Kabarett aus dem Geist des Antimilitarismus

Kabarettgeschichte(n) 4: Das Züricher Cabaret Voltaire

Das Züricher Cabaret Voltaire ist eine der einflussreichsten Kabarettbühnen der Geschichte. Anfang 1916 gegründet, hat es sowohl den Dadaismus als auch den späteren Surrealismus entscheidend geprägt.

Keimzelle von Dadaismus und Surrealismus

Antimilitaristisches Mitmachkabarett

Die Geburt des DADA

Neue künstlerische Ausdrucksformen

Grenzgängertum zwischen Literatur und Musik

Erneuerung der „vermaledeiten Sprache“

Rasches Ende des künstlerischen Projekts

Nachweise

Keimzelle von Dadaismus und Surrealismus

Wie den ersten, Anfang des 20. Jahrhunderts ins Leben gerufenen deutschsprachigen Kabarettbühnen war auch einem weiteren Meilenstein der Kabarettgeschichte – dem Züricher Cabaret Voltaire – in seiner ursprünglichen Form nur eine kurze Existenz beschieden. Hugo Ball, der das Kabarett im Februar 1916 mit seiner Partnerin Emmy Hennings gegründet hatte, kehrte dem Projekt bereits im September desselben Jahres wieder den Rücken. Dennoch war kaum ein Kabarett wirkmächtiger als dieses.

Das Cabaret Voltaire gilt zum einen als Keimzelle der dadaistischen Bewegung, die von Richard Huelsenbeck nach Berlin und von Hans Arp nach Köln getragen wurde, aber auch in Hannover (mit Kurt Schwitters‘ MERZ-Kunst) und Genf auf je eigene Weise weiterentwickelt wurde. Zum anderen fanden dort entwickelte künstlerische Techniken über Hans (Jean) Arp und Tristan Tzara Eingang in den späteren Pariser Surrealismus.

Antimilitaristisches Mitmachkabarett

Ausgangspunkt für die Entstehung des neuen Kabaretts war die Ablehnung des sinnlosen Mordens auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Dem setzten Ball und Hennings zusammen mit anderen in die neutrale Schweiz emigrierten Intellektuellen ihr Kabarettprojekt entgegen, das mit seinem Namen programmatisch an den Geist der Aufklärung appellierte.

Der antimilitaristische Charakter des Kabaretts – zunächst angekündigt als „Künstlerkneipe“ – kam etwa darin zum Ausdruck, dass man zur Melodie von Marschliedern Antikriegsgedichte zum Besten gab. Kritisiert wurde damit nicht nur der Krieg an sich, sondern auch der Hurra-Patriotismus, mit dem so viele sich in blinder Gefolgschaft zu ihren politischen Führern in die Schlacht gestürzt hatten. Auf dem Programm standen ferner lyrische Grotesken des Frühexpressionismus – u.a. von Alfred Lichtensteins und Jakob van Hoddis – sowie Gedichte Christian Morgensterns und die gesellschaftskritischen Lieder Frank Wede­kinds und Erich Mühsams.

Daneben kam es auch schon am ersten Abend zu den von Ball angeregten spontanen Beiträgen von Gästen. So be­richtet Ball davon, wie Tristan Tzara (1896 – 1963), der spätere Mitbegründer des französischen Surrealismus, Verse vortrug, „die er in einer nicht unsympathischen Weise aus den Rocktaschen zusammensuchte“ [1]. Der Maler Marcel Janco (1895 – 1984) steuerte ein paar Zeichnungen bei, mit denen die Spielstätte geschmückt wurde.

Die Geburt des DADA

Auf diese Weise kristallisierte sich allmählich eine feste Gruppe heraus, zu der neben Ball und Hennings der Österreicher Walter Serner (1889 – 1942), der elsässische Maler und Dichter Hans (Jean) Arp (1886 – 1966) und Richard Huelsenbeck (1892 – 1974) zählten. Letzterer hatte schon früher mit Ball zusammengearbeitet und war von diesem brief­lich zum Mitmachen aufgefordert worden. Wie Ball hatte auch Huelsenbeck sich zunächst freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, war durch seine Fronterfahrungen jedoch zu einem umso überzeugteren Kriegsgegner geworden.

