Die Kultur der Achtsamkeit/2
Eine Kultur der Achtsamkeit kann nicht ohne Empathie verwirklicht werden. Die richtige Form von Empathie zu erlernen und im Alltag zu leben, ist allerdings schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint.
Verschiedene Arten von Empathie
Empathie ist eine Grundvoraussetzung für eine Kultur der Achtsamkeit. Wenn wir uns nicht in andere hineinversetzen, können wir auch kein Gespür für ihre Bedürfnisse entwickeln und auf diese Rücksicht nehmen.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass Empathie notwendigerweise mit einer größeren Achtsamkeit gegenüber anderen einhergeht. Studien zur Persönlichkeitsstruktur von Psychopathen haben vielmehr gezeigt, dass die Fähigkeit zur Empathie auch dafür genutzt werden kann, andere zu manipulieren und für die eigenen Zwecke einzuspannen.
Für eine Kultur der Achtsamkeit ist deshalb eine ganz bestimmte Form von Empathie vonnöten – eine Empathie, die auf einem wohlwollenden Interesse für andere beruht.
Wohlwollendes Interesse bedeutet: Das Interesse an anderen beruht in diesem Fall nicht auf deren möglichem Nutzen oder Schaden für die eigene Person. Es ist vielmehr ein Interesse, das sich auf andere um ihrer selbst willen richtet.
Das Korsett des Eigenen: Stütze und Beschränkung
Was kompliziert klingt, ist im Grunde ganz einfach. Letztlich geht es um eine Fähigkeit, über die Kleinkinder ganz selbstverständlich verfügen – die Fähigkeit, vorurteilsfrei auf andere zuzugehen.
Dass wir diese Fähigkeit im Prozess des Erwachsenwerdens allmählich verlieren, hängt mit unserer Sozialisation und Enkulturation zusammen. In deren Verlauf kommt es zu einer doppelten Beschränkung unserer Weltsicht: Die Sozialisation legt uns auf einen bestimmten gesellschaftlichen Wertekanon fest. Die Enkulturation flößt uns sozusagen die Muttermilch unserer Kultur ein. Sie erschafft gewissermaßen die Wirklichkeit für uns, indem sie uns die Welt durch die Brille historisch gewachsener Deutungsmuster sehen lässt.
Dass wir die vorurteilsfreie Weltsicht des Kleinkindalters mit der Zeit verlieren, ist bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Sozialisation und Enkulturation sind notwendige Prozesse, um einen festen Stand in der Welt zu finden. Ohne sie würde es uns ergehen wie einem Kind, das bei seiner Geburt mit allen Sprachen der Welt gleichzeitig konfrontiert wird: Es würde am Ende nicht alle Sprachen beherrschen, sondern überhaupt nicht sprechen lernen.
Idealerweise sollte uns das Hineinwachsen in eine bestimmte Kultur und Gesellschaft allerdings eine Sicherheit geben, die es uns erlaubt, anderen Kulturen und Gesellschaftsentwürfen mit derselben Neugier wie Kleinkinder, nur auf einer höheren Bewusstseinsstufe zu begegnen. In der Realität ist jedoch leider oft das Gegenteil der Fall: Wir verbarrikadieren uns geradezu hinter dem Bollwerk unserer eigenen Werte und Deutungsmuster und empfinden jede Abweichung davon als Bedrohung.
Offenheit für das Andere als Bildungsgut
Ein Mittel dagegen könnte es sein, die Offenheit für andere kulturelle und gesellschaftliche Strukturen in den Prozess der Sozialisation selbst zu integrieren. Konkret würde dies bedeuten, dass Auslandsaufenthalte einen größeren Raum in der Schulbildung einnehmen müssten.
Damit ist nicht das schicke, karrierefördernde Semester an einer ausländischen Universität gemeint – wo das Studium womöglich noch in englischer Sprache erfolgt, also internationalisiert ist. Gedacht ist hier vielmehr an ein mehrmonatiges Eintauchen in einen fremden Schulalltag im Rahmen der regulären Schulzeit.
Dabei würden ganze Klassen – nach einer entsprechend intensiven Vorbereitung – mit einem anderen Land getauscht. Beide würden dann für einen längeren Zeitraum den Schulalltag des jeweils anderen Landes teilen. Je fremder das Partnerland wäre, desto größer wäre der zu erwartende kulturelle Lernerfolg.
