Weltmeisterschaft der Scheinheiligen

WM in Katar: Entertainment mit einem Schuss moralischer Empörung

Alle wissen: Die Fußball-WM in Katar ist ein einziger Skandal. Trotzdem werden wir in Dauerschleife für teures Geld mit den Spielen beschallt werden. So ist das Ganze ein Lehrbeispiel für gelebte Heuchelei.

Umfrage mit erwartbarem Ergebnis

56 Prozent der Deutschen wollen sich laut einer Umfrage von Infratest dimap keine Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Katar im Fernsehen anschauen – 63 Prozent der Frauen und 48 Prozent der Männer. Nur etwa ein Drittel der Befragten gab an, die Spiele im Fernsehen verfolgen zu wollen (1).

Ist das ein Beleg für die moralische Integrität der Deutschen? Oder ist es vielleicht doch eher ein Beispiel aus der Rubrik „erwünschtes Antwortverhalten“?

Denn: Was sollen die Menschen auch antworten? Sollen sie etwa sagen: „Die Situation der ausgebeuteten Arbeiter auf den WM-Baustellen und der missbrauchten Dienstmädchen in katarischen Haushalten ist mir ganz egal. Auch die Feudalherrschaft einer 10-Prozent-Minderheit über 90 Prozent zugewanderte Arbeitssklaven ohne Bürgerrechte interessiert mich nicht. Hauptsache, die Show stimmt!“?

Nein, eine solche Antwort verkneift man sich lieber in den entsprechenden Befragungen. Es kostet ja auch nichts, sich in den Umfragen als menschenrechtsbewegt zu präsentieren. Wie man sich dann später in der guten Stube vor dem Fernseher verhält, ist eine andere Sache.

Überflüssige, überbezahlte Übertragungsrechte

So lädt die Befragung geradezu zu Heuchelei ein. Und nicht nur das: Schon die Initiative zu der Umfrage offenbart ein Höchstmaß an Scheinheiligkeit. Als Auftraggeber firmiert nämlich neben dem ARD-Morgenmagazin ausgerechnet die Sportschau-Redaktion desselben Senders – eben jenes Senders also, der in den kommenden vier Wochen mit dem ZDF in Dauerschleife von den Spielen berichten wird.

Was war also das Ziel der Umfrage? Wollte man damit vielleicht die Refinanzierung der exorbitanten Kosten für die WM-Übertragungsrechte erschweren?

Anders gefragt: Wäre es nicht vielleicht sinnvoller gewesen, eine entsprechende Umfrage gleich nach der Doppelvergabe der WM an Russland und Katar im Dezember 2010 durchzuführen?

Wenn die Befragten dann ebenfalls das erwünschte Antwortverhalten gezeigt und sportliche Großveranstaltungen als Imagepflege autoritärer Regime abgelehnt hätten, hätte man einen guten Grund gehabt, auf die Übertragungsrechte zu verzichten. Allein für die WM in Katar hätte das mal eben 214 Millionen Euro eingespart, für die WM in Russland sogar noch vier Millionen mehr (2) – öffentliche Gebührengelder, mit denen sich unzählige mediale Qualitätsprodukte hätten finanzieren lassen.

Hinzu kommt, dass Katar seinen einstmals liberalen Vorzeigesender Al Jazeera kurz nach dem Zuschlag für die WM in eine Brutstätte des Islamismus umgewandelt hat. So wurde nicht nur der Arabische Frühling durch fundamentalistische Kräfte unterwandert. Indirekt wurde so auch der islamistische Terrorismus gefördert. Dies wäre erst recht ein Grund gewesen, die Finger von den Übertragungsrechten zu lassen.

Unpolitische Spiele mit politischer Botschaft

Scheinheilig ist allerdings nicht nur der mediale Umgang mit der WM. Übertroffen wird die Heuchelei noch von den Veranstaltern des Großereignisses. „Unpolitisch“ soll es laut FIFA sein, ein reines Fest des Fußballs.

Dabei war allein schon die Vergabe der Weltmeisterschaften an Russland und Katar eine hochpolitische Entscheidung. Abgesehen von der politischen Strippenzieherei im Vorfeld der Wahl ist es eben schon an sich ein politisches Statement, wenn der Fußball zu einer Hure gemacht wird, die sich an den Meistbietenden verkauft – und seien es autoritäre Herrscher, die ihre menschenverachtende Politik durch Bilder glücklicher Menschen in schönen Stadien kaschieren wollen.