Die allmähliche Konstituierung als feste Gruppe drückte sich auch in Bestrebungen aus, das eigene künstlerische Programm unter dem Namen „Dada“ zusammenzufassen. Die Bezeichnung war dabei zunächst ein Ausdruck der Interna­tionalität der Gruppe, in der neben dem von Ball, Hennings und Huelsenbeck gesprochenen Deutsch durch die aus Rumänien stammenden Janco und Tzara und den als Elsässer zweisprachigen Hans Arp auch das Französische Umgangssprache war:

„Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbun­denheit mit dem Kinderwagen.“ [2]

Der Begriff verband also die Kritik an der Geistlosigkeit der bürgerlichen Kultur mit dem Versuch, diese mittels grotesker Werke und Ak­tionen bloßzustellen, zugleich aber aus den dabei freigesetz­ten einzelnen Elementen spielerisch etwas Neues zu gestalten:

„Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.“ [3]

Neue künstlerische Ausdrucksformen

Für ihren Protest gegen die bürgerliche Kultur durchbrach die neue Künstlergruppe gezielt die bürgerlichen Formen der Präsentation von Kunst. Ein Mittel dafür war etwa das gymnastische Gedicht, das mit kleinen Turnübungen verknüpft war und so gegen die Passivität des bürgerlichen Kunstgenusses protestierte. Daneben gab es einen ganz speziellen Totengesang, der, „in schwarzen Kutten mit großen und kleinen exotischen Trommeln“ vorgetragen, die bürgerliche „Literatur in Grund und Boden trommeln“ sollte [4].

Literatur und Tanz waren bei den Darbietungen also eng miteinander verwoben. Dies zeigte sich auch, als Marcel Janco einmal Improvisationen mit ein paar mitgebrachten Masken anregte. Diese hatten laut Ball eine magische Wirkung auf die Anwesenden, die sich in ihnen in einem „an Irrsinn streifenden Gestus“ bewegten [5]. Ein daraus entwickelter Tanz erhielt den Namen „Cauchemar“ (Alptraum):

„Die tanzende Gestalt geht aus ge­duckter Stellung geradeaus aufwachsend nach vorn. Der Mund der Maske ist weit geöffnet, die Nase breit und verschoben. Die drohend erhobenen Arme der Darstellerin sind durch besondere Röhren verlängert.“ [6]

Grenzgängertum zwischen Literatur und Musik

Musikalischer Natur war auch das Simultangedicht, bei dem Ball zufolge „drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen“, so dass „ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen“. Die Musikförmigkeit des Gedichtvortrags war hier wohl auch von Balls Begeisterung für das Orgelspiel beeinflusst, das ihm insbesondere die Kompositionen Max Regers nahegebracht hatten.

Allerdings stand beim Simultangedicht nicht das Klangerlebnis selbst im Vordergrund. Für Ball diente diese Form des Gedichts vielmehr dem Ausdruck des „Widerstreit[s]“ der menschlichen Stimme „mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind“. Auf diese Weise sollte das Simultangedicht zu einem Spiegelbild „der Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozess“ werden [7].

Erneuerung der „vermaledeiten Sprache“

Das Ziel all dieser künstlerischen Experimente war – wie Ball im Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend am 14. Juli 1916 – ausführte – eine Erneuerung der „vermaledeite[n] Sprache, an der Schmutz klebt wie von Maklerhemden, die die Münzen abgegriffen haben“ [8]. Die einzelnen Worte sollten wieder frei werden, unbestimmter, „an hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen“. Dafür wurden die Elemente der Sprache – auch darauf lässt sich der Begriff „Dada“ beziehen – wie Bauklötze in einem Kinderspiel systematisch in ihre Einzelteile zerlegt und neu zusammengesetzt:

„Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und ge­bunden war.“ [9]

Noch einen Schritt weiter bei der Zerlegung der Sprache in ihre Einzelteile ging Hugo Ball mit seinen Lautgedichten. Dabei wurde auch noch die letzte sprachliche Einheit – das Wort – aufgegeben, um die Sprache aus den Fesseln vorgegebener Deutungsmuster zu befreien und den freien Fluss der Assoziationen zu ermöglichen.

