Die Kultur der Achtsamkeit/5: Klimasensibles Verhalten
Der Klimawandel gleicht einem Schnellzug, dem wir mit dem Fahrrad hinterherhecheln. Dies liegt auch daran, dass unser wirtschaftliches Handeln und unsere kulturellen Praktiken den zu seiner Eindämmung ergriffenen Maßnahmen zuwiderlaufen.
Klimaschutz: viel beschworen, zu wenig befolgt
Sich selbst verstärkender Klimawandel
Befeuerung des Klimawandels durch die Wachstumswirtschaft
Klimaneutraler Kapitalismus: ein Widerspruch in sich
Behinderung von Klimaschutz durch anachronistische
Beispiele dysfunktionalen Verhaltens aus Ess- und Arbeitskultur
Anachronistische Politikmodelle
„Klimanotstand“ erfordert mutiges Gegensteuern
Klimafreundliche Kultur: in Deutschland revolutionär,
Auf dem Weg zu einem klimasensiblen Verhalten
Klimaschutz: viel beschworen, zu wenig befolgt
Ständig neue Klimakonferenzen, immer dringlichere Klimaschutz-Aktionen, immer mehr Verheißungen von „Klimaneutralität“ in Politik und Werbung – und doch kalbt jeden Tag ein anderer Eisberg, versinken immer mehr Inseln im Meer und nehmen die Dürrekatastrophen und Starkregenereignisse immer mehr zu.
Woran liegt das? Warum fruchten all unsere Bemühungen, den Klimawandel einzudämmen, nicht oder zumindest nicht in ausreichendem Maße?
Klar, werden jetzt einige sagen: Die Maßnahmen reichen nicht aus! Wir müssen mehr Kohlendioxid einsparen, uns noch ehrgeizigere Ziele setzen.
Ich denke allerdings, dass dies allein nicht ausreicht. Wichtiger erscheint es mir, das tiefer liegende Problem anzugehen – und das besteht meiner Meinung nach in einer dreifachen Ungleichzeitigkeit.
Sich selbst verstärkender Klimawandel
Die erste Ungleichzeitigkeit haben wir nicht mehr in der Hand. Sie ergibt sich daraus, das wir schlicht zu spät begonnen haben, dem Klimawandel in den Arm zu fallen. So sind mittlerweile längst Wechselwirkungen entstanden, sich selbst verstärkende Prozesse, auf die wir nur noch sehr begrenzt Einfluss nehmen können.
Manche dieser Prozesse spielen uns auch in die Karten – wie etwa die tendenziell wärmeren Winter, durch die wir weniger heizen müssen. Die meisten Wechselwirkungen fungieren jedoch als Brandbeschleuniger des Klimawandels – wie etwa die verringerte Rückstrahlung des Sonnenlichts und die dadurch bewirkte Beschleunigung der Erderwärmung durch das abschmelzende Eis in den Polarregionen.
Wärmere Winter können zudem auch bedeuten: mehr klimaschädliche Bautätigkeit in den Wintermonaten, rascheres Auftauen der Permafrostböden, dadurch bedingte Freisetzung bislang im Boden gebundener klimaschädlicher Gase, zusätzlich erleichterte Förderung von Rohstoffen und in der Folge weitere Aufheizung des Klimas.
Gerade weil wir diese Ungleichzeitigkeit nicht aufheben und den Wechselwirkungen relativ hilflos ausgeliefert sind, müssen wir sie in unseren Rechnungen berücksichtigen. Der Handlungsdruck wird dadurch noch einmal um einiges größer. Dies sollte eine klimaschädliche Ausnutzung der wärmeren Wintermonate und der auftauenden Permafrostböden radikal ausschließen.
Befeuerung des Klimawandels durch die Wachstumswirtschaft
Die zweite Ungleichzeitigkeit betrifft die ökonomische Ebene und bezieht sich auf die Wachstumsideologie.
Jahrzehntelang sind die maßgeblichen ökonomischen Modelle um das Wirtschaftswachstum gekreist wie um das goldene Kalb. Der Wachstumsgedanke war der Fetisch, das gottgleiche Dogma aller – oder doch der allermeisten – Modelle, das ihnen als unbestreitbare Annahme zugrunde lag.
