Wie die saarländische SPD mit einer absoluten Mehrheit die Politik der CDU betreibt
In zehn Jahren großer Koalition scheint die saarländische SPD ihren Kompass verloren zu haben. Trotz absoluter Mehrheit lässt die von ihr geführte Regierung keine sozialdemokratische Handschrift erkennen.
Szenen einer saarländischen Ehe
Absolute Mehrheit mit einem Viertel der Stimmen
Neuer Dr. No im Finanzministerium
Eliteförderung statt Bildung für alle
Milliardengeschenke für die Stahlindustrie
Tierschutzbeauftragter mit der Lizenz zum Töten
Undemokratisches Durchregieren
Szenen einer saarländischen Ehe
Zehn lange Jahre, von 2012 bis 2022, musste die SPD im Saarland als Juniorpartnerin der CDU agieren. Zehn lange Jahre durfte sie immer nur mitregieren, war sie am Kabinettstisch mehr geduldet als erwünscht, durfte sie sozialdemokratische Politik stets nur mit konservativem Vorzeichen umsetzen.
Man hätte also annehmen können, dass die Partei danach lechzte, endlich unabhängig zu sein, eigene Akzente setzen zu können, ohne der Oberaufsicht von christdemokratischer Landesmutter oder Landesvater zu unterstehen. Die große Koalition wirkte wie eine Fünfzigerjahre-Ehe, wie ein Paar mit einem Patriarchen und einer von Emanzipation träumenden Frau.
Und dann trat eben jenes Wunder ein, von dem die Frauen in den 1950er Jahren meist vergeblich geträumt haben: Der Patriarch wurde in die Wüste geschickt, der Weg zu einem unabhängigen Leben mit eigener Entscheidungshoheit war auf einmal frei.
Absolute Mehrheit mit einem Viertel der Stimmen
Was war geschehen? Das Wunder von der Saar ereignete sich am 27. März 2022. Es war ein arithmetisches Wunder. Die SPD errang mit rund einem Viertel (26,4 Prozent) der Stimmen der Wahlberechtigten die absolute Mehrheit der Sitze im saarländischen Parlament.
Der Grund dafür war zum einen die relativ niedrige Wahlbeteiligung (61,4 Prozent). Sie wertete den Stimmenanteil der Partei zu 43,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf. Zum anderen profitierte die SPD auch davon, dass sowohl die Stimmen der Grünen (4,995 Prozent) als auch die der FDP (4,8 Prozent) aufgrund der Sperrklausel in den Papierkorb wanderten [1].
Neuer Dr. No im Finanzministerium
Und jetzt? Befreite sich die Partei endlich aus der konservativen Vormundschaft? Zeigte die Dame SPD dem CDU-Patriarchen, aus welchem Holz sie geschnitzt war? Dass sie sehr gut und viel besser auch ohne ihn zurechtkam?
Nein – weit gefehlt! Das Gegenteil trat ein. Die Partei wirkte seltsam orientierungslos, als sie plötzlich allein dastand. War die Ehe mit dem CDU-Obervater am Ende also doch keine Zweckehe, sondern eine Liebesheirat?
Auffallend war jedenfalls, dass die Partei dankbar nach jedem Rettungsanker griff, der ihr ein Festhalten an konservativen Grundwerten ermöglichte. So trat auch nicht die erwartbare Reaktion ein, als Jakob von Weizsäcker, ehemaliger Abgeordneter im Europäischen Parlament und Chefvolkswirt im Bundesfinanzministerium, über verschwiegene Kanäle verlauten ließ, dass er sich vorstellen könnte, sich zur Übernahme des Finanzministeriums in der saarländischen Provinz herabzulassen [2].
Man hätte denken können, dass der Wunsch nach Emanzipation und Entscheidungsfreiheit sich schlecht mit dem Import eines neuen Finanzpapas verträgt. Stattdessen fühlte sich die führerlose Truppe aber erleichtert, von einem welterfahrenen Politiker den Weg in die Zukunft gewiesen zu bekommen. Dass ein Herr mit einem so hochwohlgeborenen Namen sich zum Wirken in der saarländischen Provinz bereitfand, löste sogar solche Begeisterung aus, dass der Frau des Finanzfürsten in typisch saarländischer Mauschelmanier auch noch eine Stelle als Referatsleiterin im Kultusministerium zugeschustert wurde [3].
