Ein Pyrrhussieg der Demokratie

Zur Entscheidung für eine Wiederholung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus

Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetensatz müssen wiederholt werden. Klingt nach einem Sieg der Demokratie. In Wahrheit nähern sich die Wahlen so aber erst recht der Ziehung der Lottozahlen an.

Berliner Wahlchaos

Eine Wahlwiederholung setzt die Erfindung einer Zeitmaschine voraus

Midterm-Effekt bei erneuter Stimmabgabe

Chaotische Behebung des Wahlchaos

Perfekter Ablauf der Wahlen = perfekte Demokratie?

Undemokratische Elemente demokratischer Wahlen

Förderung lebendiger Demokratie statt Wahrung des schönen Scheins

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Berliner Wahlchaos

Nun ist es also entschieden: Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus müssen nach einem Urteil des Berliner Landesverfassungsgerichts wiederholt werden. Vielleicht hatte das Gericht bei dieser Entscheidung über Wahlen paradoxerweise – keine andere Wahl. Dennoch wirft das Urteil zumindest einige Fragen auf, die an seiner Berechtigung zweifeln lassen.

Unstrittig ist zunächst: Die Wahlen sind nicht regulär abgelaufen. Viele Wahlberechtigte hatten bei der vorgesehenen Schließungszeit der Wahllokale ihre Stimmen noch nicht abgegeben. Einige durften daraufhin auch nach 18 Uhr, als die ersten Prognosen bereits über die Bildschirme flimmerten, noch ihre Stimmzettel einwerfen. Andere gingen frustriert nach Hause. Dazu gab es vielerorts nicht genug Wahlzettel.

Dass so etwas zu Verzerrungen führt, liegt auf der Hand. Aber: Waren diese Verzerrungen so groß, dass sie das gesamte Wahlergebnis in Frage stellen? Rechtfertigen die Verzerrungen also den ungeheuren Aufwand, der für eine Wahlwiederholung erforderlich ist? Und: Ist eine echte Wiederholung der Wahl überhaupt möglich?

Eine Wahlwiederholung setzt die Erfindung einer Zeitmaschine voraus

Fangen wir mit der letzten Frage an. Die Antwort erscheint zunächst eindeutig: Natürlich ist eine Wiederholung der Wahl möglich. Es muss nur ein neuer Termin angesetzt werden, dieses Mal wird auf einen ordnungsgemäßen Ablauf der Stimmabgabe geachtet, und schon – Simsalabim! – ist die Wahlgerechtigkeit wiederhergestellt.

Diese Argumentation lässt jedoch ein wesentliches Merkmal unserer Demokratie außer Acht. Bei uns wird demokratische Mitbestimmung nicht als permanenter Prozess verstanden. Stattdessen erhalten die Wahlberechtigten turnusmäßig die Gelegenheit, Personen zu bestimmen, auf die sie ihre Mitbestimmungsrechte übertragen.

Dies führt dazu, dass die Wahlen stark stimmungsabhängig sind. Es geht jeweils nicht um einzelne Sachentscheidungen, sondern um die Frage, wie zufrieden die Einzelnen mit ihrer Gesamtsituation sind und wie stark sie die Einschätzung ihrer persönlichen Lage mit der Politik der jeweiligen Regierungen verknüpfen.

Damit ist klar: Eine echte Wahlwiederholung setzt im Grunde die vorherige Erfindung einer Zeitmaschine voraus. Denn „Wahlwiederholung“ bedeutet eben nicht „Neuwahl“. Das Konstrukt geht vielmehr davon aus, dass auf der Basis der früheren Situation noch einmal abgestimmt wird, unter Vermeidung der beklagten Unregelmäßigkeiten.

Midterm-Effekt bei erneuter Stimmabgabe

Ein solches Konstrukt geht jedoch an der Realität vorbei. Zum für die erneute Stimmabgabe angestrebten Zeitpunkt im nächsten Februar werden die nun für ungültig erklärten Wahlen fast anderthalb Jahre her sein. Damit haben wir fast eine Art Midterm-Situation.

