Sichtbarer und unsichtbarer Terror

Der Terroranschlag in Istanbul und der türkische Kampf gegen das kurdische Volk

Der Anschlag in Istanbul, bei dem mehrere Menschen getötet worden sind, ist durch nichts zu rechtfertigen. Dennoch darf er nicht isoliert von dem Vorgehen der türkischen Armee gegen die Kurden im eigenen Land sowie in Nordsyrien und im Nordirak betrachtet werden.

Erschreckende Bilder

Feindbild des Kurdentums in der Türkei

Terroristische Terrorbekämpfung

Das türkische Militär als Urheber des „Kurdenkonflikts“

Türkischer Kampf gegen die Kurden: Auch ein Kampf gegen Frauenrechte

Links und Nachweise

Erschreckende Bilder

Es sind in der Tat erschreckende Bilder, die nach dem mutmaßlichen Terroranschlag in Istanbul um die Welt gehen: eine gewaltige Explosion, Menschen laufen in Panik davon, es gibt mehrere Tote und Verletzte.

Derartige Bilder lösen unmittelbar Angst und Mitgefühl aus: Angst, weil der Anschlag sich wahllos gegen alle richtete, die sich am Sonntagnachmittag bei einem Stadtbummel entspannen wollten. So wissen alle, die die Bilder sehen: Es hätte auch sie treffen können. Umso größer ist das Mitgefühl mit jenen, die von dem Anschlag betroffen sind.

Wenn es sich – wovon im Moment auszugehen ist – tatsächlich um einen Terroranschlag gehandelt haben sollte, so ist klar: Eine solche Tat ist durch nichts zu rechtfertigen. Das Töten anderer ist an sich schon eine Todsünde. Wenn es dazu noch eine Steigerung gibt, so ist es das wahllose Töten anderer, ganz egal, welche Gründe die Ausführenden der Tat dafür angeben.

Dennoch muss gefragt werden, wie es zu dem Anschlag kommen konnte. Die Frage nach Erklärungen darf nicht mit der Ebene der Rechtfertigung verwechselt werden. Die Gründe für den Anschlag zu klären, ist vielmehr die Voraussetzung dafür, ähnliche Anschläge in Zukunft verhindern zu können.

Feindbild des Kurdentums in der Türkei

Woher kommt also dieser ungeheure Hass, der jemanden dazu bringt, wahllos andere Menschen zu töten?

Die türkische Regierung zeigt in solchen Fällen reflexartig mit dem Finger auf die PKK, die kurdische Arbeiterpartei, die von ihr wie auch von den meisten westlichen Staaten als „Terrororganisation“ eingestuft wird.

Diese Etikettierung färbt in der Türkei allerdings auch allgemein auf die Sicht des kurdischen Volkes ab. So hebt die Politikwissenschaftlerin Birgit Ammann hervor, dass Präsident Erdoğan „pauschal und ohne jede Hemmung alles Kurdische in der Türkei und in Syrien als Terrorismus“ bezeichne.   

Dabei handelt es sich keineswegs um ein bloßes Stereotyp. Vielmehr ist die pauschale Verteufelung der kurdischen Kultur die Grundlage für den Kampf gegen das kurdische Volk, den die türkische Armee nun schon seit fast hundert Jahren führt.

Terroristische Terrorbekämpfung

Die Türkei nimmt sich dabei nicht nur das Recht heraus, immer wieder mit Militäreinsätzen und willkürlichen Verhaftungen gewählter Bürgermeister in den Kurdengebieten ihren Machtanspruch durchzusetzen. Sie hat darüber hinaus auch weite Gebiete in den angrenzenden autonomen Kurdenregionen im Nordirak und in Nordsyrien besetzt.

In beiden Regionen kommt es zudem immer wieder zu türkischen Militärschlägen. Diese von der türkischen Regierung als „Terrorbekämpfung“ propagierten Angriffe haben schon zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. Wie Birgit Ammann berichtet, sind dadurch etwa Familien beim Picknicken von Drohnen oder Jugendliche beim Fischen in den Bergen von Raketen getroffen worden.