Das Ziel muss es sein, auf diese oder andere Weise eine Einstellung zu entwickeln, die auf andere Kulturen, Religionen, Lebensentwürfe nicht mit instinktiver Abwehr und Herabwürdigung reagiert. An deren Stelle würde eine bewusst kultivierte kindliche Neugier treten: Wie fühlt sich der Alltag in anderen Kulturen an? Welche Logik liegt dem Wertekanon einer anderen Gesellschaft zugrunde? Welche anderen Gesichter des Göttlichen kann ich entdecken, wenn ich einen anderen Weg zu Gott beschreite?
Ein solches Sich-Einlassen auf das Andere darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden. Wir sind, was wir sind, wir können unsere Sozialisation und Enkulturation nicht ablegen wie ein Kleid, dessen wir überdrüssig geworden sind. Gerade weil das aber so ist, können wir ein Verständnis dafür entwickeln, dass auch anders sozialisierte Menschen nicht einfach aus der Haut ihrer Kultur springen und alles so machen, deuten und empfinden können, wie wir es mit der Muttermilch unserer Kultur aufgesogen haben.
Interkulturelle Achtsamkeit bedeutet nicht Beliebigkeit
Ein aufgeklärtes Verhältnis zur eigenen Kultur wäre damit eines, das Distanz zu dieser wahrt, ohne die eigene Verwurzelung in ihr zu verleugnen. Für eine Kultur der Achtsamkeit wäre dies sowohl auf einer direkten als auch auf einer indirekten Ebene produktiv.
Die direkte Ebene betrifft den unmittelbaren Kontakt mit Menschen, die aufgrund einer anders gearteten Sozialisation oder Enkulturation eine andere Sicht auf die Welt haben. Das Bewusstsein für die Vielfalt möglicher Wirklichkeitsentwürfe kann hier zu einer Sensibilität verhelfen, die vom Eigenen ausgeht, ohne es absolut zu setzen, also stets offen ist für Bereicherungen durch einen ganz anderen Blick auf das Leben.
Auch dies darf nicht gleichgesetzt werden mit Beliebigkeit. Die verschiedenen Sichtweisen des Lebens und der Welt müssen stets auf einem gemeinsamen Grund ruhen, der von unhintergehbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen und grundlegenden Menschenrechten markiert ist.
Einmal mehr zeigt sich hier, dass die Kultur der Achtsamkeit untrennbar mit einer Kultur des Dialogs verbunden ist. Nur wenn beide Seiten bereit sind, voneinander zu lernen, kann der Austausch für beide produktiv werden. Dies betrifft die Erweiterung der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung, aber auch die mögliche Korrektur von Elementen der kulturellen Praxis, die im Widerspruch zur Kultur der Achtsamkeit stehen, weil sie die Freiheit anderer Menschen in unzumutbarer Weise einschränken.
Achtsamkeit in einer globalisierten Welt
Die erhöhte Sensibilität für andere gesellschaftliche Entwürfe und kulturelle Praktiken kann aber nicht nur im unmittelbaren Kontakt mit anderen eine wohltuende Wirkung entfalten. Die Kultur der Achtsamkeit kann hier auch indirekt wirksam werden, indem sie das Bewusstsein für die Auswirkungen von Handlungen in einem Teil der Welt auf den Alltag von Menschen in anderen Teilen der Welt schärft.
Eine so verstandene Achtsamkeit impliziert, dass wir nicht mehr blindlings konsumieren und mit Rohstoffen aus anderen Teilen der Welt unsere Wirtschaft anheizen, sondern uns stets fragen, was der Konsum eines bestimmten Produkts oder die Verwendung eines bestimmten Rohstoffs anderswo für Menschen bedeutet.
Empathie bedeutet hier schlicht, die Augen offenzuhalten und die Berichte über die Folgen unserer Lebensweise für Menschen in anderen Teilen der Welt zu verfolgen. Dabei darf es freilich nicht an dem oben beschriebenen „wohlwollenden Interesse“ an anderen bleiben. Dieses muss vielmehr auch Anlass für ein verändertes Handeln sein.
Bild: Cheryl Holt; Freundschaft (Pixabay)
Das ist ein sehr schönes Essay, das auch das Verhältnis von Eigenem und Fremden gut reflektiert. Wichtig – und das machen uns Kleinkinder vor – ist es, im anderen in erster Linie den Menschen zu sehen.
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Richtig und wichtig!
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