die antike Tragödie
Der Krimi als Anti-Krimi
Krimi-Geschichte als Sozialgeschichte
Wie ist unbeschwerter Krimi-Genuss möglich?

Der Krimi als kalkulierte Regelübertretung

Abend für Abend versammeln wir uns vor dem Fernseher und schauen den Bösewichten bei ihren Missetaten zu. Mit wohligem Schaudern versinken wir in ihrer verkommenen Gefühlswelt, bewundern gleichzeitig aber auch die siegfriedhaft-siegreichen Kommissare, die sich dem Abartigen todesmutig in den Weg stellen.
Woher kommt diese Faszination für das Böse, zumal in einer Gesellschaft braver Bürger, wie wir es sind?
Ich würde sagen: Sie kommt eben daher, dass wir eine Gesellschaft braver Bürger sind. Wir leben in einer streng regulierten Alltagswelt, in der sich ein Tag gleichförmig an den anderen reiht. Das Unerwartete, Überraschende ist darin nicht vorgesehen, weil es die auf Effektivität ausgerichteten Arbeitsabläufe stören würde. So entsteht ein Gefühl der Langeweile, des Ungenügens, vielleicht gar einer latenten Aggressivität, einer Sehnsucht nach Sprengung der festgefahrenen Gleise.
Dieses unbestimmte Empfinden des Eingesperrtseins in den eigenen Alltag greifen die Krimis auf, indem sie uns für ein paar Augenblicke die Illusion einer einschneidenden Veränderung, einer Störung in den immer gleichen Abläufen vermitteln. Freilich verknüpfen sie diesen Kurzzeit-Kick zugleich mit der Warnung vor den Nebenwirkungen, die dieser zeitigen kann. Denn diejenigen, die der Versuchung zu einem Ausbruch aus der Ordnung erliegen, werden dafür am Ende ja stets zur Rechenschaft gezogen.
Hinzu kommt, dass die Reglementierung unseres Alltags sich keineswegs auf die äußeren Abläufe beschränkt. Diese sind vielmehr untrennbar mit einer ganzen Reihe von Regeln verbunden, die teilweise klar formuliert sind, zuweilen aber auch ungeschriebenen Charakter haben. Gerade in letzterem Fall stellen sie nicht zu unterschätzende Fallstricke dar, weil sie aufgrund ihres inoffiziellen und oft auch unbewussten Charakters kaum der kritischen Reflexion oder gar Diskussion zugänglich sind.
In der Bürowelt ist hier etwa an den Dresscode oder an den Unterwürfigkeitsgestus gegenüber den Vorgesetzten zu denken. Dieser mag mal in stärkerer, mal in schwächerer Ausprägung gefordert sein. Es ist aber in keinem Fall ratsam, ihn dauerhaft zu missachten. Im Privatleben sind in den vergangenen Jahren fraglos viele Tabus gefallen. Einige haben aber noch immer Bestand. Dies gilt etwa für das Zusammenleben von Bruder und Schwester oder auch die „Vielehe“, die Abweichung von dem Zweierprinzip in der Sexualpartnerschaft, die – anders als gleichgeschlechtliche Zweierpartnerschaften – noch immer geächtet ist.
Wer von diesen Vorstellungen „anständigen“ Verhaltens abweicht, muss nicht in jedem Fall mit juristischer Verfolgung rechnen. Dennoch drohen bei Zuwiderhandlung zum Teil empfindliche Strafen. Wer in der Arbeitswelt nicht entsprechend den ungeschriebenen Regeln „funktioniert“ oder auch häufiger den Arbeitsplatz wechselt, steht sehr schnell ohne Job da und landet ebenso im sozialen Abseits wie diejenigen, die im Privatleben die ungeschriebenen Anstandsregeln missachten.
Auch hier zeigen die Krimis wieder ihr janusköpfiges Gesicht: Sie nehmen uns mit auf einen kurzen Regelübertretungs-Trip, heilen die Übertretungswunde aber gleichzeitig wieder, indem diejenigen, die die Regeln verletzt haben, am Ende „aus dem Verkehr gezogen“ werden. Damit sind die Krimis Karneval und Aschermittwoch in einem, vorübergehende Suspendierung und Wiederherstellung bzw. Stärkung der Ordnung. Tendenziell überwiegt allerdings Letzteres. Denn in den allermeisten Krimis sind die Identifikationsfiguren diejenigen, die die Verbrechen aufklären – und eben nicht diejenigen, die sie verüben.