So sitzt nun auch in der neuen SPD-Alleinregierung ein Dr. No im Finanzministerium, der mit sorgenschwerer Miene sein Stopp-Schild in die Höhe hält, wenn es darum geht, das Saarland sozialer zu machen: Die Schuldenbremse, leider, wir müssen den Gürtel enger schnallen …
Eliteförderung statt Bildung für alle
Interessanterweise bleibt das Stopp-Schild aber regelmäßig im Schrank, wenn es darum geht, wertkonservative Projekte zu finanzieren. Das beste Beispiel dafür ist die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium (G 9).
Das Argument, dass ein achtjähriger Weg zum Abitur die Kinder überfordert, läuft ins Leere. Nicht nur können die Lehrpläne nötigenfalls entschlackt werden. Vielmehr existiert schon jetzt die Möglichkeit, einen neunjährigen Weg zum Abitur zu wählen – an der Gemeinschaftsschule.
Von einer sozialdemokratischen Alleinregierung hätte also erwartet werden können, dass sie die Gemeinschaftsschule stärkt, indem sie ihr die nötigen Ressourcen für die Förderung der Kinder zur Verfügung stellt. Stattdessen werden diese Ressourcen nun dafür verwendet, dem Bildungsbürgertum die Abkehr von der Idee einer Schule für alle zu ermöglichen. Eliteförderung statt Bildung für alle – klingt das etwa nach sozialdemokratischer Bildungspolitik?
In Zahlen ausgedrückt, bedingt die Rückkehr zu G 9 die Einstellung von rund 150 zusätzlichen Lehrkräften für diesen Schulzweig [4]. Bedenkt man, dass an den jetzt bestehenden Schulen ein Defizit von über 500 Stellen besteht [5], ist das ein Schlag ins Gesicht für alle engagierten Schulen.
Tablet statt Traumatherapie
Angesichts von Zuwanderung und sozialen Verwerfungen stehen die Lehrkräfte an den sozialen Brennpunktschulen des Saarlands teilweise vor kaum lösbaren Problemen. In manchen Klassen sind Kinder mit deutscher Muttersprache in der Minderheit, aus Krisengebieten zugewanderte Kinder bräuchten dringend zusätzliche Unterstützung, auch eine traumatherapeutische Betreuung. Hier aber ist immer schnell das finanzpolitische Stopp-Schild zur Hand.
Fleißig investiert wird stattdessen in eine Hochglanzdigitalisierung, die das Tablet wie einen Zauberstab behandelt: Leg es in die Hand der Kinder, und schon geht das Lernen wie von selbst. Der Gedanke, dass ein verändertes Medium einen nicht der Notwendigkeit enthebt, durchdachte didaktische und pädagogische Konzepte zu entwickeln, scheint im Saarland noch nicht angekommen zu sein [6].
Milliardengeschenke für die Stahlindustrie
Der Grund für eine mangelnde sozialdemokratische Handschrift in der saarländischen Politik ist demnach nicht fehlendes Geld, sondern fehlender Wille, die sozialdemokratischen Kernideale in konkrete Politik umzusetzen.
Dies zeigt auch der Transformationsfonds, der in den kommenden zehn Jahren die Zukunftsfähigkeit der saarländischen Wirtschaft sicherstellen soll. Dass der neue Finanzminister über Erfahrungen in der Risikokapitalfinanzierung verfügt, ist dabei sicherlich nicht von Nachteil – denn der drei Milliarden Euro umfassende Geldtopf soll zum größten Teil über Kredite finanziert werden.
Möglich war die Einrichtung des Fonds angesichts der in der saarländischen Verfassung verankerten Schuldenbremse nur durch die Feststellung einer „außergewöhnlichen Notsituation“ des Landes durch die SPD-Mehrheit im Landtag. Das Geld ist vor allem ein Geschenk an die saarländische Stahlindustrie, deren Planungen für die Restrukturierung im postfossilen Zeitalter einen Finanzbedarf von 3,5 Milliarden Euro ergeben hatten [7].
