Der Bombenhagel als Rechenspiel

Sind wir schon abgestumpft gegenüber dem Leid des ukrainischen Volkes?

Die Macht der Gewohnheit darf uns nicht daran hindern, die Angriffe der russischen Armee auf ukrainische Städte als das zu benennen, was sie sind: Staatsterror.

Das Gift der Gewöhnung

Nehmen wir doch einmal für einen kurzen Augenblick an, es gäbe keinen Krieg in der Ukraine. Wir würden wir dann wohl auf eine Meldung über einen Raketenangriff auf eine ukrainische Stadt reagieren?

Ich denke, niemand würde in diesem Fall zögern, von einem „Terrorangriff“ zu sprechen. Die Verurteilung des Angriffs wäre einhellig, die Politik würde fordern, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, und es gäbe natürlich eine kriminaltechnische Untersuchung und juristische Aufarbeitung des Vorfalls.

So aber, nachdem die russischen Terrorangriffe auf die Ukraine nun schon seit fast einem halben Jahr in Dauerschleife andauern, gehen wir in die Falle der Gewohnheit. Ein einziger Terrorangriff löst Entsetzen bei uns aus. Eine ganze Welle von Terrorangriffen übersteigt jedoch unser Vorstellungsvermögen und unsere Empathiefähigkeit.

Abwehrzauber: Wie wir das Grauen des Krieges von uns fernhalten

Die Reaktion auf die fortgesetzten wahllosen Raketenangriffe auf ukrainische Städte ist deshalb – ein Achselzucken, vermischt mit Versuchen, die eigene Verantwortung für die unterlassene Hilfeleistung herunterzuspielen.

Für Letzteres nutzen wir zum einen eine Art Zahlenmagie. Anstatt uns das Leid der einzelnen Menschen, die mitten aus dem Alltag in den Tod gebombt werden, vor Augen zu führen, ergehen wir uns in Rechenspielen: Der wievielte Terrorangriff war das jetzt eigentlich? Und: Am wievielten Tag des Überfalls auf das Land hat er sich ereignet? Wie viele Tote ergibt das jetzt insgesamt?

Zum anderen verstecken wir uns, ähnlich wie viele Menschen in Russland, hinter unserer angeblichen Unwissenheit. Wir schützen uns mit einer Erzählung in der Art von: Der Krieg ist grundsätzlich böse. Und weil er so böse ist, verwischt er auch die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge. Deshalb können wir gar nicht genau wissen, was eigentlich vorgefallen ist.

Die sehr eindeutigen Satellitenbilder, die heutzutage Kriegspropaganda als solche entlarven und Bombenangriffe oder Massengräber sehr deutlich erkennen lassen, missachten wir dabei tunlichst.

Ukrainische Soldaten: ein legitimes Angriffsziel?

Letztlich liegt diese Schein-Objektivität ganz auf einer Linie mit der Kreml-Propaganda, die ja ebenfalls alles daran setzt, die Wahrheit des Krieges zu verschleiern. Hierzu zählt auch die beliebte Unterscheidung zwischen „zivilen“ und „militärischen“ Angriffszielen.

Diese Unterscheidung suggeriert, dass es grundsätzlich legitim sei, wenn die russische Armee militärische Einrichtungen in der Ukraine angreift. Dass es dabei auch zu zivilen Opfern komme, sei zwar bedauerlich, müsse in einem Krieg jedoch als „Kollateralschaden“ hingenommen werden.

Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass wir es in der Ukraine mit einem reinen Angriffskrieg zu tun haben. Wenn dabei militärische Einrichtungen zerstört und Soldaten getötet werden, dient dies folglich nicht – wie in einem Krieg, der die Territorien und die Menschen zweier Länder gleichermaßen betrifft – dem Schutz des eigenen Landes und der eigenen Bevölkerung. Der damit verfolgte Zweck ist vielmehr einzig und allein, die Verteidigung des angegriffenen Landes gegen den Überfall zu verunmöglichen.