Der Kommissar als Drachentöter

Noch in einer weiteren Hinsicht stellen die Krimis einen kalkulierten Tabubruch dar. Dieser beruht darauf, dass unser Alltag antiseptisch ist. Tod, Krankheit und Behinderung kommen darin nicht vor. Wir reden zwar ständig von „Pflegeversicherung“ und „Altersvorsorge“, von „Krankenhauskosten“ und „Pflegenotstand“, so dass eigentlich anzunehmen wäre, dass die Fragilität unseres Körpers fest in unserem Bewusstsein verankert ist. Aber es geht uns eben gerade nicht darum, uns den unaufhaltsamen Verfall unseres Körpers und den jederzeit möglichen plötzlichen Tod vor Augen zu führen und daraus Konsequenzen für unser Leben zu ziehen.
Vielmehr läuft unser Denken in Kosten- und Versicherungskategorien darauf hinaus, dass wir uns gegen den Tod versichern, ihn also gerade aus unserem Alltag verbannen wollen. Und wenn unser Körper nicht so funktioniert, wie es die effizienten Arbeitsabläufe erfordern, wird er – zumindest der Idee nach – in einer ebenso auf Effizienz getrimmten Mechanikerhalle namens „Krankenhaus“ repariert. Auch dies verdrängt den Gedanken an die in vielen Fällen eben nicht mit dem ärztlichen Zauberstab und auch mit keiner noch so gesunden Lebensweise zu besiegenden Krankheiten, Verletzungen und altersbedingten Abbauprozesse.
Krimis erlauben uns auch in diesem Fall einen Blick auf die dunkle Seite unserer Existenz. In ihnen hat der Tod, anders als in unserem Alltag, einen festen Platz. Vor dem Hintergrund des stets erfolgreichen Kampfes der Guten gegen die Fürsten der Finsternis erhalten die Krimis in diesem Punkt fast schon einen magischen Charakter. Denn die Allmacht der kommissarischen Gralsritter lässt sich hier auch so deuten, dass sie nicht nur den Mörder, sondern damit zugleich den Tod besiegen, den dieser gebracht hat. So sind die Jäger des Bösen selbst in ihrer Gottgleichheit auch unsterblich. Das Gesicht des Todes wird demnach nur deshalb gezeigt, um gleich wieder verschleiert zu werden und so den Anschein einer Überwindbarkeit des unserer Existenz innewohnenden Grauens zu erwecken.

