Mediales Gähnen

Zu Abstumpfungstendenzen in der Berichterstattung über die Ukraine

Die russische Armee praktiziert in der Ukraine eine mittelalterliche Kriegsführung mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts. Der mediale Aufschrei darüber nimmt jedoch immer mehr ab, je alltäglicher diese Barbarei wird.

9/11: Entsetzen über einen außergewöhnlichen Terroranschlag

Wenn 9/11 kein singuläres Ereignis gewesen wäre

Das Außergewöhnliche wird gewöhnlich: Terror in der Ukraine

Mediale Berichterstattung: Orientierung am Sensationswert einer Meldung

„Kriegsverbrechen“ durch ukrainische Soldaten?

Entlastende Wirkung durch schiefe Berichterstattung

Notwendigkeit stärkerer Konzentration auf Einzelschicksale

9/11: Entsetzen über einen außergewöhnlichen Terroranschlag

New York, 11. September 2001, 8.46 Uhr Ortszeit: Ein von Terroristen gekapertes Flugzeug der American Airlines wird in den Nordturm des World Trade Centers gesteuert.

Wenige Minuten später rast ein weiteres Passagierflugzeug in den Südturm der Twin Towers. Der durch die Einschläge ausgelöste Brand führt dazu, dass beide Türme innerhalb von anderthalb Stunden in sich zusammenfallen. Neben den Flugzeugentführern sterben insgesamt 2.977 Menschen durch die Anschläge. Unzählige erleiden schwerste physische und psychische Verletzungen.

Die Folge: Weltweite Bestürzung. Empörung allerorten, Trauer, Wut und Rufe nach Vergeltung. Tagelang wird in Dauerschleife von den Ereignissen berichtet, wochenlang beherrschen die Anschläge die Berichterstattung.

Wenn 9/11 kein singuläres Ereignis gewesen wäre

Was aber wäre gewesen, wenn es nicht bei den Anschlägen dieses einen Tages geblieben wäre? Wenn die Anschläge sich in den folgenden Tagen, Wochen, Monaten fortgesetzt hätten? Wenn jeden Tag an einem anderen Ort Hochhäuser von entführten Flugzeugen, Raketen, Sprengsätzen getroffen worden wären? Wenn schließlich auch die US-amerikanische Infrastruktur angegriffen und für immer mehr Haushalte die Strom- und Wasserversorgung gekappt worden wäre?

Dann hätte sich vielleicht irgendwann eine gewisse Routine in die Berichterstattung eingeschlichen. In der Art von: „Auch heute sind wieder amerikanische Hochhäuser ins Visier von Terroristen geraten. Die Gesamtzahl der angegriffenen Objekte liegt inzwischen bei Soundsoviel, wobei die Attacken in letzter Zeit ein wenig an Intensität abgenommen haben.“

Mit anderen Worten: An die Stelle der konkreten Schicksale wären Zahlen und Statistiken getreten. Ausführliche Berichte hätte es nur noch zu außergewöhnlichen Ereignissen gegeben, durch welche die Routine des alltäglich gewordenen Grauens durchbrochen worden wäre.

Das Außergewöhnliche wird gewöhnlich: Terror in der Ukraine

Genau das passiert derzeit in der Berichterstattung über die Ukraine. Als das erste Hochhaus einer ukrainischen Großstadt von russischen Raketen getroffen wurde, war das noch eine Schlagzeile in Großbuchstaben wert.

Nun aber, da täglich unzählige Hochhäuser in unzähligen Städten getroffen werden und dazu noch die Infrastruktur des Landes systematisch zerstört wird, haben die Anschläge keinen Sensationswert mehr. Das Grauen des Terrors ist alltäglich geworden.

Für die einzelnen Menschen, die bei den Anschlägen zu Tode kommen, obdachlos werden oder mitten im Winter ohne Heizung, Wasser und Strom dastehen, ist es allerdings egal, ob ihre Schicksale am Anfang oder am Ende einer Anschlagsserie stehen. Der Effekt des Terrors ist derselbe, ihr Leben ist nicht weniger zerstört, weil zuvor schon andere Existenzen vernichtet worden sind.

Mediale Berichterstattung: Orientierung am Sensationswert einer Meldung

Die Logik der medialen Berichterstattung orientiert sich aber eben nicht an Einzelschicksalen. Für sie ist der Sensationswert einer Meldung entscheidend. Berichtet wird stets über das Außergewöhnliche. Das Gewöhnliche tritt dagegen in den Hintergrund, so schrecklich es auch sein mag.

Dies hat in letzter Zeit immer wieder dazu geführt, dass ausführlich über mögliche Verfehlungen der ukrainischen Armee berichtet worden ist. Denn Letztere sind in diesem Krieg das Außergewöhnliche – während die Terroranschläge der russischen Armee das Gewöhnliche, Alltägliche sind.

„Kriegsverbrechen“ durch ukrainische Soldaten?

Jüngstes Beispiel ist die Tötung von russischen Kriegsgefangenen durch ukrainische Soldaten. Der wahrscheinliche Ablauf des Vorfalls: Einer der russischen Soldaten hat nur so getan, als würde er sich gefangen nehmen lassen, dann aber das Feuer auf die ukrainischen Soldaten eröffnet. Daraufhin haben diese zurückgeschossen und dabei auch die übrigen Gegner getötet.