Nun, da die WM sich nicht mehr aufhalten lässt, heißt es aus Kreisen von Mannschaften und Delegationen: „Machen wir doch das Beste daraus! Seien wir Botschafter für eine gerechtere Gesellschaft, die die grundlegenden Rechte aller Menschen gleichermaßen achtet!“

Eine schöne Idee. Wie sie sich umsetzen lässt, durften wir gleich bei dem ersten Höhepunkt dieser WM beobachten – dem Trainingslager der dänischen Nationalmannschaft. Diese wollte auf ihre Trainingsshirts den Schriftzug „Human Rights for All“ drucken lassen (3). Nicht gerade eine umstürzlerische Botschaft – und erst recht keine unmittelbare Kritik am katarischen Herrscherhaus. Trotzdem war der FIFA sogar eine solche allgemein gehaltene Aussage zu viel. Die Dänen durften ihre Trikots nicht mit der frohen Botschaft schmücken.

Die Schwundform hiervon ist der alles und nichts aussagende Schriftzug „One Love“, mit dem nun u.a. der DFB die Kapitänsbinde schmücken möchte – wozu sich passenderweise auch der deutsche ESC-Klassiker „Ein bisschen Frieden“ trällern ließe. Selbst dieses Allerweltsbekenntnis – im Übrigen abgekupfert von dem FIFA-Musikalbum zur WM 2014 (One Love, One Rhythm) – halten manche Delegationen allerdings für eine garstige Unbotmäßigkeit gegenüber dem Gastgeberland.

Angeführt werden diese vorauseilend Gehorsamen bezeichnenderweise von Frankreich (4), wo Katar durch die Bakschisch-Beziehungen zu Ex-UEFA-Präsident Michel Platini und die Alimentierung des Hauptstadtclubs Paris Saint-Germain seit Jahren ein besonders imposantes finanzielles Muskelspiel an den Tag legt. Letzteres dürfte auch entscheidend gewesen sein für die Vergabe der WM an das Land (5).

Wie sich die FIFA doch noch auskontern ließe

Allerdings kann man sich an dieser Stelle auch fragen: Warum akzeptieren eigentlich alle Verbände klaglos die Entscheidungshoheit der FIFA? Mussten die Dänen wirklich dem FIFA-Verbot Folge leisten? Hätten die FIFA-Herrscher es wirklich riskiert, eine Mannschaft aufgrund eines Bekenntnisses zu den Menschenrechten vom Turnier auszuschließen?

Der Gedanke lässt sich noch weiterspinnen: Was wäre eigentlich, wenn alle teilnehmenden Mannschaften sich entsprechende, wenigstens halbwegs aussagekräftige Botschaften auf ihre Trikots drucken lassen würden? Würde die FIFA dann etwa die Weltmeisterschaft absagen? Oder wäre das nicht vielleicht doch die letzte Möglichkeit, dem Fußball einen letzten Rest Anstand zu bewahren?

Nachweise

1. Hornung, Christian: Repräsentative Umfrage: Klare Mehrheit in Deutschland will keine WM-Spiele schauen. Sportschau.de, 11. November 2022.

2. Statista.com: ARD und ZDF: Kosten für die Übertragungsrechte der Fußball-WM bis 2022; 23. Januar 2015.

3. Sportbuzzer.de: Wunsch von Dänemark abgelehnt: FIFA verbietet Menschenrechts-Shirts bei der WM; 11. November 2022.

4. Wieserner, Jörg: Frankreichs Kapitän Lloris verzichtet auf spezielle Binde in Katar. Auch der Verband spricht sich gegen die Initiative europäischer Nationen aus. Kicker.de, 16. November 2022.

5. Holzer, Birgit: Platini, Sarkozy und ein ominöses Mittagessen. Justiz ermittelt seit Jahren: Wie sich Katar den unglaublichen WM-Zuschlag sichern konnte. RedaktionsNetzwerk Deutschland (rnd), 10. November 2022.

Bild: Gerd Altmann: Gewinner (Pixabay)

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