Der Krimi und die antike Tragödie

Indem die Krimis uns für ein paar kurze Augenblicke etwas durchleben lassen, das wir ansonsten verdrängen, erinnern sie ein wenig an die antike Tragödie. Auch in dieser sollte das Publikum ja mit den HeldInnen des Schauspiels mitfühlen, die stellvertretend die Tragik des eigenen Daseins durchlitten. Hiervon wurde eine reinigende, „kathartische“ Wirkung auf den Menschen erwartet, der sich danach wieder unbelastet von den ewigen Menschheitsfragen seinem Alltag widmen konnte.
Nun ist der positive Effekt der Katharsis aber auch verschiedentlich in Frage gestellt worden. So hat etwa Bertolt Brecht in Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie das „epische Theater“ entwickelt. Dabei wird durch Verfremdungseffekte eine Distanz zu dem Geschehen geschaffen. Diese soll es dem Publikum ermöglichen, die Handlung kritisch zu reflektieren, anstatt – wie im griechischen Theater – unreflektiert in ihr zu versinken. Brecht zielte damit allerdings eher auf die Problematisierung sozialer Missstände ab als auf die unauflösbare Tragik des menschlichen Daseins, die durch Reflexion nur erkannt, aber nicht überwunden werden kann.
Auf die meisten Krimis trifft jedoch weder das eine noch das andere zu. Sie gleichen eher Märchen für Erwachsene, bei denen am Ende der böse Drache stets besiegt wird – nur dass er hier eben die Gestalt einer konkreten Person annimmt. Insbesondere Vorabendkrimis folgen dabei meist, ähnlich wie Märchen, einem einfachen, immer gleichen Aufbau. In Teil I werden die Verdächtigen nacheinander vorgestellt, in Teil II werden sie überprüft, in Teil III wird der Drache getötet, sprich: der oder die Verdächtige überführt.
Der Nervenkitzel für die Krimigemeinde ergibt sich dabei zum einen aus der Frage, hinter welcher wohlanständigen Fassade die Drehbuchautoren den Drachen versteckt haben. Zum anderen leidet das Publikum jedoch auch in Teil II mit allen Verdächtigen mit, denen gegenüber die Drachentöter-Polizei das ganze Folterinstrumentarium moderner Ermittlungen auspackt. Die Privatsphäre wird in hochnotpeinlichen Hausdurchsuchungen aufgehoben, Handys und Kreditkarten werden hinter dem Rücken der Verdächtigen ausgewertet und ermöglichen lückenlose Bewegungsprofile, mitgelesene E-Mails erlauben Einblicke in ihre intimsten Gedanken und Gefühle, und überall tauchen plötzlich Videokameras auf, die vergangenes Verhalten dokumentieren.
Das Ergebnis ist ein Gefühl umfassender Beobachtung und Kontrolle, das fraglos disziplinierend wirkt. Die Botschaft ist: Versuch erst gar nicht, die Regeln zu brechen – wir kriegen dich ja doch! Allmächtig sind hier nicht die Götter, deren unergründlichem Wirken und Walten sich der Mensch zu fügen hat. Sein Schicksal wird hier vielmehr von durchaus irdischen Gesetzeshütern bestimmt. Nicht die ewige Ordnung ist es, der er sich zu fügen hat, sondern die Ordnung der Gesellschaft, in der er lebt. Tendenziell wird so auch die soziale Kontrolle gestärkt. Die Heldenhaftigkeit der alles sehenden, alles durchschauenden Aufklärer macht es unattraktiv, sich mit den Ordnungsstörern zu identifizieren. Lieber stellt man sich auf die Seite der Ordnungshüter und hilft diesen bei der Arbeit.
Die kathartische Wirkung beschränkt sich hier also auf die Konfrontation mit einer vorübergehenden Störung des gesellschaftlichen Normengefüges. Im Unterschied zur antiken Tragödie, die das Publikum durch die finsteren Täler ewig-unlösbarer Menschheitskonflikte führte, wird in den Krimis jedoch selbst dieser Mini-Riss in der vorhandenen Ordnung am Ende in aller Regel geheilt. Selbst Krimis mit komplexeren Handlungen, die nicht dem simplen Dreischritt der Vorabendserien folgen, enden zumeist mit dem Erlegen des Drachen. Deshalb ist es auch nicht unproblematisch, im Rahmen des traditionellen Krimi-Schemas soziale Missstände zu thematisieren. Denn die Krimi-Logik, die am Ende stets den finalen Sieg über das Böse vorsieht, führt hier tendenziell zu einer Verschleierung der Komplexität von gesellschaftlichen Problemlagen. Sie vermittelt die Illusion, dass mit der Überführung der Bösewichte die Probleme gelöst sind und wir unseren Alltag wieder so weiterleben können wie zuvor.
Besonders gefährlich wird es dabei, wenn die Filme das Böse in seiner (vermeintlichen) Fremdartigkeit mit konkreten Fremden identifizieren. Früher bekam das Fremde dann vorzugsweise ein osteuropäisch-slawisches Gesicht, heute darf es gerne auch mal orientalische Züge tragen. Gerade dadurch, dass Krimis für die rituelle Bannung des Bösen unbewusste Emotionen ansprechen, stützen und verstärken sie auf diese Weise die ohnehin latent vorhandene Assoziierung des fremdartigen Bösen mit den Fremden.