Die Angriffe der türkischen Armee in den Kurdengebieten töten damit genauso wahllos Menschen, wie das bei dem Anschlag in Istanbul geschehen ist. Der Unterschied ist nur, dass über diese Tötungen nicht in den Hauptnachrichten berichtet wird. Das eine wird verschwiegen oder als Kollateralschaden hingenommen, das andere öffentlich verurteilt und beklagt.

So entsteht ein schiefes Bild, das im Kern auf der türkischen Sichtweise des Geschehens beruht. Demnach sind die Kurden die Terroristen, während man selbst nur Gewalt anwendet, um sich gegen den Terrorismus der anderen zu verteidigen. Dass dieses Bild realitätsfremd und geschichtsvergessen ist, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Das türkische Militär als Urheber des „Kurdenkonflikts“

Es war die türkische Armee unter Mustafa Kemal „Atatürk“ („Vater der Türken“), die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs den 1920 geschlossenen Vertrag von Sèvres gebrochen hat. Wenn sich diese nationale Erhebung auch vor allem gegen Griechenland und die griechische Minderheit im eigenen Land gerichtet hat, so wurden damit doch auch die Selbstbestimmungsrechte hinfällig, die den Kurden in diesem Vertrag zugesichert worden waren.

Die Türkei ist dafür von der internationalen Gemeinschaft 1923 im Vertrag von Lausanne mit der Anerkennung als Nationalstaat belohnt worden. In diesem sind die kurdische Sprache und Kultur lange Zeit systematisch unterdrückt worden, und die Kurden selbst durften nur als „Bergtürken“ tituliert werden – so dass de facto die Existenz als Kurde unter Strafe gestellt war.

Die nach kultureller Autonomie in der Kurdenregion beantwortete die türkische Armee 1937/38 mit einem Vernichtungsfeldzug, in dem zehntausende  Menschen getötet wurden. Als Zeichen ihres Sieges und als Mahnung für die Zukunft benannte die türkische Regierung die Region nach dem Massaker um: Aus Dersim (kurdisch „silbernes Tor“) wurde Tunceli (türkisch „eiserne Hand“).

Auf die seit den 1970er Jahren wieder verstärkt zum Ausdruck gebrachten Selbstbestimmungswünsche der kurdischen Bevölkerung reagierte die türkische Regierung nicht anders als vierzig Jahre zuvor. Wieder folgten massive Militäreinsätze, wieder wurden Dörfer zerstört und Menschen zwangsumgesiedelt. Dass sich 1978 mit der PKK eine Organisation gegründet hat, die das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes auch unter Anwendung von Gewalt durchsetzen möchte, ist eine unmittelbare Folge dieser Politik.

Dies alles bleibt unberücksichtigt, wenn die türkische Sprachregelung vom Kampf gegen den „kurdischen Terror“ unhinterfragt übernommen wird. Die kurdischen Wünsche nach kultureller Selbstbestimmung werden so auf eine Stufe mit Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat gestellt – und es wird außer Acht gelassen, dass die Türkei selbst sich im Kampf gegen das kurdische Volk staatsterroristischer Mittel bedient.

Türkischer Kampf gegen die Kurden: Auch ein Kampf gegen Frauenrechte

Aufschlussreich ist schließlich auch, dass nach dem Istanbuler Anschlag in türkischen Medien schnell von einer weiblichen Attentäterin die Rede war. Unabhängig davon, ob dies der Wahrheit entspricht, verweist die rasche Festlegung auf eine Frau als Urheberin des Anschlags auf ein zusätzliches Element des Hasses, mit dem das Kurdentum von traditionalistischen Anhängern des Islams wie Präsident Erdoğan verfolgt wird.

Die kurdischen Frauen hatten einen wesentlichen Anteil an der Vertreibung des so genannten „Islamischen Staates“ aus den von ihm beherrschten Gebieten in Nordsyrien und dem Nordirak. Sie, die unter den Steinzeitislamisten ganz besonders zu leiden hatten, hatten auch die größte Kraft, sich gegen deren Willkürherrschaft zur Wehr zu setzen.

