Das Leben – erklärt, aber nicht verstanden

Wer nach Erleuchtung sucht, muss auch die Dunkelheit akzeptieren

Die empirischen Wissenschaften waren einst angetreten, der Welt ihren Aberglauben auszutreiben. Mittlerweile stoßen aber auch sie immer häufiger an Grenzen, die sie nur noch spekulativ überwinden können.

Christliches und heidnisches Weihnachtsmysterium

Das Wunder des Lebens: der Mikrokosmos

Das Wunder des Lebens: der Makrokosmos

Der Kosmos: berechenbar, aber nicht erfassbar

Wenn Empirie in Mystik mündet

Christliches und heidnisches Weihnachtsmysterium

Das Licht, das die Menschheit am Heiligen Abend aus der Dunkelheit ihres irdischen Verlorenseins erlöst, hat bekanntlich eine heidnische Vorgeschichte. Ursprünglich bezeichnete es die Erneuerung des Lebens in der dunklen Erde, die  Tatsache also, dass aus den Samen der im Herbst geernteten Früchte irgendwann wieder das Licht eines neuen Lebens hervorbrechen wird.

Wir neigen heute dazu, in der Entwicklung vom heidnischen zum christlichen Glauben einen geistigen Fortschritt zu sehen. In der Tat ist die christliche Vorstellung von der göttlichen Dreifaltigkeit ja auch um einiges komplexer als die heidnische Konzentration auf den ewigen Kreislauf des Werdens und  Vergehens. Aber ist diese deshalb auch banaler?

Richtig ist: Glaubensformen wie die des Christentums sind der Reflex einer Weiterentwicklung der Menschheit. Sie spiegeln die Tatsache wider, dass der Mensch sich in seiner Entwicklungsgeschichte allmählich von der alleinigen Fixierung auf die materielle Reproduktion seiner Existenz lösen und seine geistigen Kräfte entfalten konnte. Allerdings bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass das Mysterium der jährlichen Wiedergeburt des Lebens damit aufgeklärt wäre.

Das Wunder des Lebens: der Mikrokosmos

Wir können heute zwar exakt die biochemischen Prozesse beschreiben, die dazu führen, dass sich aus einem Samenkorn eine neue Pflanze entwickelt. Auch die evolutionären Prozesse, die dazu geführt haben, dass einzelne Pflanzen heute so sind, wie sie sind, können wir rekonstruieren. Dennoch bleiben die Kräfte, die dies bewirken, für uns ein Gegenstand ehrfürchtigen Staunens.

Eine einzelne Bohnenpflanze kann in einer Saison bis zu vier Meter in die Höhe wachsen [1]. Aus einem kleinen Samenkorn können über hundert Meter hohe Bäume entstehen. In Indonesien gibt es eine Blume, die Blüten von über einem Meter Durchmesser ausbildet [2].

In der Tierwelt sind die Prozesse der Erneuerung des Lebens nicht weniger erstaunlich. So begibt sich der europäische Aal, nachdem er im Alter von ca. 12 Jahren geschlechtsreif geworden ist, auf eine Reise in die 5.000 Kilometer entfernte Sargasso-See östlich von Florida, um dort in einer Tiefe von mehreren tausend Metern abzulaichen. Die Larven lassen sich dann von der Meeresströmung bis in die europäischen Flüsse treiben, während das Muttertier an Erschöpfung stirbt [3].

Ein anderes, willkürlich herausgegriffenes Beispiel: Die Larven bestimmter Zikadenarten bleiben exakt 17 Jahre im Boden und ernähren sich dort von Wurzelsäften, ehe sie an die Erdoberfläche kriechen, sich häuten und zu einem kurzen (und ziemlich lauten) Flug über die Erde ansetzen [4].

Und natürlich werden auch alle, die einmal die Entwicklung eines Menschen von der Befruchtung über das Embryonalstadium und die allmähliche Annäherung des Fötus an eine menschliche Gestalt bis hin zur blitzartigen geistigen Entfaltung eines Säuglings aus der Nähe verfolgt haben, nicht zögern, von einem „Wunder“ zu sprechen – auch wenn sie wissen, dass sich jeder einzelne Schritt der Entwicklung wissenschaftlich erklären lässt.