Der Krimi als Anti-Krimi

Wer dieser verzerrenden, vereinseitigenden Sicht auf vielgestaltige, multifaktorielle Probleme entgehen will, muss von dem Märchen-Schema abweichen. Böse und Gute dürfen einander nicht so holzschnittartig gegenübergestellt werden wie in den meisten Krimis, und die Handlung darf nicht auf die Schein-Lösung einer Demaskierung und Aussonderung des Bösen hinauslaufen, bei der der Kommissar das soziale Geschwür wie ein Chirurg entfernt. Stattdessen wäre das „Böse“ als immanenter Teil des Alltags darzustellen, das durch die Tätigkeit der Ermittelnden nur aufgezeigt, aber nicht endgültig beseitigt werden kann.
Diesen Weg ist u.a. Friedrich Dürrenmatt in seinen Kriminalromanen gegangen. Das Böse wird hier als Grundelement der menschlichen Natur gezeichnet. Wann und ob es als „verbrecherisch“ eingestuft wird, ist von sozialen Konventionen, aber auch vom Zufall abhängig. So lenkt in dem 1952 veröffentlichten Roman Der Richter und sein Henker der Protagonist, Kommissar Bärlach, den Mordverdacht gezielt auf einen Falschen, um diesen einer Bestrafung zuzuführen, die bei einem früher von ihm begangenen Verbrechen aus Mangel an Beweisen nicht zu erreichen gewesen war. In der Folge wird der zu Unrecht Verdächtigte sogar von dem wahren Mörder getötet, der auf diese Weise seine eigene Schuld vertuschen möchte. Durch die List, die der Kommissar hier anwendet, macht er sich also indirekt selbst eines Kapitalverbrechens schuldig: Das Böse kann nur durch das Böse besiegt werden.
In ähnlicher Weise verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse auch in den Kriminalromanen der amerikanischen „hard boiled school“ um Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Die Protagonisten, die hier die Fälle lösen, entsprechen in Habitus und sozialem Herkunftsmilieu den Verbrechern, die sie jagen. Ob sie auf der Seite des „Guten“ oder des „Bösen“ stehen, ist eher dem Zufall geschuldet und kann sich – sei es durch ihre eigenen Entscheidungen oder durch die gesellschaftliche Bewertung ihres Tuns – auch von Fall zu Fall ändern. So stellen die Romane – wie auch die entsprechenden Verfilmungen – „Gut“ und „Böse“ als relative Kategorien dar, die weniger von dem Verhalten als solchem abhängen als von dessen jeweiliger Deutung und von dem Kontext, in dem es sich manifestiert.
Nicht zufällig handelt es sich bei den Protagonisten in Hammetts und Chandlers Romanen auch nicht um Staatsdiener, sondern um Privatdetektive, also gewissermaßen um eine vermittelnde Instanz zwischen der – im Kategoriensystem des Kriminalromans oder -films – absolut bösen Welt des Verbrechens und der absolut guten Welt der Kommissare. Die Perspektive der privaten Ermittler erlaubt es schließlich auch, den möglichen Umschlag des vermeintlich Guten ins Böse zu zeigen, der sich sowohl aus der pharisäerhaften Überbetonung der geltenden Normen ergeben kann als auch aus einer Überdehnung des staatlichen Gewaltmonopols, durch die Polizeiwillkür als zulässiges Mittel zur Durchsetzung des Rechts angesehen wird.
Eine solche düstere Welt, in der das Böse letztlich die alles beherrschende Kraft ist und das Gute sich nur deshalb so nennen darf, weil es mächtiger ist als das, was als böse gilt, ist die Welt des „Film noir“. Für die gepflegte Abendunterhaltung und die sozialkonforme Katharsis taugen solche Krimi-Tableaus freilich nicht. Im gewöhnlichen Fernsehprogramm überwiegen deshalb Handlungen mit klarem Gut-Böse-Schema. Dies bedeutet nicht, dass nicht auch einmal ein Polizist unter die Bösen geraten könnte. Sein Fehlverhalten beruht dann allerdings nie auf systemimmanenten Problemen, sondern wurzelt in persönlichen Unzulänglichkeiten. Wenn Polizisten gegen das System opponieren, so geschieht dies zumeist allenfalls deshalb, weil sie die von ihnen zu befolgenden Regeln für zu lasch halten und gerne härter durchgreifen würden. Anstatt strukturelle Veränderungen anzustreben, wünschen sie sich also nur ein „Mehr desselben“.

