Das Kabarett verlässt die Bühne

Die Aktionskunst des Berliner Dadaismus

Kabarettgeschichte(n)/5

Die künstlerische Revolte des Züricher Cabaret Voltaire wurde vom Berliner Dadaismus in politische Aktionskunst übersetzt. Für kurze Zeit brach das Kabarett aus seinem Bühnenghetto aus und wurde ein Teil des öffentlichen Lebens.

Chaos am Ende des Ersten Weltkriegs

Geistige Orientierungslosigkeit

Ausbruch aus dem Kabarett-Ghetto

Dadaistische Happenings

Abnutzungserscheinungen der künstlerischen Provokationen

Richterliche Milde als Todesurteil für den Dadaismus

Nachweise

Chaos am Ende des Ersten Weltkriegs

Am Ende des Ersten Weltkriegs war Deutschland in Aufruhr. Aus der Weigerung der Matrosen, in eine letzte, angesichts des längst verlorenen Krieges sinnlose Schlacht auszulaufen, entwickelte sich die Novemberrevolution, es kam zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, der Kaiser dankte ab, und am 9. November wurden gleich zwei Republiken ausgerufen: eine parlamentarisch-repräsentative nach westlichem Vorbild (durch Philipp Scheidemann) und eine Räterepublik nach sowjetischem Vorbild (durch Karl Liebknecht).

Nach Einberufung einer Nationalversammlung zeichnete sich die Durchsetzung von ersterem Modell ab. Daraufhin kam es im Januar 1919 beim Spartakusaufstand zu blutigen Ausschreitungen, in deren Verlauf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von kaisertreuen Freikorps-Angehörigen ermordet wurden. Dass die neue, sozialdemokratisch dominierte Reichsführung den Aufstand nur mit Hilfe reaktionärer Verbände niederschlagen konnte, wurde zu einer schweren Hypothek für die Weimarer Republik.

Wirtschaftlich wurde der im Juni 1919 unterzeichnete Friedensvertrag von Versailles zu einer ebenso schweren Hypothek. Die darin festgeschriebene alleinige Kriegsschuld des Deutschen Reichs war mit hohen Reparationsforderungen verbunden, die 1923 in eine Hyperinflation mündeten.

Geistige Orientierungslosigkeit

Hinzu kam schließlich noch eine gewisse geistige Orientierungslosigkeit. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hatte bei vielen das Bedürfnis nach einer radikalen Neuausrichtung der deutschen Kultur entstehen lassen. Wie genau diese Neuausrichtung aussehen sollte, war jedoch unklar.

Viel wurde vom „neuen Menschen“ gemunkelt, der ein humaneres Antlitz haben würde und weniger vom wilhelminischen Untertanengeist geprägt sein sollte. Dabei war der neue Mensch jedoch manchmal sozialistisch eingefärbt, manchmal religiös, und mitunter verbarg sich hinter der scheinbaren Neuheit auch das alte Ideal des sittsamen deutschen Bildungsbürgers.

Ausbruch aus dem Kabarett-Ghetto

In dieser Situation einer allgemeinen geistigen Orientierungslosigkeit näherte sich das Kabarett für kurze Zeit dem Ideal an, das Otto Julius Bierbaum in seinem Roman Stilpe für es entworfen hatte: Es wurde ein Teil des Alltags – „zur Kunst erhöhtes Leben“ [1].

Die Hauptantriebskraft für diese neue künstlerische Entwicklung war die dadaistische Bewegung – und zwar insbesondere in jener Ausprägung, die sie in der deutschen Hauptstadt annahm. Während beim Kölner Dadaismus um Hans Arp, Max Ernst und Johannes Theodor Baargeld ebenso wie in Hannover, bei Kurt Schwitters und seiner MERZ-Kunst, die bildende Kunst im Vordergrund stand, übernahm der Berliner Dadaismus stärker die am Züricher Cabaret Voltaire entwickelten happeningartigen Kunstformen.

Kennzeichnend für die neuen dadaistischen Happenings war es dabei, dass sie sich nicht mehr in das Reservat der Kabarett-Bühnen abdrängen ließen, sondern unmittelbar in den bürgerlichen Alltag hineinwirken wollten. Ziel war es, diesen direkt mit persiflierenden Aktionen in seiner geistigen Leere und Verlogenheit bloßzustellen.