Das Wunder des Lebens: der Makrokosmos

Vieles von dem, was für die Menschen früherer Jahrhunderte ein unauflösliches Mysterium war, können wir heute zwar erklären – Erklären ist aber eben nicht gleichbedeutend mit Verstehen. Oder anders ausgedrückt: Je mehr wir erklären können, je mehr wir die Zusammenhänge durchschauen, die hinter dem Werden und Vergehen des Lebens stehen, desto größer wird unser Verständnis dafür, dass unsere Vorfahren von dem „Wunder des Lebens“ sprachen – und es in entsprechenden Kulten zelebrierten.

Was für den Mikrokosmos gilt, trifft dabei auch auf den Makrokosmos zu. Auch hier haben wir in den vergangenen Jahrzehnten ungeheure Wissensschätze zusammengetragen. Und auch hier hat unser immer tieferer Einblick in die Prozesse des kosmischen Geschehens eher unser Staunen verstärkt als unseren Wissensdurst befriedigt.

Das Hauptproblem ist, dass die Vorstellungskraft unseres Geistes nicht ausreicht, um das zu erfassen, was wir mit den Mitteln von Mathematik und Physik errechnen und erspähen können. So wissen wir zwar, dass allein unser Nachbarplanet Mars durchschnittlich 70 und selbst bei der günstigsten Konstellation noch 55 Millionen Kilometer von uns entfernt ist [5]. Vorstellbar ist eine solche Strecke, die über tausend Reisen rund um die Welt entspricht, für uns aber kaum. Eine Reise zum Mars würde mit unseren derzeitigen technischen Möglichkeiten über ein halbes Jahr dauern.

Der Kosmos: berechenbar, aber nicht erfassbar

Für den Neptun – den äußersten Planeten unseres Sonnensystems – beträgt die durchschnittliche Entfernung zur Erde bereits 4,5 Millionen Kilometer [6]. Unser Sonnensystem ist wiederum nur ein Teil einer Galaxie, der Milchstraße, deren Größe sich gar nicht mehr mit Kilometerkategorien erfassen lässt. Ihre Ausdehnung beträgt 100.000 Lichtjahre, wobei eine einzige Lichtsekunde 300.000 Kilometern entspricht [7]. Unsere Sonne ist darin nur einer von geschätzt 200 Milliarden (!) Sternen.

Unsere Milchstraße ist aber natürlich nicht die einzige Galaxie im Universum. Sie ist Teil eines ganzen Galaxienhaufens, wobei allein die Andromedagalaxie mit 140.000 Lichtjahren noch einmal deutlich größer ist als unsere Heimatgalaxie. Die Galaxienhaufen sind ihrerseits in so genannten „lokalen Superhaufen“ angeordnet, die mehrere tausend Galaxien umfassen können [8].

Und als wäre das alles nicht schon unvorstellbar genug, wissen wir seit einiger Zeit auch noch, dass all diese Planeten und Sterne, Sonnensysteme und Galaxien in einer gemeinsamen Bewegung miteinander verbunden sind. Eine Energie, die wir mangels detaillierterer Kenntnisse schlicht als „Dunkle Energie“ bezeichnen, führt dazu, dass das Universum sich immer weiter ausdehnt [9].

Möglicherweise kehrt sich diese Bewegung ab einem bestimmten Punkt um. Dies würde bedeuten, dass das Universum pulsiert – dass es sich in für uns unvorstellbaren Intervallen ausdehnt und wieder zusammenzieht. Das, was wir als „Urknall“ bezeichnen, wäre dann nur ein Punkt in einem unendlichen Prozess – das Pulsieren von Etwas, das wir weder mit Worten beschreiben noch mit unserem Geist erfassen können.