Rasches Ende des künstlerischen Projekts

Dem Cabaret Voltaire erging es am Ende nicht anders als den zuvor gegründeten Kabarettbühnen in Paris, Berlin, München und Wien. Der Anfangselan verflog schon bald, während gleichzeitig die konspirative Bohème-Atmosphäre immer mehr zur Fassade verkam.

Äußerlicher Ausdruck des allmählichen Aufgehens in der bürgerlichen Amüsierkultur ist die Ablösung des Cabaret Voltaire durch die Galerie Dada im März 1917. Diese charakterisiert Richard Huelsenbeck als „Maniküre-Salon der feinen Künste, wo die alten Damen hinter den Teetassen den Ausschlag gaben, die ihre schwindende Sexualkraft mit einer ‚Verrücktheit‘ zu befeuern suchten“ [10].

Dabei mag es sich zwar um eine typisch dadaistische Übertreibung handeln. Huelsenbecks Worte machen jedoch deutlich, dass der Wechsel von der Idee eines anarchischen Mitmachkabaretts zur Darbietungsform einer Galerie eine Konzession an den bürgerlichen Kulturbetrieb bedeutete.

Der Anspruch, die bürgerlichen Rezeptionsformen von Kunst zu durchbrechen und an deren Stelle ein neues, handlungsbezogenes Kunstkonzept zu setzen, ging auf diese Weise verloren. Stattdessen ordneten auch die in Zürich entwickelten neuen künstlerischen Ausdrucksformen sich ein in den zwar avantgardistischen, aber doch die Grenzen des bürgerlichen Kunstverständnisses respektierenden modernen Kunstbetrieb.

Nachweise

[1]  Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit (1927). Tagebuch, herausgegeben von Bernhard Echte; hier: Eintrag vom 5. Februar 1916. Zürich 1992: Limmat. Die englische Übersetzung des Tagebuchs ist als PDF im Netz abrufbar.

[2]  Ebd., Eintrag vom 18. April 1916.

[3]  Ebd., Eintrag vom 12. Juni 1916.

[4]  Ebd., Einträge vom 11. Februar und 30. März 1916.

[5]  Ebd., Eintrag vom 24. Mai 1916.

[6]  Ebd.

[7]  Ebd., Eintrag vom 30. März 1916.

[8]  Ball, Hugo: Eröffnungs-Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich am 14. Juli 1916. In: Bolliger, Hans / Magnaguagno, Guido / Meyer, Raimund (Hg.): Dada in Zürich, S. 285. Zürich 1985: Arche.

[9]  Ball, Die Flucht aus der Zeit (s.o.), Tagebucheintrag vom 18. Juni 1916.

[10]    Huelsenbeck, Richard: En avant dada. Die Geschichte des Dadaismus, S. 25. Hannover 1920. (Repr. Ndr. Hamburg 1976).

Gedichte von Hugo Ball auf LiteraturPlanet:

Rückzug in „die innere Alchimie des Wortes“. Hugo Balls Lautgedichte

Bilder: Marcel Słodki: Plakat zur Eröffnung des Cabaret Voltaire, 1916 (Wikimedia commons); Emmy Hennings (1910); Münchner Stadtmuseum; Tristan Tzara (1932); Wikimedia commons; Von Marcel Janco gestaltetes Titelblatt der Zeitschrift DADA (1917); Wikimedia commons; Hugo Ball auf einer Einladungskarte für das Cabaret Voltaire, 1916 (Wikimedia commons)

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