Wie in den USA, wo die Wahlen zu Senat und Repräsentantenhaus zwischen zwei Präsidentschaftswahlen stets auch der Bewertung der Arbeit des aktuellen Präsidenten dienen, werden auch die Wahlberechtigten in Berlin zwangsläufig der bisherigen Regierungsarbeit ein Zeugnis ausstellen. Dadurch aber wird aus der Wahlwiederholung de facto eine Neuwahl.

Auch die weltpolitische Lage und die Zufriedenheit mit der Bundesregierung, die im Februar ebenfalls über ein Jahr im Amt gewesen sein wird, werden in die Wahlentscheidung miteinfließen. Zudem haben sich auch mediale Präsenz und öffentliche Wahrnehmung der einzelnen Parteien und der maßgeblichen Personen in der Zwischenzeit verändert. Die Wahlen werden also auf einer völlig neuen Grundlage stattfinden.

Chaotische Behebung des Wahlchaos

Wahlwiederholung müsste schließlich auch bedeuten: Es stimmen genau dieselben Personen ab wie im September 2021, nur dass dieses Mal alle den gleichen Zugang zu den Wahllokalen haben. Hier aber scheitert die Forderung nach einer Wiederherstellung der Demokratie an der Demokratie selbst. Denn die anonyme Stimmabgabe ist nun einmal ein Grundprinzip demokratischer Wahlen. Wer seinerzeit abgestimmt hat oder abstimmen wollte, es aber nicht konnte, lässt sich heute nicht mehr ermitteln.

Die Folge: Es wird noch nicht einmal versucht, die Wahl auf der Basis der damaligen Wahlberechtigten zu wiederholen. Stattdessen dürfen alle abstimmen, die zum Zeitpunkt des neuen Wahltermins die formalen Voraussetzungen dafür erfüllen.

Die auf den Wahlzetteln stehenden Namenslisten dürfen dagegen nicht erweitert werden – so, als hätten die dazugehörigen Personen sich einfrieren lassen, wenn sie nicht ins Parlament gewählt worden sind. Die Realität ihrer veränderten Lebensperspektiven bleibt außer Acht. Auch hier bräuchte man also eine Zeitmaschine, um eine echte Wahlwiederholung zu ermöglichen.

Perfekter Ablauf der Wahlen = perfekte Demokratie?

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts suggeriert, dass der Wille der Wahlberechtigten in vollkommener Weise widergespiegelt wird, wenn die Wahlen wiederholt werden. Dies aber ist mitnichten der Fall.

Es fängt schon damit an, dass wir in Deutschland keine Wahlpflicht haben. Die Zusammensetzung der Parlamente hängt daher stark von der Motivation der Wahlberechtigten ab – und die ist umso höher, je mehr Letztere sich von der Politik vertreten und in der Gesellschaft zu Hause fühlen. In unserer noch immer an der weißen Mittelschicht orientierten Politik ist das aber für viele nicht der Fall.

Diese Menschen bleiben an Wahltagen im Zweifelsfall eher zu Hause, weil sie den Eindruck haben, dass die Politik an ihren Bedürfnissen ohnehin vorbeigeht – ganz egal, wer jeweils regiert. Die wochenlangen Berichte über das Wahlchaos werden ihre Motivation, sich an den Wahlen zu beteiligen, kaum erhöhen. Dies könnte die Wahlbeteiligung negativ beeinflussen – und so das Ergebnis noch weiter verzerren.

Undemokratische Elemente demokratischer Wahlen

Unser Wahlsystem weist darüber hinaus aber auch strukturelle Unzulänglichkeiten auf. Das beste Beispiel dafür ist die Sperrklausel. Bei Bundestagswahlen bedeutet sie, dass eine Partei mit 4,9 Prozent der Stimmen draußen vor der Tür bleiben muss.

