Faktencheck zur russischen Invasion der Ukraine/4
Der Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine wird vom Kreml auch damit begründet, die Ukraine von Faschisten befreien zu müssen. Dies hat allerdings mit der politischen Gegenwart in der Ukraine nichts zu tun.
Die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung in den 1930er Jahren
Ein Topos der russischen Kriegspropaganda ist der Vorwurf, die Ukraine werde von Faschisten regiert und müsse daher von Russland befreit werden. Mit der gegenwärtigen Kultur und Politik in der Ukraine hat das allerdings nichts zu tun. Die entsprechenden russischen Narrative projizieren stattdessen Tendenzen aus der Vergangenheit auf die Gegenwart.
Richtig ist: Es gab unter der nationalsozialistischen Herrschaft ukrainische Kollaborateure. Die gab es jedoch auch in anderen Ländern. Im speziellen Fall der Ukraine muss die Kollaboration zudem vor dem Hintergrund des „Holodomor“ (Mord durch Hunger) gesehen werden. Dabei wurden Anfang der 1930er Jahre mehrere Millionen Ukrainer im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft bewusst dem Hungertod preisgegeben.
Teile der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung um Stepan Bandera wollten angesichts dieser traumatischen Erfahrung die sowjetische Fremdherrschaft durch eine Kooperation mit den Nationalsozialisten abschütteln.
Dass sich die Unabhängigkeitsbestrebungen teilweise auch gegen Polen richteten, muss ebenfalls im historischen Kontext gesehen werden: Im nach dem Ersten Weltkrieg wiederauferstandenen Polen hatte der Rausch der neu gewonnenen Unabhängigkeit einen Nationalismus befeuert, der u.a. Gebietsansprüche gegenüber den Nachbarstaaten zur Folge hatte. Diese wurden gegenüber ukrainischen Territorien auch mit kriegerischen Mitteln durchgesetzt. In der Folge gehörte etwa das heute ukrainische Lwiw (Lemberg) in der Zwischenkriegszeit zu Polen.
Stepan Bandera: Durch KGB-Ermordung zum Märtyrer geadelt
Natürlich war der Teufelspakt mit den Nationalsozialisten moralisch nicht zu vertreten. Er war überdies zum Scheitern verurteilt, da die Nazis die Ukraine lediglich als Kornkammer und die Ukrainer als Arbeitssklaven nutzen wollten. Dennoch muss man die historischen Hintergründe im Auge behalten, wenn von ukrainischer Kollaboration mit den Nationalsozialisten die Rede ist.
Dies gilt schließlich auch, wenn die Bezugnahme auf Stepan Bandera im Umfeld der Maidan-Bewegung angemessen beurteilt werden soll. Im Vordergrund standen dabei nicht die von Bandera vertretenen Ideen, sondern die Verfolgungen, denen er selbst und seine Mitstreiter – als lebende Symbole ukrainischer Unabhängigkeitsbestrebungen – in der Sowjetunion der Nachkriegszeit ausgesetzt waren. Erst dies machte Bandera – er wurde 1959 im Münchner Exil von einem KGB-Agenten ermordet – zu einem Symbol der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung.
Keine rechtsnationale Dominanz in der ukrainischen Gegenwart
Dass rechtsnationalistisches Gedankengut in der modernen Ukraine nicht populärer ist als in anderen europäischen Ländern, zeigen die Ergebnisse, die entsprechende Parteien in der Vergangenheit bei Wahlen zum ukrainischen Parlament erzielt haben: Sie sind allesamt bedeutungslos geblieben.
So ist die Geschichte der ukrainischen Nazi-Kollaborateure eine Geschichte aus der Vergangenheit. Wenn man die heutigen Verhältnisse betrachtet, ist es eher die russische Regierung, die in den Spuren der Nationalsozialisten wandelt. Denn genau das, was die Nazis damals aus der Ukraine machen wollten – ein Reservoir an Arbeitssklaven und einen Getreidespeicher –, sieht auch die heutige Kreml-Führung wieder für das Land vor.
Masliychuk, Volodymyr: Die Symbolisierung der ukrainischen Vergangenheit: Stepan Bandera und die UPA. Heinrich Böll Stiftung, 9. Dezember 2014.
Yudin; Greg: In Russland droht ein faschistisches Regime (Interview). Analyse und Kritik (ak). Zeitung für linke Debatte & Praxis, 30. März 2022
Bild: Mykola Swarnyk: Denkmal zur Erinnerung an den Holodomor im kanadischen Toronto, November 2018 (Wikimedia commons)
Vielen Dank für diese Einordnung. Dass Russland angibt, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen, ist natürlich angesichts der Agenda und des Vorgehens des Putin-Regimes ausgesprochen lächerlich. Andererseits befeuert nichts den Nationalismus so sehr wie ein Krieg. Und hier habe ich die Befürchtung, dass der Nationalismus in der Ukraine in ungesunder Weise zunehmen wird. Schon jetzt werden alle Russen als Hassobjekte angesehen, auch wenn sie ihr Leben im Protest gegen Putin und den Krieg aufs Spiel setzen.
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