Kampf um die Existenzberechtigung des ukrainischen Volkes

Demnach gibt es auch für Angriffe auf militärische Einrichtungen der Ukraine und auf ukrainische Soldaten keinerlei Berechtigung. Bis heute ist der Krieg für die Ukraine ein reiner Verteidigungskrieg. Keine einzige russische Stadt hat bislang das erleben müssen, was für die Menschen in der Ukraine Alltag ist.

Der Ukraine die Verteidigungsmöglichkeiten zu nehmen, ist daher so, als würde man den Bewohnern eines Hauses bei einem Brandanschlag die Feuerlöscher aus der Hand schlagen.

Ebenso dienen ukrainische Männer nicht aus fanatischem Hass auf Russland in der Armee, sondern weil sie gezwungen sind, ihr Land zu verteidigen – was im Falle dieses Angriffskrieges zugleich bedeutet: die eigene Identität als Ukrainer zu verteidigen. Denn eben das Recht, als eigenes Volk zu existieren, wird den Menschen in der Ukraine ja von den Kreml-Führern abgesprochen.

Ein sinnloser Schmerzensschrei?

Hat es Sinn, diesen Schmerzensschrei ins Netz zu stellen? Ja und nein. Gegen das einschläfernde Parlando der Leitmedien wird ein einzelner Blog niemals ankommen – und schon gar nicht gegen das kühle Kalkül der Politik. Andererseits: Schweigen ist auch keine Option. Wer den Glauben in das Wort verliert, glaubt auch nicht mehr an die Tat, dem das Wort zur Geburt verhilft.

Also dokumentiere ich hiermit noch einmal mein Unbehagen an der Art, wie mit dem fortdauernden Massaker in unserer Nachbarschaft umgegangen wird – an dieser Tendenz zur Banalisierung, die sich sowohl in der Berichterstattung als auch in dem politischen Umgang mit den Verbrechen manifestiert.

Hier noch ein Link zu einem Text, der das Ganze in anderer Form ausdrückt:

Kriegschronik

Der erste Mord hatte ein Gesicht für dich: das Gesicht einer alten Frau, die unter den Trümmern ihres Hauses begraben worden war. Entsetzt verlangtest du, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Auch der zweite Mord wandte dir ein Gesicht zu: das eines jungen Soldaten, der am Straßenrand in seinem Blut lag. Empört verlangtest du die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen.

Der dritte Mord traf eine ganze Division. Entrüstet riefst du die Konfliktparteien zur Zurückhaltung auf.

Der vierte Mord brachte eine ganze Stadt zum Einstürzen. Da verlor der Mord sein Gesicht für dich. Auf einmal sahst du überall nur noch Trümmer und Schutt. So richtetest du dein Augenmerk auf den Wiederaufbau und auf Hilfe für die Flüchtlinge.

Der fünfte Mord setzte ein ganzes Land in Brand. Da erinnertest du dich der Friedensreden, die du früher stets an den Feiertagen gehalten hattest. Inbrünstig fordertest du eine Rückkehr an den Verhandlungstisch. Ein schlechter Frieden sei besser als ein guter Krieg, verkündetest du, berauscht von deiner eigenen Weisheit.

Der letzte Mord ist eine Massenvergewaltigung. Interessiert stehst du am Rand des Schlachtfelds und diskutierst mit anderen Experten über die Strategie der Angreifer: Werden sie alle Opfer auf einmal vergewaltigen? Oder doch eher eines nach dem anderen? Werden sie die Opfer zuvor einkesseln, um sie an der Flucht zu hindern? Werden sie überfallsartig in sie eindringen oder sie zuvor fesseln? Werden sie sie vor oder nach der Vergewaltigung töten?