Zwar hat der Club of Rome schon vor 50 Jahren auf die „Grenzen des Wachstums“ hingewiesen. Dennoch wurde der Wachstumsgedanke so lange überstrapaziert, bis er die Menschheit in die heutige säkulare Krise geführt hat. Die Spirale aus immer mehr Konsum, immer mehr Produktion und immer mehr Rohstoffverbrauch hat im Endeffekt zu eben jener buchstäblichen „Überhitzung“ von Welt und Weltwirtschaft geführt, unter deren Folgen wir heute zu leiden haben.
Logischerweise müsste der Kampf gegen den Klimawandel daher genau hier ansetzen und einen ökonomischen Paradigmenwechsel einläuten: von der Wachstums- zu einer Suffizienzwirtschaft, die sich nicht am größtmöglichen, sondern am unbedingt notwendigen Konsum ausrichtet.
Das Kennzeichen der ökonomischen Ungleichzeitigkeit im Kampf gegen den Klimawandel ist es nun aber, dass gerade dies nicht passiert. Die viel zitierte Formel einer „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“ bedeutet eben, dass der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, sprich: der Klimawandel mit den Mitteln eben jener Wachstumswirtschaft bekämpft werden soll, die ihn verursacht hat.
Klimaneutraler Kapitalismus: ein Widerspruch in sich
Die Wachstumswirtschaft ist zudem eng mit der kapitalistischen Ökonomie verbunden. Und für diese ist das zentrale Kriterium eben nicht „Nachhaltigkeit“ und schon gar nicht „Bescheidenheit“ oder „Selbstbeschränkung“, sondern einzig und allein: Mehrwert. Jede Investition muss mit einem Mehrwert verbunden sein, der den Einsatz des Kapitals rechtfertigt. Je mehr Rendite, desto sinnvoller das finanzielle Engagement.
Dieses Kriterium führt dazu, dass das Kapital lediglich von einem Beuteschema zu einem anderen überwechselt. Die Ausbeutung von Gas- und Ölfeldern bietet keine ausreichenden Renditemöglichkeiten mehr? Dann beuten wir jetzt eben die Lagerstätten von Kupfer, Kobalt, Lithium und Seltenen Erden aus – und verkaufen das auch noch werbewirksam als ökologische Investition in die Zukunft unseres Planeten!
Auf diese Weise wird die ausbeuterische Einstellung gegenüber der Natur lediglich auf neue Felder übertragen, anstatt in Frage gestellt zu werden. Dadurch aber bleiben auch die damit verbundenen Probleme bestehen. Die rücksichtslosen Eingriffe in das Gleichgewicht der Natur werden am Ende wieder neue Folgeschäden für ökologisches Gleichgewicht, Artenvielfalt und Klima mit sich bringen.
Hinzu kommt, dass der Glorienschein der angeblichen Klimaneutralität, die sich die auf der Basis der neuen Rohstoffe hergestellten Produkte umhängen, auch als Persilschein für eine Fortführung der Konsumwirtschaft dient. So werden weiter Produkte in den Markt gedrängt, die niemand braucht, deren Verkauf aber den Tanz um das goldene Kalb der Wachstumsideologie befeuert.
Behinderung von Klimaschutz durch anachronistische kulturelle Praktiken
Die dritte Ungleichzeitigkeit, die den Kampf gegen den Klimawandel entscheidend behindert, ist eng mit einem Phänomen verbunden, das in der Soziologie als „cultural lag“ bekannt ist. Damit wird die Tatsache bezeichnet, dass kulturelle Praktiken sich oft nicht unmittelbar an neue technische Entwicklungen anpassen und dadurch dysfunktional werden.
Analog dazu steht uns auch bei der Bekämpfung des Klimawandels die Lebensweise im Weg, die wir uns im Laufe vieler Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte angewöhnt haben. Sie ist nur schwer zu überwinden. Andererseits würden aber gerade radikale Umstellungen in diesem Bereich besonders viel für eine wirksame Eindämmung des Klimawandels bringen.
Beispiele dysfunktionalen Verhaltens aus Ess- und Arbeitskultur
Jahrzehntelang ist uns etwa eingetrichtert worden, dass eine Arbeit umso besser bewältigt werden kann, je leistungsstärker der dafür verwendete Motor ist. Technischer Fortschritt bedeutete immer auch: Ersetzung von Handarbeit durch motorbetriebene Geräte.
