Christine Hamels Feature über die Verwurzelung des Putinismus in der Sowjet-Ideologie
Das Rothe Ohr: Radiofeature-Awards/2
Radiofeature-Awards auf rotherbaron – heute: Christine Hamels Feature über die Kontinuität sowjetischer Ideologie in Russland und die Instrumentalisierung der Geschichte für die Propagandamaschinerie des Kremls.
Die Krim – ein Symbol nationaler Größe
Anhand von Impressionen von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim und den Solwojetski(Solowezki)-Inseln im Weißen Meer, den Solowki, zeichnet das Feature von Christine Hamel zentrale Entwicklungslinien der sowjetischen Geschichte nach. Dabei wird zugleich deutlich gemacht, dass und wie die sowjetische Geschichte in der aktuellen russischen Politik nach- und fortwirkt.
Dass die Krim nach 2014 zu einem Symbol nationaler Größe Russlands verklärt werden konnte, ist – wie das Feature zeigt – bereits in der sowjetischen Geschichte angelegt. Herausgestellt wird dabei insbesondere das Pionierlager Artek, das zu Sowjetzeiten ein Versammlungsort der künftigen Elite und ein Modell sowjetischer Erziehung war. An eben diesen speziellen nationalistisch-paramilitärischen Pioniergeist knüpft auch das heutige Nachfolgelager wieder an.
Die Solowjetski-Inseln: Geburtsstätte des sowjetischen Gulag-Systems

Die 500 Kilometer nördlich von St. Petersburg und 150 Kilometer südlich des Polarkreises gelegenen Solowjetski-Inseln gelten als Geburtsstätte des sowjetischen Gulag-Systems. In dem hier Anfang der 1920er Jahre eingerichteten Straflager wurden die Methoden der Isolierung und offenen oder subtilen Folter der Gefangenen sowie das bis zur physischen Erschöpfung reichende System der Zwangsarbeit entwickelt. Hieran orientierten sich auch die später errichteten Straflager.
Quasi-religiöse Überhöhung der Ideologie
Das Feature führt vor Augen, wie in beiden Fällen von Anfang an die Ideologie von Erziehung und Bestrafung quasi-religiös überhöht wurde – so paradox das angesichts des dogmatischen Atheismus des Marxismus-Leninismus auch klingen mag. Auf den Solowjetski-Inseln gibt es durch das dort befindliche Kloster, dessen Mönche anfangs auch als Aufseher in dem Lager gewirkt haben, sogar eine ganz konkrete Verbindung zwischen Kirche und Sowjet-Ideologie.
Im Falle der Krim erfolgt die religiöse Überhöhung durch die russische Geschichtsschreibung, der zufolge die christlich-orthodoxe russische Identität hier ihren Ursprung hat – vermittelt durch den Übertritt eines Kiewer Großfürsten zum christlichen Glauben im Jahr 988. Praktischerweise trug er denselben Namen wie der aktuelle russische Zar – Wladimir.
Explosive Mischung aus Geschichtsvergessenheit und Geschichtsverklärung
Auf kongeniale Weise zeichnet das Feature damit die vom Kreml geschürte Stimmung im Vorkriegsrussland des Jahres 2021 nach, die fast zwangsläufig zu den offenen Kriegshandlungen des Folgejahres führen musste. Entscheidend ist dabei eine Mischung aus Geschichtsvergessenheit und Geschichtsverklärung.
Die Geschichtsvergessenheit betrifft die Verbrechen des Stalinismus, die zugunsten einer Verehrung des nationalen Führers Stalin verharmlost oder verschwiegen werden. Die Geschichtsverklärung bezieht sich auf die Ursprünge der russischen Nation, die auf ein mythisches Zeitalter projiziert werden und letztlich im Nebel eines Gottesgnadentums verschwimmen.
Gewaltsame Bekehrung zum russischen Gottesgnadentum
Auch die von russischen Autoritäten und Streitkräften verübten Gewalttaten werden vor diesem Hintergrund von einem missionarischen Narrativ ummäntelt. Sie erscheinen als notwendiges Übel, um die Welt von der göttlichen Kraft des russischen Weges zu überzeugen.
Symptomatisch hierfür ist ein Propagandaspruch aus dem Solowki-Lager, der in dem Feature zitiert wird:
„Lasst uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben!“
Christine Hamel: Wo Putin Russlands Geschichte fälscht: Weißes Meer – Schwarzes Meer. Solowki[-Inseln] – Krim. Bayerischer Rundfunk, 26. Februar 2022.
Sprecherinnen und Sprecher, Tontechniker, Regisseur und verantwortlicher Redakteur werden im Netz nicht aufgeführt, aber am Ende des Features namentlich erwähnt.
Informationen über Christine Hamel finden sich auf der Website des Picus-Verlags.
Bilder: Henyr Ericsson (1898 – 1933): Gefangenenlager (1919); Helsinki, Finnische Nationalgalerie (Wikimedia commons); Trasprd: Die Klosteranlage auf den Solowjetski-Inseln, 2017 (Wikimedia commons)