Dadaistische Happenings

Den Begriff „Dada“ hatte Richard Huelsenbeck nach seiner Rückkehr aus Zürich nach Berlin in den Kreis der Freien Straße um Franz Jung eingebracht. Dort wurde er als will­kommenes Label für den eigenen, aktionistisch orientierten Kunstbegriff über­nommen, was am 12. April 1918 zur Gründung des „Club Dada“ führte. Neben Jung und Huelsenbeck bildeten Raoul Hausmann, Hannah Höch, George Grosz, Walter Mehring, Johannes Baader, Else Hadwiger, John Heartfield und dessen Bruder Wieland den Kern der dadaistischen Bewegung in Berlin [2].

Bei den künstlerischen Aktionen des Berliner Dadaismus wurde laut Grosz „die ästhetische Seite (…) zwar beibehalten“, jedoch mit dem klaren Vorzeichen einer „anarchistisch-nihilistische[n] Politik“ versehen [3]. „Vorbei“ war nun, wie Hausmann unterstreicht, „die Zeit der Dichtung auf geschwärztem Papier, diese individuelle Eitelkeit“. Was man stattdessen wollte, war „Aktion, Aktion“ [4].

Zu den dadaistischen Aktionen, die Hausmann selbst als die „ersten ‚Happenings“ der Kunstgeschichte bezeichnet, zählte etwa die Ausrufung Johannes Baaders zum „Ober-Dada“ sowie dessen Unterbrechung einer Predigt im Berli­ner Dom mit den Worten: „Was ist euch Jesus Christus? Er ist euch Wurst!“

Baader war es auch, der während einer Sitzung der Weimarer Nationalversamm­lung „die Ablösung der Regierung durch die Gruppe DADA forderte“ und sein Flugblatt „Die grüne Leiche“ abwarf, in dem er „die Ankunft des Ober-DADA auf dem weißen Pferde ankündigte, als Höchster Schiedsrichter des Jüngsten Gerichts“ [5].

Die dadaistische Aktionskunst war demnach zunächst Anti-Kunst. Sie griff laut Hausmann gezielt die zentralen „Formen und Gebräuche“ der bürgerlichen Gesellschaft auf, „um die moralisch-pharisäische Bürgerwelt mit ihren eigenen Mitteln zu zerschlagen“ [6].

So wurden etwa die Werbesprache und das kapitalistische Verwertungsdenken durch einen Aufruf zum Kauf von Dada-Aktien persifliert. Der Wis­senschaftsbetrieb wurde verulkt, indem man den „Dadaistischen Handatlas“ als „größtes Stan­dardwerk der Welt“ ankündigte [7].

Abnutzungserscheinungen der künstlerischen Provokationen

Das dadaistische Kabarett bestand laut George Grosz vor allem darin, dass „wir gegen ein paar Mark Eintrittsgeld nichts taten, als den Leuten die Wahrheit zu sagen, das heißt, sie zu beschimp­fen“ [8]. Dabei half die, so Hausmann, bewusste Missachtung der „Torheit des guten Geschmacks“ [9] anfangs zwar dabei, eine erhöhte Aufmerksamkeit für die eigenen künstlerischen Projekte und die damit verbundenen gesellschaftsverändernden Ideale zu generieren. Allerdings kam es schon sehr bald zu Abnutzungserscheinungen.

Der Hauptgrund dafür war die allmähliche Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. So flaute die Lust an den Debatten über eine geistige Neuorientierung flaute sehr rasch ab. Man gewöhnte sich daran, in einer Republik zu leben, die zwar von links wie von rechts bekämpft wurde, von der bürgerlichen Mitte aber als beste aller Möglichkeiten akzeptiert wurde. Und man schlich sich klammheimlich zurück in den Schoß der bürgerlichen Kultur, die nun wieder das Geistesleben bestimmte.

Die dadaistischen Happenings verloren so immer mehr ihren revolutionären Elan. Auch kam es nun immer häufiger zu Nachahmungsaktionen, die sich als Spaß- und Spottorgien ohne politische Zielsetzung präsentierten. Befeuert wurde diese Tendenz dadurch, dass, so Huelsenbeck, „viele Ver­leger aus Geschäftsrücksichten und viele Dichter aus Ehrgeiz“ sich des Dadais­mus bemächtigten [10], was wiederum die Tendenz der Entwicklung zu einer Mo­de verstärkte und den Verfall des Dadaismus beschleunigte.