Das daraus entstandene weibliche Selbstbewusstsein hat sich in den befreiten Gebieten auch in eine stärkere Beteiligung von Frauen an der kurdischen Selbstverwaltung übertragen. In Nordsyrien gibt es sogar ganze Dörfer, in denen allein Frauen das Sagen haben. Hier ist es zu neuen Formen eines solidarischen Miteinanders gekommen, die sich ganz bewusst von den patriarchalischen Machtstrukturen absetzen.

Im patriarchalisch geprägten Denken der türkischen Regierungspartei fungiert folglich die kurdische Frau als Steigerung des Feindbilds des kurdischen Volkes. Der Kampf gegen Letzteres soll demnach auch der Eindämmung von Frauenrechten und einer von Weiblichkeit geprägten antipatriarchalischen Kultur dienen.

Auch dies sollte sich vor Augen halten, wer der pauschalen Verurteilung alles Kurdischen als „terroristisch“ durch die türkische Regierung folgt. Dies missachtet nicht nur die Selbstbestimmungsrechte des kurdischen Volkes. Es schadet vielmehr auch dem ohnehin schon äußerst mühsamen Kampf, den Frauen in der islamischen Welt für mehr Gleichberechtigung führen.

Zitate von Birgit Amman entnommen aus:

Interview mit André Zanto im Rahmen der Sendung

Frauenrevolution in Nordsyrien: Mit Willen und Waffen; darin auch die Reportage über weibliche Selbstverwaltung in Nordsyrien von Linda Peikert; Deutschlandfunk Kultur, Weltzeit, 8.  November 2022;

Ausführlichere Informationen zu kurdischer Kultur und Geschichte:

Wagner, Hans: Die Kurden – Geschichte, Kultur und Hintergründe. Eurasisches Magazin, 2. Mai 2020; auch sehr informativ: die Website The Kurdish Project.

Zum Dersim-Massaker:

Kieser, Hans-Lukas: The Dersim Massacre, 1937-38; Juli 2011, sciencespo.fr.

Hirsch, Helga: Das vergessene Massaker der Türken an den Aleviten. Welt.de, 25. November 2011.

Welke, Doreen / Zimmermann, Christian: Die Andere Türkei: Dersim (2011). Dokumentarfilm mit Bilddokumenten und Augenzeugenberichten.

Zum Vertrag von Sèvres und den Folgen:

Brendel, Gerd: 100 Jahre Vertrag von Sèvres: Das unverdaute Ende des Osmanischen Reichs. Radiofeature, Deutschlandfunk Kultur, 29. Juli 2020.

Zu rassistischer Beleidigung und Unterdrückung von Kurden in der Türkei:

Özkan, Mehmet: Türkischer Rassismus im Nationalstaat Türkei am Beispiel der Kurden. Kurdistan heute Nr. 16-17, Oktober/November 1995 – Januar/Februar 1996.

Schneider, Anna-Sophie: Kurdische Bürgermeister in der Türkei: Vom Volk gewählt, von Erdoğan abgesetzt. Der Spiegel, 6. November 2019.

Zur schwierigen Lage der Menschen im kurdischen Autonomiegebiet im Nordosten Syriens:

Helberg, Kristin: Syriens Autonomiegebiet: Kurden fühlen sich im Stich gelassen. Deutschlandfunk Kultur, 30. November 2021.

Bilder: Muzaffer Karademir: Frau im Munzur-Gebirge in der Provinz Dersim (Tunceli); Pixabay (leicht verändert);Salar Arkan: Kurdisches Mädchen im iranischen Ort Palangan, einen Stab zum Entzünden des Festfeuers anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes (Nowruz) in der Hand haltend (2017); Wikimedia commons

Ein Kommentar

  1. Danke!- Guter Text und gute Hinweise!!!!! – Da man die Türkei „braucht“, lässt man ihrer Regierung alles durchgehen und übernimmt ihr Wording den Kurden gegenüber. Die Menschen Kurdistans sind der Bundesregierung und der deutschen Öffentlichkeit genauso gleichgültig wie die Uiguren in China. … und die Samen in Norwegen (denen die Stadtwerke München Windräder in ihr Weideland gerammt haben). Letztendlich geht es immer nur um UNSERE Interessen und danach wird das mediale Weltbild gestrickt. Menschenrechte?

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