Provinzieller Größenwahn
Ein bekanntes Liedchen, mit dem man sich im Saarland über die Großmannssucht der Hauptstadt lustig macht, geht so:
Mir sinn Saarbrigger, Wir sind Saarbrücker,
mir spiele Kligger wir spielen Murmeln
unn stemme Blutwurschd und stemmen Blutwurst
mit ähner Hand! mit einer Hand!
Dass mir Saarbrigger sinn, Dass wir Saarbrücker sind,
das wähs e jedes Kind! das weiß ein jedes Kind!
Mir reiße Bähm aus, Wir reißen Bäume aus,
wo gar känn sinn. wo gar keine sind.
An diesen Text erinnert die derzeitige saarländische Landespolitik. Wie der 1. FC Saarbrücken seit Jahren von der Beletage des deutschen Fußballs träumt, aber in den Niederungen der 3. Liga festhängt, möchte auch die Regierung im Konzert der ganz Großen mitspielen. So rollt sie auch einem chinesischen Batteriehersteller einen 90 Millionen Euro schweren roten Teppich aus, anstatt die zahlreichen saarländischen Mittelstandsbetriebe zu unterstützen [8].
Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik sähe gewiss anders aus. Sie würde erst einmal versuchen, die vorhandenen Mittel abzuschöpfen und sinnvoll einzusetzen. Die zahlreichen Fördertöpfe des Bundes bieten dafür vielfältige Anknüpfungspunkte. Allein für den Ausbau des Schienen- und Radwegenetzes hätte das Saarland daraus 145 Millionen Euro erhalten können. [9].
Diese Mittel wandern allerdings nicht in die Landesschatulle, indem man einfach auf den Schuldenknopf drückt. Hierfür müssen vielmehr tragfähige Projekte entwickelt werden. Dies scheitert jedoch daran, dass die entscheidenden Qualifikationen für die entsprechenden Stellen im Ministerium (nicht nur) bei der saarländischen SPD nicht Kompetenz und Berufserfahrung sind. Wichtiger ist es, schon mit dem Schnuller den SPD-Stallgeruch eingesogen zu haben und spätestens als Jugendlicher die ersten Wahlplakate geklebt zu haben.
Tierschutzbeauftragter mit der Lizenz zum Töten
Der Umwelt- und Naturschutz muss sich bei alledem natürlich hinten anstellen. So soll ein Biosphärenreservat durch die Errichtung eines Windparks auf dem Gebiet geadelt werden [10] – was wohl die Aberkennung des Biosphärenstatus durch die UNESCO zur Folge hätte [11].
Auf einer Linie mit dieser Unterordnung des Umweltschutzes unter die Industriepolitik liegt auch eine besonders pikante Personalie. Sie erinnert stark an die neue israelische Regierung, in der ein verurteilter Steuersünder zum Finanzminister ernannt worden ist. So ist der neue Tierschutzbeauftragte des Saarlandes nicht nur passionierter Jäger. Er ist auch führend in der Wildbretvermarktung engagiert, hat also weniger ein Interesse am Schutz von Tieren als am Handel mit deren Fleisch [12].
Auf Change.org gibt es mittlerweile eine – bereits von über 25.000 Personen unterschriebene – Petition zur Abberufung des neuen Tierschutzbeauftragten. Sie wird auch mit dessen Unterstützung für eine Schliefenanlage begründet, einen künstlichen Fuchsbau, in dem Hunde für die Jagd auf Füchse trainiert werden [13].
Undemokratisches Durchregieren
Seit der letzten saarländischen Landtagswahl ist noch nicht einmal ein Jahr vergangen. Angesichts der bisherigen Weichenstellungen ist die Aussicht, dass die bestehende Regierung noch volle vier Jahre lang das Heft des Handelns in der Hand haben wird, ziemlich gruselig. Dies ist umso bitterer, als die Alleinregierung der SPD nicht dem Willen der Wahlberechtigten entspricht.