Und die Opfer: Werden sie sich wehren? Wäre es klug, Widerstand zu leisten? Sollten sie sich nicht eher, wie alle wohlerzogenen Lämmer, klaglos in ihr Schicksal ergeben?

aus: Zacharias Mbizo: Die Ukrainische Apokalypse. Literarische Miniaturen (Ebook, analoges Buch oder kostenfreie PDF)

Bilder: Stefan Keller: Trauer (Pixabay); Icheinfach: Apokalypse, Ruinen (Pixabay)

4 Kommentare

  1. Notiz letzte Woche

    Gewalt gehört nun mal
    zum Weltgeschehen dazu,
    will man mehr als die Butter aufs Brot,
    sagte Sophie.
    Wenn ich denen sage
    lasst die Waffen in Ruh,
    nennt man mich
    Mörderin. Denen ist Feind
    oder Nichtfeind egal, die sind
    nur mit Zahlen verbunden,
    sagte Sophie, meine Nachbarin.

    Meine Mutter hat ab 42 die Bunker gemieden.
    Nicht länger wollte sie da
    als Trümmertote und Mörderin enden:
    ihr Kind zu lange ans Angstherz gepresst und erstickt.
    Die Mutter hat mich im Dunkeln
    auf den Rosenhügel im Garten geschoben,
    ein geblümtes Tuch um den kahlen Schädel
    gebunden und sich neben mich
    auf den Boden gelegt.
    Manchmal sang sie ganz leise ein Lied.
    Sie war da.

    Ein paar Bomben jagten als monströse
    Sternschnuppen über uns hinweg.
    Wusste ich das? Ich weiß es nicht.

    Lebenslang blieb ihr Herzschlag
    mein Paniksignal.
    Wenn Lichtblicke sie anfliegen.
    rechnet Sophies Gedächtnis
    mit anschwellender Detonation,
    die jede Zelle sprengt.

    Sieben Jahre lang habe ich meine Mutter
    Zwischen Bett und Bad
    hin und her getragen,
    sieben Jahre lang
    das geblümte Tuch unters Kinn gebunden
    bis zum letzten Tag.

    Bevor sie ihr Gedächtnis verlor,
    sprach sie von dem kleinen Hügel.
    Schön war es,
    sagte meine Mutter,
    aber doch viel zu kurz,
    unsere Körper,
    so nah. Aber du bleibst da.

    Jede Sternschnuppe ein Todesbote,
    sagt Sophie.

    Gefällt 1 Person

  2. Man gewinnt den Eindruck, als seien die Deutschen (und auch andere…) nicht zu ausdauernder Solidarität fähig. Das ist meist ein mehr oder weniger kurzes emotionales Aufflackern. Danach ist man/frau genervt, genervt von dem immer gleichen Bildern von Bomben, Geflüchteten, Trümmern … Genau diese Abstumpfung wie in diesem Text beschrieben, tritt ein. Aber die Menschen sterben und leiden weiter und wir schimpfen über die Preise …und gehen zur Tagesordnung über . Ich erwische mich selbst dabei… Was ich allerdings nicht verstehe, ich diese Opfer-Täter- Umkehr in vielen sozialen Medien. Plötzlich sollen die Ukrainer oder die Europäer an diesem furchtbaren Massaker schuld sein. Danke, dass der rothe Baron hier Kurs hält und einen Angriff einen Angriff und Terror als Terror benennt!

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  3. Die Grenzen der Empathie sind zynisch geworden, Literatur kann nicht handeln, die täglichen Übergänge in den Medien vom Krieg zu den angekratzten Häppchen der Alltagsirritationen (denn zu mehr reicht in der Regel die Betroffenheit nicht über das Unglück der Anderen und die Generalkatastrophe von Klimawandel und Weltvernichtung durch unbegrenzbare, unumkehrbare Gier (EnerGier) und die dazugehörigen Outfits, Gesichter und Gestern sind unerträglich. All diese eingespielten medialen Vermittlungen in den eigenen Alltag mitnehmen, ertragen zu müssen haben etwas Gewalttätiges.

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