Welche militärische Unterstützung braucht die Ukraine?
Blutige Konsequenzen mangelnder Entschlossenheit
„Whatever it takes!“ – so hieß der erste Beitrag, in dem ich mich auf diesem Blog mit dem „Ukraine-Konflikt“ beschäftigt habe. Gemeint war mit der Überschrift, dass die westliche Staatengemeinschaft auf die Zusammenziehung der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze ähnlich reagieren sollte wie einst Mario Draghi auf die Bedrohung der europäischen Gemeinschaftswährung.
Die Europäische Zentralbank, so hatte Draghi in der Finanzkrise 2012 versichert, werde tun „whatever it takes to preserve the euro“ – sie werde tun, was immer nötig sei, um den Euro zu bewahren. Eine entsprechende Ansage der westlichen Staatengemeinschaft hätte dem Kreml Anfang 2022 signalisieren können, dass man einem Überfall auf die Ukraine nicht tatenlos zusehen würde. Wären den Worten damals auch Taten gefolgt – etwa durch die rechtzeitige Lieferung von Flugabwehrsystemen und die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine –, hätte das die russische Invasion vielleicht nicht verhindern, aber doch eindämmen können.
Damals galten solche Ideen noch als Kriegstreiberei. Deutschland lieferte ein paar ausrangierte Soldatenhelme an die Ukraine, die meisten NATO-Länder erklärten ausdrücklich, sich aus dem Konflikt heraushalten zu wollen. So wurde die russische Führung in ihren Angriffsplänen ermutigt, anstatt frühzeitig die Konsequenzen einer Invasion vor Augen geführt zu bekommen.
Waffen als Futter für den Krieg
Mittlerweile haben wir bekanntlich eine ganz andere Situation. Längst sind modernste Flugabwehrsysteme an die Ukraine geliefert worden, zuletzt sind ihr auch Kampfpanzer zugesagt worden. Und selbst damit könnte das militärische Füllhorn noch nicht erschöpft sein. Schon wird von der ukrainischen Führung über die Lieferung von Kampfjets und Langstreckenraketen sinniert.
Angesichts der ungeheuren Brutalität, mit der die russische Armee und ihre Söldnertruppen in der Ukraine agieren, sind solche Forderungen einerseits nur allzu verständlich. Andererseits birgt die Lieferung immer neuer Waffen und Waffensysteme die Gefahr einer immer weiteren Eskalation des Krieges in sich.
Diese Gefahr ist auch in der Handlungsweise der westlichen Staatengemeinschaft begründet. Diese weist einen entscheidenden logischen Bruch auf. Einerseits wird die immer stärkere militärische Unterstützung der Ukraine damit begründet, dass sich der russische Angriffskrieg nicht nur gegen das Nachbarland, sondern allgemein gegen den Westen und seine Werte richte. Andererseits ist die militärische Devise immer noch: Wasch mich, aber mach mich nicht nass!
Soll heißen: Die Ukraine wird zwar mit Waffen und mit Geheimdienstinformationen über russische Truppenbewegungen versorgt – die gesamte Kampfführung soll sie jedoch allein bewältigen. Dabei mag es zwar zutreffen, dass die hochwertigen westlichen Waffensysteme die Verteidigungsfähigkeit der ukrainischen Armee deutlich verbessern. Russland kann darauf jedoch mit immer neuen Mobilisierungswellen und dem Einsatz von immer mehr und immer zerstörerischeren Waffen reagieren.
Die Alternative: Gemeinsame Front- und Grenzsicherung
So heizt die bisherige Reaktionsweise des Westens den Krieg letztlich nur immer weiter an. Das westliche Verteidigungsbündnis ist in einer Defensiv-Offensiv-Spirale gefangen: Auf jede neue russische Offensive wird mit der Lieferung neuer Waffen reagiert, die der Kreml wieder mit umso größerer Vernichtungswut beantwortet.
Die Alternative hierzu kann nicht lauten, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, bis die russische Führung ihren Völkermord am ukrainischen Volk vollendet und sich das Nachbarland vollständig einverleibt hat. Abgesehen von dem Bankrott der westlichen Werte, der mit einem solchen Wegschauen verbunden wäre, hätte dies auch die Gefahr einer Ermutigung des Kremls zu einer Ausweitung des Krieges auf andere Länder zur Folge.