Dieses Mantra der Industriegesellschaft fällt uns nun auf die Füße. Es war zwar schon immer unsinnig, die Gräser eines tellerebenen Gärtchens mit einem Benzinrasenmäher oder einer Motorsense zu bekriegen. In Zeiten des Klimawandels ist es aber gleich in doppelter Hinsicht schädlich, hierfür keinen handbetriebenen Spindelmäher zu verwenden: Grasflächen fungieren als Kohlenstoffsenken, Benzinrasenmäher und Motorsensen blasen Kohlendioxid in die Atmosphäre.
Eine ähnliche Ungleichzeitigkeit lässt sich auch für unser Essverhalten konstatieren. Seit Jahrhunderten ist es in unsere kulturelle DNA eingeschrieben, dass zu einem festlichen Mahl der feierliche Verzehr eines Opfertiers gehört. Heutzutage ist das ein Braten, manchmal auch nur ein Steak oder eine Gulaschsuppe. Der sakrale Hauch des Fleischverzehrs hat sich aber auch in unserer säkularen Welt erhalten.
Auch hier erschwert die Dysfunktionalität eines anachronistischen Verhaltensmusters also den Kampf gegen den Klimawandel. Die religiös gefärbte Aura des Fleischkonsums wird dabei noch verstärkt durch die in die kulturelle Erinnerung eingeschriebenen Zeiten der Entbehrung, in denen „Fleisch“ das Synonym für eine vollwertige Ernährung war.
Anachronistische Politikmodelle
Wie die ökonomische ist auch die kulturelle Ungleichzeitigkeit von Einstellung und Klimaschutz nicht auf die Ebene des alltäglichen Verhaltens beschränkt. Sie betrifft vielmehr auch die Politik.
Auch die Politik ist in ihren Entscheidungen vielfach durch kulturelle Denk- und Verhaltensmuster gefesselt, die den Kampf gegen den Klimawandel behindern. So wirkt der Siebzigerjahre-Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger!“ offenbar auch in Zeiten der Klimakatastrophe noch so stark nach, dass es bis heute kein durchgängiges Tempolimit auf deutschen Autobahnen gibt.
Gleiches gilt für die Betrachtung des Autos als Ich-Prothese, die wie eine Art immaterielles Kulturgut geschützt wird. Eine andere Erklärung dafür, warum noch immer SUVs durch unsere Straßen protzen und paffen, fällt mir jedenfalls nicht ein.
„Klimanotstand“ erfordert mutiges Gegensteuern
Eine Politik, die an der kulturellen Ungleichzeitigkeit im Kampf gegen den Klimawandel ansetzen würde, müsste genau hieran ansetzen: an all den Verhaltensmustern, denen wir schlicht aus jahrzehntelanger Angewohnheit folgen, die uns aber keinen konkreten Nutzen bringen.
Niemand braucht protzige Autos, und es ist schlicht eine Frage der Perspektive, ob wir eine Wildblumenwiese schön finden oder einen Rasen, der den Parkettboden in unserem Wohnzimmer nachahmt. Also brauchen wir auch keine Renommierschlitten als fahrbaren Untersatz und keine benzinbetriebenen Rasenmäher, Laubbläser oder andere Gartenfoltergeräte.
An solchen Punkten sollte daher im Kampf gegen den Klimawandel zuallererst angesetzt werden. Wer von „Klimanotstand“ spricht, sollte auch vor einschneidenden Maßnahmen nicht zurückschrecken – von der Einführung des Tempolimits über das Verbot benzinbetriebener Gartengeräte oder auch der feinstauintensiven und damit klimaschädlichen Silvesterböllerei bis zur Schließung der Schlachthöfe, zur Förderung einer klimafreundlichen veganen Ernährung.
Klimafreundliche Kultur: in Deutschland revolutionär, anderswo Alltag
All diese Maßnahmen würden über den Klimaschutz hinaus noch andere wohltuende Effekte mit sich bringen – stressfreieres Fahren auf der Autobahn, weniger Unfalltote und Verletzte, weniger Lärm, keine buchstäblich zu Tode erschreckten Vögel in der Silvesternacht, ein Ende der verächtlichen Behandlung von Tieren als Rohstoffen für die Fleischindustrie.