Wenn Empirie in Mystik mündet

Vor dem Hintergrund all dieser zwar zum Teil erklär- und beobachtbaren, aber eben mit unserem Geist nicht fassbaren Phänomene wandelt sich der Hochmut der modernen Wissenschaft allmählich wieder zu Demut. Immer deutlicher wird, dass wir das Geheimnis des Lebens nie vollständig auflösen können – selbst wenn wir einen größeren Einblick in seine Entstehung bekommen.

Die hochfliegende Überheblichkeit der empirischen Wissenschaft, die meinte, sich selbst zum Demiurgen erheben zu können, weil sie erkannte, dass die Erde eine Kugel ist und die Babys nicht vom Storch gebracht werden, erinnert im Rückblick an kleine Naseweise, die mit einem Chemiebaukasten experimentieren.

Unbestritten ist, dass die ungeheuren Fortschritte der Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten unser Wissen über die komplexen Zusammenhänge der Entstehung und Entwicklung des Lebens enorm erweitert haben. Es bleibt aber immer eine Grenze bestehen, über die wir nicht hinausdenken können. Und für das, was wir entdeckt haben, gilt immer mehr das, was der Mystiker Dionysius van Rijkel („der Kartäuser“; 1402/3 – 1471) im späten Mittelalter über Gott gesagt hat:

„Je mehr der Geist sich Deinem alles überstrahlenden göttlichen Lichte nähert, desto völliger werden ihm Deine Unnahbarkeit und Unbegreiflichkeit deutlich, und sobald er in die Finsternis eingegangen ist, erlöschen bald alle Namen und alles Erkennen ganz. (…) Denen allein erscheinst Du, die, nachdem sie alles Wahrnehmbare und Begreifbare und auch alles Geschaffene und desgleichen sich selbst überwunden und hinter sich gelassen haben, in die Finsternis eintreten, in der Du wahrlich bist.“ [10]

Nachweise

[1] Senge, Philipp: Stangenbohne pflanzen: Worauf du bei Anbau und Pflege achten musst. Utopia.de, 1. Februar 2018.

[2]  Oro Verde: Rafflesia – die größte Blüte der Welt; regenwald-schuetzen.org.

[3]  Medienwerkstatt-online.de: Die lange Reise der Aale.

[4]  SRF: Alle 17 Jahre wieder: Wenn Milliarden Zikaden ans Tageslicht kriechen; 24. Mai 2021.

[5]  Korzanovic, Nikolija: Entfernung Erde – Mars: So weit ist der rote Planet wirklich entfernt. Futurezone.de, 23. Februar 2021.

[6]  Statista.com: Minimale und maximale Entfernungen der Planeten im Sonnensystem zur Erde (in Millionen Kilometer).

[7]  Universität Kiel: Das Lichtjahr, die Astronomische Einheit und das Parsec; tf.uni-kiel.de.

[8]  Zimmermann, Roland: Die Erde, ein Staubkorn im Universum. Sternwarte Kraichtal, Februar 2016.

[9]  Eidemüller, Dirk: Fünf Erklärungen für die Dunkle Energie. Spektrum.de, 13. Juni 2020.

[10] Zit. nach Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. u. 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, S. 305 f. München 1924: Drei-Masken-Verlag (spätere Ausgaben – ab 1930 – im Stuttgarter Kröner-Verlag erschienen).

Bild: Eso.org: NGC 346. Local Universe : Nebula : Type : Star Formation

2 Kommentare

  1. Das ist ein wunderbarer Text. Wie weit ist die Menschheit von diesen Erkenntnissen entfernt?- Keine Demut, keine Bescheidenheit. Alles wird einfach zerstört und sich an sinnlosem Materialismus ergötzt. Mögen nur viele diesen kurzen, aber wahren Text lesen und verstehen!

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  2. Vielen Dank für diesen schönen und sehr nachdenklich stimmenden Beitrag!- Immer, wenn ich Zeit und Muße habe, tue ich mich auf dem „rotherbaron“ um. Frohe Weihnachten an alle MitarbeiterInnen des Blogs! – Ihr macht einen guten Job!

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