Krimi-Geschichte als Sozialgeschichte

Die klare Konturierung von „Gut“ und „Böse“ in den Primetime-Krimis bedeutet allerdings nicht, dass diese Konturen keinem historischen Wandel unterworfen wären. In der guten (?), alten Zeit entsprach ein „guter“ Kommissar dem Bild Erik Odes in der gleichnamigen Fernsehserie („Der Kommissar“). Der leitende Ermittler zeigte hier zwar christliches Mitgefühl mit den armen Sündern, stand aber dennoch voll und ganz auf dem Boden des Gesetzes. Von Habitus und Kleidung her war er durch und durch Beamter, er lebte in geordneten Verhältnissen, und natürlich war er männlich.
Heute dagegen spiegelt sich die größere gesellschaftliche Vielfalt auch in dem ermittelnden Personal wider. Es sind Menschen mit Migrationshintergrund darunter, Menschen mit homoerotischen Neigungen, und selbstverständlich dürfen längst auch Frauen die Bösen jagen. Darüber hinaus gibt es heute auch verstärkt den nachdenklichen Typus, der zwar das Recht durchsetzt, gleichzeitig aber seinen Zweifeln an dessen Wirksamkeit Ausdruck verleiht. Dem entspricht auch im Privatleben eine stärker gebrochene Biographie, die oft mit wechselnden Partnerschaften und diversen persönlichen Problemen (schwierige Beziehung zu Kindern nach einer Scheidung, Schlafstörungen, Krankheiten …) einhergeht. Gerade dadurch, dass die ermittelnden Personen nicht mehr so unfehlbar daherkommen wie früher, wirken sie allerdings auch menschlicher, was die Identifikation mit ihnen tendenziell eher noch erleichtert.
So ließe sich anhand der Persönlichkeiten des jeweiligen Ermittlungspersonals eine Art historisches Soziogramm der jeweiligen Gesellschaft zeichnen. Gleiches gilt für die Verbrechen, die zu den verschiedenen Epochen bekämpft werden. Auch diese geben Aufschluss darüber, welche Probleme zu welchen Zeiten als besonders drängend empfunden wurden. Indirekt deutet das wechselnde Gesicht des „Bösen“ so auch darauf hin, was eine Gesellschaft sich jeweils unter dem guten Leben vorstellt. Die Konsequenz, mit der die KommissarInnen dieses durchzusetzen versuchen, zeugt zudem davon, wie groß der soziale Druck ist, sich an das Normengefüge des als „gut“ Empfundenen anzupassen. Dabei muss ein hoher Anpassungsdruck nicht zwangsläufig als Hinweis auf ein fest zementiertes Normensystem verstanden werden. Vielmehr kann er auch gerade umgekehrt ein Zeichen für aufkommende Zweifel und den reflexartigen Widerstand dagegen sein.
Interessant ist auch der Wandel in den Gewaltdarstellungen in Krimis. Früher wirkten die Morde oft eher wie eine misslungene Umarmung, und die Leichen lagen da wie Schlafende oder Sandsäcke, die jemand als Puppen verkleidet hatte. Heute dagegen werden Morde oft regelrecht zelebriert und in Nahaufnahme gezeigt. Begründet wird dies gerne mit einem größeren Realismus der Darstellung, durch den deutlich werde, dass Mord eben kein Spiel sei. Allerdings stellt sich dann erst recht die Frage, warum Mord ein Teil der Abendunterhaltung sein soll. So ist die erhöhte Bereitschaft zur Darstellung von Gewalt wohl zumindest auch ein Spiegel der verstärkten Bereitschaft zur Gewaltanwendung in der Gesellschaft. Dies entspricht auch den vermehrten Hassreden in den sozialen Medien und der immer brutaleren Verfolgung des Fremden, Andersartigen, wie sie insbesondere im Umgang mit Flüchtlingen deutlich wird.

Wie ist unbeschwerter Krimi-Genuss möglich?

Bleibt die Frage, ob und wie sich nach all diesen Analysen ein Krimi noch vorbehaltlos genießen lässt. Nach meinem Empfinden ist dies am ehesten dann möglich, wenn das Geschehen aus einer ironischen Distanz gezeigt wird, die dem Publikum signalisiert: „Hey! Es ist alles nur ein Spiel!“
Zumindest der abendliche Fernsehkrimi erfüllt für mich dann am ehesten seinen Zweck, wenn er eben nicht versucht, die Weltprobleme zu lösen, wenn er die Fernsehgemeinde nicht in einen emotionalen Kokon einhüllt, in dem die Zuschauenden sich nicht gegen die implizit eingeflüsterten Normen und Deutungsmuster wehren können. Wenn er schlicht für den kleinen Kick des Außergewöhnlichen zuständig ist, das kurzzeitige Verlassen der Alltagsgleise, im Sinne eines Mini-Urlaubs für den Geist.
Solche Krimis setzen allerdings ein paar Dinge voraus, die hierzulande nur schwer zu finden sind. Es braucht dafür eine gewisse Leichtigkeit, den Mut zum Makabren (der nichts mit der Lust an Klamotte und Klamauk zu tun hat) und eine gewisse Lust am Morbiden, also lauter Dinge, mit denen das auf Anstand und Tiefsinn abonnierte Deutschland noch immer fremdelt.

 

Bild: Collage aus Markéta Bouskova: Das Böse (Pixabay) und Evert Baumgardner: Amerikanische Familie vor dem Fernseher um 1958 (Wikimedia)

 

3 Kommentare

  1. Mit zunehmendem Alter gefallen mir zum Lesen Krimis besser als Liebesgeschichten. Filme sind mir dann aber oft zu gruselig. Im Moment geniessen wir Kottan ermittelt. Ein Blich zurück, als Fernsehen noch schön langsam war. Schönes Wochenende! Regula

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