Der in deutschen Ohren revolutionär klingende Charakter solcher Vorschläge relativiert sich bei einem Blick ins Ausland:
- Das fehlende Tempolimit auf Autobahnen ist in Europa ein deutsches Alleinstellungsmerkmal [1].
- In Frankreich ist privates Silvestergeböller in den meisten Kommunen untersagt [2].
- In Kalifornien ist der Verkauf von benzinbetriebenen Gartengeräten bereits ab 2024 verboten [3].
- Im Judentum gilt die Jagd als unkoscher [4], gläubige Hindus schlachten keine Rinder, in muslimischen Kulturen wird wie in gläubigen jüdischen Haushalten kein Schweinefleisch verzehrt.
Erstaunlicherweise können in all diesen Ländern und Kulturen die Menschen problemlos ohne all die Dinge leben, die in Deutschland als unverzichtbar gelten.
Auf dem Weg zu einem klimasensiblen Verhalten
Mit den genannten Maßnahmen ließe sich auch viel besser für den Kampf gegen den Klimawandel werben als durch die derzeit praktizierte Kriminalisierung von Heizen und Mobilität – Aspekten, die im Unterschied zu den oben genannten Dingen tatsächlich unverzichtbar sind in unserem Alltag.
So könnte auch viel eher die Grundlage für etwas geschaffen werden, das für eine wirksame Bekämpfung des Klimawandels im Alltag unerlässlich ist: die nötige Sensibilität dafür, wie sich unser jeweiliges Verhalten auf das Klima auswirkt. Wenn es erst einmal eine grundlegende Akzeptanz dafür gibt, dass alle ihr Verhalten auf einen wirksamen Klimaschutz ausrichten müssen, wird uns auch eine solche Sensibilität allmählich in Fleisch und Blut übergehen.
Die Politik kann diesen Prozess unterstützen, indem sie Normen setzt, welche unsere für einen wirksamen Klimaschutz dysfunktionalen kulturellen Angewohnheiten und Praktiken eindämmen helfen. Andererseits können wir alle aber auch selbst etwas achtsamer sein in unserem Verhalten.
Niemand zwingt uns, dem Sirenengesang der Konsumindustrie zu verfallen. Wir können uns einfach die Ohren zuhalten und angesichts der drohenden Klimakatastrophe unserem inneren Kompass folgen, anstatt uns zu einem marionettenhaften Hanswurst der Wachstumswirtschaft machen zu lassen und gegen unseren erklärten Willen das Weltklima weiter anzuheizen.
Nachweise
[1] Vgl. Wikipedia: Übersicht über die zulässige Höchstgeschwindigkeit in verschiedenen Ländern
[2] Vgl. Maunder, Lara Joelle: So feiert Frankreich Silvester! Meinfrankreich.com
[3] Vgl.Challenge2025.eu: Kalifornien könnte benzinbetriebene Rasenmäher bis 2024 verbieten; 4. November 2021. Benzinbetriebene Gartengeräte sorgen für erhebliche Feinstaub- und Kohlendioxidemissionen, finden durch die Fokussierung auf den Verkehr aber zu wenig Beachtung; vgl. die ausführliche Studie dazu auf challenge2025.eu. Besonders hoch sind die Emissionen benzinbetriebener Laubbläser (vgl. Reis, Thomas: Aus für Laubbläser? Energieblogger.at, 13. Oktober 2021).
[4] Vgl. Katlewski, Heinz-Peter: Die Schechita. Deutschlandfunk Kultur, 1. Januar 2010.
Bild: Naturgarten des Autors im Frühling
Vielen Dank. Endlich mal ein Artikel, der den Klimaschutz grundsätzlich angeht. Im Großen und Ganzen habe ich den Eindruck, es geht bei dem Thema nur um ein neues Geschäftsmodell und Kapitalakquise (E-Autos, WKA). Und FFF sind teilweise eine echte Enttäuschung für mich: Akademikerkinder auf Karrieresuche….
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Ich fände ein Verbot benzinbetriebener Gartengeräte, allen voran diese schwachsinnigen Laubpuster, eine echte Erlösung!!!!!! – Top Vorschlag! Dafür würde ich mich auch auf einen langweiligen Rasenvorgarten kleben 😉
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