Übersetzt in Wahlberechtigten-Zahlen heißt das: Die Stimmen von rund 3 Millionen Wahlberechtigten fliegen einfach in die Mülltonne. Ihnen wird noch nicht einmal die Möglichkeit gegeben, beispielsweise mit einer Ersatzstimme eine Partei zu bestimmen, auf die sie in einem solchen Fall ihre Stimme übertragen würden.

Unser Wahlsystem nimmt also achselzuckend in Kauf, dass eine so große Zahl von Stimmen unberücksichtigt bleibt und die Zusammensetzung des Parlaments dadurch massiv verzerrt wird. Im Vergleich dazu fallen die Verzerrungen, die sich durch die Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Berlin ergeben haben, kaum ins Gewicht.

Im Übrigen führt die Benachteiligung der kleineren Parteien auch dazu, dass diese schon im Vorfeld der Wahlen weniger Beachtung bekommen. Die geringere Beachtung durch die Wahlberechtigten – die um die Nichtberücksichtigung ihrer Stimme fürchten – potenziert sich dabei durch die geringere Vertretung kleiner und vor allem neuer Parteien in den Medien.

So findet auch bei uns etwas statt, das wir gerne kritisieren, wenn es um die Schein-Wahlen in autoritären Staaten geht: dass die Gleichberechtigung der zur Wahl stehenden Personen und Parteien schon durch eine Ungleichbehandlung im Wahlkampf unterminiert wird.

Förderung lebendiger Demokratie statt Wahrung des schönen Scheins

Natürlich stellt sich nun die Frage: Was wäre denn die Alternative gewesen? Hätte das unter irregulären Verhältnissen zustande gekommene Wahlergebnis in Berlin einfach so akzeptiert werden sollen? Hätten wir einfach schulterzuckend zur Tagesordnung übergehen sollen, wie nach all den Wahltagen, an denen Parteien sich nur deshalb in Siegespose werfen konnten, weil andere Parteien von der 5%-Hürde ins demokratische Abseits gestellt wurden?

Nein, natürlich nicht. Wenn uns aber nun einmal keine Zeitmaschine zur Verfügung steht und eine echte Wahlwiederholung damit nicht möglich ist, sollte vielleicht besser abgewogen werden.

Allein die Organisation der erneuten Wahlen verursacht Kosten in Höhe von rund 40 Millionen Euro. Hinzu kommen die Gelder, die die Parteien für Wahlwerbung und Rekrutierung von Personal aufwenden müssen. Könnte dieses Geld nicht sinnvoller ausgegeben werden als für eine fragwürdige Wahlwiederholung?

Mit all den Millionen ließe sich nicht nur eine Kommission finanzieren, durch deren Arbeit die korrekte Durchführung künftiger Wahlen sichergestellt werden könnte. Damit ließen sich auch hervorragend Formen lebendiger demokratischer Mitbestimmung unterstützen. Bürgersprechstunden könnten erweitert, basisdemokratische Projekte gefördert und die Kommunikation zwischen Ämtern und den Menschen, die mit deren Arbeit zu leben haben, verbessert werden.

Stattdessen geschieht nun das Gegenteil: Monatelang wird der demokratische Alltag erschwert bis außer Kraft gesetzt, um einem formalen Akt Genüge zu tun. So bleibt am Ende der Eindruck, dass es in erster Linie darum geht, den Anschein perfekter Demokratie zu wahren. Wie es im Alltag um demokratische Mitbestimmungsrechte bestellt ist, erscheint dagegen zweitrangig.

NTV: 40 Millionen Euro Kosten: Wahl in Berlin muss komplett wiederholt werden; 16. November 2022.

RBB24: Fragen und Antworten: Das sollten sie zu den Wahlwiederholungen in Berlin wissen; rbb24 Inforadio, 16. November 2022.

Bild: OpenClipart-Vectors: Lotterie (Pixabay)

3 Kommentare

  1. Das ist wirklich eine interessante Einschätzung, die leider weder in der Entscheidung noch in der Debatte irgendeine Rolle gespielt hat. es muss deutlich mehr Diskurse über „Demokratie“ und was sie ausmacht geben anstatt sich auf formale Akte zurückzuziehen,

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