Richterliche Milde als Todesurteil für den Dadaismus

Im Sommer 1920 versuchten die Berliner Dadaisten durch eine Große Interna­tionale Dada-Messe ein letztes Mal, an die provokatorischen Anfangserfolge ih­rer künstlerischen Aktionen anzuknüpfen. Zwar kam es tatsächlich zu einem Prozess gegen einen Teil der Veranstalter, doch wurden deren Taten von dem Richter als „jugendliche und wohl entschuldbare Knabenstreiche“ abgetan, die er lediglich mit harmlosen Geldstrafen ahndete [11].

Für den Dadaismus kam gerade diese richterliche Milde einem Todesurteil gleich – zeigte sie doch, dass der Dadaismus kaum noch jemanden ernsthaft aufregte und somit sein kritisches Potenzial eingebüßt hatte. So stellte Hausmann denn auch im Anschluss an den Prozess fest, der Dadaismus habe „sein Ziel verpasst“, und wandte sich anderen Ausdrucksformen künstlerischen Protests zu [12].

Gedicht von Richard Huelsenbeck auf LiteraturPlanet:

Antibürgerlicher Dadaistengesang. Richard Huelsenbecks Dada-Schalmei

Nachweise

[1]  Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive (1897). Berlin 1909: Schuster & Loeffler; digitalisiert im Projekt Gutenberg und im Deutschen Textarchiv: Drittes Buch, zweites Kapitel.

[2]  Vgl. Huelsenbeck, Richard: En avant dada. Die Geschichte des Dadaismus. Hannover 1920. (Repr. Ndr. Hamburg 1976: MaD-Verlag).

[3]  Grosz, George: Ein kleines Ja und ein großes Nein, S. 129. Reinbek 1955: Rowohlt.

[4]  Hausmann, Raoul: Dada empört sich, regt sich und stirbt in Berlin (1970). In: Ders.: Am Anfang war DADA, herausgegeben von Karl Riha und Günter Kämpf (1972), S. 15 – 22 (hier S. 17). Gießen, 3., neu gestaltete Aufl. 1992: Anabas.

[5]  Vgl. ebd., S. 16 f. und 18 f.

[6]  Hausmann, Raoul: Dada in Europa. In: Der Dada 3 (1920), S. 2.

[7]  (nicht realisierte) Ankündigung in Der Dada 2 (1919), S. 3.

[8]  Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein (s. Anm. 3), S. 130.

[9]  Hausmann: Dada empört sich … (s. Anm. 4), S. 16.

[10]    Huelsenbeck, Richard: Vorwort zu: Ders. (Hg.): Dada-Almanach, S. 9. Berlin 1920: Reiss. (Ndr. Hamburg 1987).

[11]    Vgl.Hausmann: Dada empört sich … (s. Anm. 4), S. 21 f.

[12]    Hausmann, ebd.

Bilder: Feierliche Eröffnung der ersten Dada-Ausstellung in Berlin am 5. Juni 1920; von links nach rechts: Raoul Hausmann, Hannah Höch (sitzend), Otto Burchard, Johannes Baader, Wieland Herzfelde, Margarete Herzfelde, Dr. Oz (Otto Schmalhausen), George Grosz und John Heartfield; an der Decke eine Plastik eines deutschen Offiziers mit einem Schweinekopf (aus: Richard Huelsenbeck: Dada-Almanach, S. 128. Berlin 1920: Reiss).; Peter Ludwigs (1888 – 1943): Der Krieg (1937); Museum Kunstpalast Düsseldorf (Wikimedia commons); Richard Huelsenbeck (links) und Raoul Hausmann während ihrer Dada-Tournee Anfang 1920 in Prag; Foto aus dem von Huelsenbeck im selben Jahr herausgegebenen Dada-Almanach (Wikimedia commons); George Grosz (1893 – 1959): Plauderei (1925); Botero Museum, Bogotá/Kolumbien (Wikimedia commons)

2 Kommentare

  1. Heute ist „Aktionskunst“, die bewegt, noch schwerer umzusetzen. Sie ist ganz in Protestformen aufgegangen und diese sind z.T. komplett unoriginell und nicht künstlerisch: sich an Straßen kleben und Ketjup auf Bilder schütten … Der Feme-Auftritt im Kölner Dom vor Jahren hat im Prinzip auch nur die Sensationsgier befriedigt. Um ein interessantes, provokantes Flugblatt zu verfassen fehlen auch die sprachlichen Mittel … und die Lesebereitschaft der Adressaten. Welche Aktionsformen könnten aufrütteln?

    Like

Schreibe einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s