So zeigt die saarländische Konstellation, dass es dringend notwendig wäre, zusätzliche Mitbestimmungsmöglichkeiten des Volkes in die Verfassung einzuführen. Wer sozialdemokratisch gewählt hat, sollte auch die Möglichkeit haben, eine sozialdemokratische Politik einzufordern. Und alle Wahlberechtigten sollten zumindest bei Großprojekten, wie sie im Saarland beschlossen worden sind, die Möglichkeit erhalten, mitzuentscheiden.
Darüber hinaus könnte auch die Möglichkeit eingeführt werden, nach einem bestimmten Zeitraum – etwa zur Mitte der Legislaturperiode – über eine Abwahl der Regierung zu entscheiden.
Oder ist es denkbar, dass die saarländische SPD doch noch zur Besinnung kommt? Dass sie irgendwann merkt, dass die CDU nicht mehr mit im Boot sitzt und sie ohne jede konservative Fessel eine sozialdemokratische Politik umsetzen könnte?
Ach, SPD! Wenn du doch nur wüsstest, was „Sozialdemokratie“ bedeutet!
Nachweise
[1] Bundeswahlleiter.de: Ergebnis der 17. Wahl zum Landtag im Saarland am 27. März 2022.
[2] Dresen, Daniel: Der Mann, der ihn einst ins Saarland lockte: Von Weizsäcker holt alten Bekannten ins saarländische Finanzministerium. Saarbrücker Zeitung, 16. Juni 2022.
[3] Saarbrücker Zeitung: Ehefrau des Finanzministers arbeitet jetzt für Saar-Kulturministerin; 14. Januar 2023.
[4] Dpa: Ministerin weist Kritik an Planung von G 9 zurück. Süddeutsche Zeitung, 8. Dezember 2022.
[5] Prommersberger, Teresa: Lehrkräftereserve am Limit: Droht Unterrichtsausfall im Saarland? Saarbrücker Zeitung, 28. September 2022.
[6] Zierer, Klaus / Gottfried, Thomas: Schulbildung im Saarland: Digitaler Holzweg. Zeit.de, 8. Januar 2023.
[7] Dpa: Schulden wie noch nie: Saarland schafft Transformationsfonds. Süddeutsche Zeitung, 7. Dezember 2022.
[8] Sauer, Peter: Land will 90 Millionen in Umbau des SVolt-Geländes investieren. Saarländischer Rundfunk, 10. Dezember 2022.
[9] Rech, Florian: Saarland lässt Millionen-Förderung für Rad und Schiene liegen. Saarbrücker Zeitung, 13. Januar 2023.
[10] Details zu den Windkraftprojekten finden sich auf der Website der Bürgerinitiative „Windkraftfreie Biosphäre“ Bliesgau.
[11] Unter Hinweis auf den Biosphärenstatus des Pfälzerwaldes hatte das Deutsche Nationalkomitee der UNESCO den Bau von Windkraftanlagen dort abgelehnt; vgl. SWR: UNESCO gegen Windräder im Pfälzerwald; 22. Oktober 2021.
[12] Wildbeimwild.com: Skandal im Saarland: Jagd-Lobbyismus im Amt des Tierschutzbeauftragten; 17. Oktober 2022.
[13] NEIN zu Jagd-Lobbyismus im Amt des Tierschutzbeauftragten! Petition von Animal Society auf change.org.
Bild: Roy Stephen: Starke Frau , Verfremdet und verändert (Pixabay)
Nach dem Ende der „Jamaika-Clique“ hätte man ja glauben können, das Gemauschel hätte ein Ende. Aber die Skandale setzten sich fort. Hier machte aber vor allem die CDU von sich reden (z.B. Innenminister Boullions Geburtstagsparty u.ä.). Ich kann die Enttäuschung des Autors gut nachvollziehen. Das Geld für eine chinesische Ansiedlung hätte man besser in die Bildung gesteckt. Die Grundschulen und Gemeinschaftsschulen werden mit den drängenden sozialen und pädagogischen Problemen alleingelassen. Stattdessen ständige PR-Auftritte für G9. Inklusion???- Ja, das ist so ein Friede-Freude-Eierkuchen-Wort, für das man außer nett lächeln kaum etwas tun muss. Nein: Sozialdemokratie müsste wirklich anders aussehen.
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