Natürlich ist dieses Verhalten nicht zu rechtfertigen. Allerdings muss man sich hier den Stress vor Augen halten, unter dem die ukrainischen Soldaten standen: die Spannung, die in der Luft lag, als Menschen, die einen eben noch töten wollten, auf einmal mit dem Gewehr in der Hand auf die Gegenseite zugingen: Werden sie die Waffen wirklich ablegen?

In einer solchen Situation kann es schnell zu einer Kurzschlusshandlung kommen. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die ukrainischen Soldaten wahrscheinlich selbst schon Kameraden sterben sehen mussten und vielleicht auch getötete Angehörige in ihren Familien haben. So sind diese Tötungen wohl – so sehr sie auch zu verurteilen sind – rein juristisch als „Totschlag im Affekt“ einzustufen.

Eben dies gilt aber für die vom Kreml beauftragten Terroranschläge der russischen Armee auf russische Hochhäuser und Infrastruktur nicht. Hier handelt es sich um eine geplante, systematische Vorgehensweise, die ganz gezielt die Lebensgrundlagen eines anderen Volkes in Trümmer legen soll. Juristisch gesprochen haben wir es hier also mit vorsätzlichem Massenmord zu tun.

Entlastende Wirkung durch schiefe Berichterstattung

Wenn nun aber der alltägliche Terror der russischen Armee in den Medien in den Hintergrund tritt, weil er das Gewöhnliche ist, und stattdessen ausführlich über das außergewöhnliche Ereignis eines illegitimen Umgangs ukrainischer mit russischen Soldaten berichtet wird, ergibt sich ein schiefes Bild. Dann entsteht der Eindruck, als würde auf beiden Seiten wahllos gemordet, und als trügen beide Seiten gleichermaßen die Verantwortung für das Verbrechen dieses Krieges.

Auf diese Weise wird nicht nur die russische Verantwortung für diesen Angriffskrieg verschleiert – der ja eben deshalb auch allein auf ukrainischem Territorium stattfindet. Es ergibt sich so auch eine entlastende Wirkung für Politik und Öffentlichkeit im Westen.

Das Bild zweier wilder Tiere, die irgendwo im Osten übereinander herfallen, macht es viel einfacher, den Blick von den schrecklichen Ereignissen abzuwenden und die Hilfe für die vom Terror betroffenen Menschen einzuschränken. Und natürlich ist es aus dieser Perspektive auch gleichgültig, ob die Ukraine am Ende ihre Freiheit behält oder unter russische Oberhoheit gerät.

Notwendigkeit stärkerer Konzentration auf Einzelschicksale

Man kann den Medien zugutehalten, dass die Kriegsführung der russischen Armee in der Tat unser Vorstellungvermögen übersteigt. Im Grunde handelt es sich hier um eine mittelalterliche Kriegsführung, die mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts umgesetzt wird.

Andererseits müssten wir uns gerade dann, wenn wir uns dies vor Augen führen, mit allen Mitteln dagegen wehren, dass dieses Außergewöhnliche nun zum Gewöhnlichen wird. Und dies müsste sich dann eben auch in der Berichterstattung über die Ereignisse widerspiegeln.

Hierfür müsste noch nicht einmal die um das Primat des Außergewöhnlichen kreisende mediale Logik durchbrochen werden. Man müsste nur die Perspektive der Einzelnen übernehmen, für die es immer und in jedem Fall etwas Außergewöhnliches ist, wenn ihr Leben zerstört wird.

Mit etwas Phantasie ließe sich dies auch unter den erschwerten Bedingungen einer Berichterstattung aus Kriegsgebieten umsetzen. Schon die Einrichtung einer Hotline, über die Betroffene von den Auswirkungen der Terroranschläge berichten könnten, wäre ein Schritt hin zu einer Berichterstattung, die sich der Wirklichkeit dieses Krieges besser annähert als abstrakte Opferzahlen und Schaubilder über Truppenbewegungen.

Bild: ID 12019: Soldat (Pixabay)

Ein Kommentar

  1. Das ist sehr richtig: Das Leben und das Leiden der ganz konkreten Menschen gerät völlig aus dem Blick!- Was ich seltsam finde: Bei anderen Themen werden ganz allgemeine Dinge „personalisiert“. Das wirkt zum Teil schon albern. Wenn es zum Beispiel um eine neuen Bußgeldkatalog geht ein Betroffener interviewt wird und die Radio-Reportage mit „Hans Meier, schlank, Mitte dreißig Rollkragenpullover wurde geblitzt“ beginnt. … Ja, da kann sich der „gemeine Hörer“ dann identifizieren.
    Eine solche Barbarei, solche Grausamkeiten, wie sie die Menschen in der Ukraine erleiden, liegt völlig außerhalb des Erfahrungshorizontes der meisten westlichen HörerInnen. Es ist alles so ungeheuerlich, dass wir die konkreten Schicksale lieber verdrängen und nicht an uns ranlassen wollen. Da fachsimpeln wir lieber über Kriegsstrategien oder suchen einen Grund dafür, dass die UkrainerInnen es nicht besser verdient haben und irgendwie auch ein bisschen an dem Ganzen Schuld sind.
    Kurz und gut: Herr Baron, Sie legen den Finger in die Wunde eines teilweise moralisch fragwürdigen Journalismus.

    Gefällt 1 Person

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