Das Ziel muss es daher sein, gleichzeitig den Krieg zu beenden und der russischen Führung ein unzweideutiges Stopp-Schild zu zeigen. Dafür gibt es durchaus eine Möglichkeit. Sie würde die Konsequenzen aus der Einsicht ziehen, dass der russische Angriff im Kern ein Angriff auf die westliche Staatengemeinschaft ist. Die logische Folge davon müsste die Schließung eines formellen Militärbündnisses mit der Ukraine sein – und zwar zunächst nicht unter dem Dach der NATO, wo die Aufnahme der Ukraine wegen des Veto-Rechts einzelner Staaten wahrscheinlich gar nicht durchsetzbar wäre.
Ein solcher Schritt dürfte natürlich nicht dazu führen, dass westliche Armeen unmittelbar in die Kämpfe auf ukrainischem Territorium eingreifen. Dies wäre gleichbedeutend mit dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Ein formelles Militärbündnis mit der Ukraine wäre vielmehr als ultimativer Versuch zu verstehen, den Krieg zu beenden. Es würde bedeuten, dass die jetzt bestehenden Fronten und Grenzen gemeinsam mit der Ukraine abgesichert werden – dass den russischen Truppen also signalisiert wird: Bis hierher und nicht weiter!
Aufrechterhaltung des Drucks auf die russische Führung
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die russische Führung es wagen würde, ihre ausgelaugte Armee in eine direkte Konfrontation mit der westlichen Verteidigungsgemeinschaft zu schicken. Der bisherige Kriegsverlauf hat gezeigt, dass eine entschlossene Ansage des Westens stets ein Zurückrudern des Kremls zur Folge hatte.
Zu beobachten war dies etwa bei der verklausulierten Ankündigung, eine „schmutzige“ – sprich: atomverseuchte – Bombe einzusetzen. Westliche Warnungen, darauf mit aller Härte zu reagieren, haben dazu geführt, dass diese Pläne rasch in der Schublade verschwanden.
Eine Konzentration auf die Sicherung der bestehenden Fronten und Grenzen dürfte natürlich auch nicht bedeuten, dass Russland die gewaltsam eroberten Gebiete schlicht geschenkt werden. Das Ziel müsste weiterhin eine vollständige Räumung der okkupierten Regionen sein.
Dafür müsste der Druck auf die russische Führung vollumfänglich aufrechterhalten werden. Neben Wirtschaftssanktionen könnte dem auch die internationale Isolierung des russischen Staates dienen, also der Ausschluss aus allen wichtigen internationalen Entscheidungsgremien. Auf ausländischen Konten lagernde Finanzmittel russischer Staatskonzerne müssten zudem beschlagnahmt werden, um den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren.
Gleichzeitig müsste der Kontakt zur russischen Zivilgesellschaft intensiviert werden, um einen Wandel von innen heraus zu unterstützen. Es muss stets klargestellt werden, dass sich die Maßnahmen nicht gegen das russische Volk, sondern gegen seine kriminelle Regierung richten.
Zeit für einen neuen Whatever-it-takes-Moment
Ein Jahr nach den Vorwehen des Krieges sind wir in einer ähnlichen Situation wie damals – nur auf einer höheren Eskalationsstufe. Wieder wird von einer russischen Großoffensive gemunkelt, wieder stellt sich die Frage, wie wir das Leben der Menschen in der Ukraine am besten schützen können. Diese Frage ist umso dringlicher, nachdem wir gesehen haben, mit welcher unglaublichen Brutalität die russische Armee und ihre Söldnertruppen agieren.
Auch jetzt wäre es wieder an der Zeit für einen Whatever-it-takes-Moment. Für eine klare Ansage, dass jeder weitere Angriff auf die Ukraine als Angriff auf die westliche Staatengemeinschaft angesehen und entsprechend beantwortet werden wird.
Wenn wir stattdessen weiter wie bisher auf jede neue Eskalation des Krieges nur mit neuen Waffenlieferungen reagieren, liefern wir am Ende nur Futter für den Krieg. Das Leiden der Menschen in der Ukraine wird so nur verlängert werden, anstatt ihm ein für allemal ein Ende zu setzen.
Bild: Fritz Richter (1904 – 1981): Holzschnitt zu dem Film Und über uns der Himmel (1947)
Irgendwie kommt das ein bisschen auf „Abschreckungspolitik“ hinaus. Tatsächlich hat diese in der einigermaßen friedlichen Koexistenz mit der Sowjetunion ja auch funktioniert. Jedenfalls war das „Auge zudrücken“ angesichts der destruktiven und imperialen Tendenzen des Putinismus nicht besonders Frieden stiftend. Im Gegenteil!- Putin versteht die Sprache von Diplomatie und Ausgleich offensichtlich nicht.
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