Der finstere Vorhang der Verdammnis

Eine Karfreitagsvision von Bruder Norabus

Der Karfreitag steht für eine der dunkelsten Stunden der Menschheit: die Ermordung des Erlösers. Die Finsternis, die sich daraufhin auf die Welt gesenkt hat, wirkt bis heute nach.

Ein geistiges Zuhause

Neulich hatte ich ein echtes Karfreitagserlebnis – ein Erlebnis von der Sorte, bei dem sich von einem Augenblick zum anderen ein undurchdringlicher Vorhang vor die Welt zu schieben scheint und man in ewiger Nacht versinkt.

Mein Karfreitagserlebnis ereignete sich – ausgerechnet – in unserer Klosterkirche. Dabei handelt es sich um kein besonders interessantes Bauwerk. Wer sich für Kunstgeschichte interessiert, wird hier nichts Bemerkenswertes entdecken. Es ist keine Kirche, an der sich bestimmte Epochen studieren lassen, keine Kirche, mit der irgendwelche hochgestellten Persönlichkeiten sich einmal ein Denkmal setzen wollten.

Nein, unsere Kirche ist schlicht und zweckmäßig. Sie hat vorne einen Altar, über dem Eingangsportal eine Orgel, an den Säulen der Seitenschiffe Kreuzweggemälde – und natürlich gibt es in ihr jede Menge Kruzifixe. Eben durch diese auf die Andacht konzentrierte Einrichtung ist unsere Kirche für mich zu einer geistigen Heimat geworden. Sie ist ein Teil von mir, wie mein Ordensgewand, mein Rosenkranz und der kleine dreiflügelige Ikonenaltar in meiner Zelle, vor dem ich jeden Abend vor dem Zubettgehen in einer letzten wortlosen Meditation versinke.

Wenn Dinge zu Zeichen erstarren

Nun haben es aber die Dinge, mit denen wir täglich Umgang haben, an sich, dass wir sie irgendwann nicht mehr als das wahrnehmen, was sie sind. Sie werden zu einer bloßen Staffage, zu Zeichen, mit denen wir uns in unserer Welt orientieren. Ihrer Bedeutung entkleidet, vermitteln sie uns allenfalls eine gewisse Gestimmtheit, die nur bedingt etwas mit ihrem eigentlichen Wesen zu tun hat: Die Kaffeetasse erinnert uns an das morgendliche Frühstücksritual, der Anblick des Weckers lässt unser Herz höher schlagen, wenn auch nicht unbedingt vor Freude.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es mir mit den Gegenständen in unserer Kirche nicht anders ergeht. Jeder einzelne Gegenstand ist mir lieb und teuer, jeder ist ein Baustein meines geistigen Zuhauses. Müsste ich die einzelnen Gegenstände im Detail beschreiben, so würde ich allerdings ins Stocken geraten. Eben weil sie mir so vertraut sind, nehme ich sie nicht mehr in allen Einzelheiten wahr, sondern als Teil eines Gesamtbildes, das bestimmte Gefühle in mir weckt.

Vor ein paar Tagen geschah es nun aber, dass ein Kruzifix, an dem ich schon hunderte, nein: tausende Male vorbeigegangen bin, ohne auf seine Details zu achten, mich plötzlich in seinen Bann gezogen hat. Minutenlang stand ich davor und konnte meinen Blick nicht von dem Geschehen abwenden, das sich da, zu Holz erstarrt, vor meinen Augen abspielte. Erst als ein Mitbruder mich vorsichtig am Arm berührte, um mich auf die beginnende Frühmesse hinzuweisen, erwachte ich aus meinem Tagtraum und setzte mich zu den anderen in die Bankreihe.

Die Realität hinter dem Kreuzsymbol

Seit jenem Tag komme ich nicht mehr von dem Bild los, das sich da so unvermittelt in meine Seele gebrannt hat. Seitdem ist das Kreuz für mich nicht mehr einfach ein Symbol für den Glauben, sondern ein Folterinstrument, mit dem ein Mensch, der anderen die Erlösung bringen wollte, auf qualvolle Weise zu Tode gebracht worden ist.

Seitdem verstehe ich auch, warum Menschen anderen Glaubens so oft erschrecken, wenn sie das zentrale Symbol unseres Glaubens sehen. Was ist das für ein Glaube, der um den grausamen Foltertod eines Menschen kreist, der zugleich als Sohn Gottes verehrt wird? Wie kann man Erlösung erwarten, wenn man den Erlöser ermordet hat – und dazu noch auf so bestialische Weise?

Natürlich kenne ich die Antworten, mit denen diese Frage von theologischen Lehrstühlen herab abgekanzelt wird: Gerade in der Tatsache, dass selbst dieses größte denkbare Sakrileg vergeben werden kann, erweist sich die Kraft der göttlichen Barmherzigkeit. Gerade in der Bereitschaft, das Leid der ewig unvollkommenen Menschenkinder zu teilen, zeigt sich die göttliche Menschenliebe. Und dieses Leid besteht eben sowohl in dem Erleiden der Qualen, die andere einem zufügen, als auch in der Unfähigkeit, die eigene Gewaltbereitschaft dauerhaft unter Kontrolle zu halten.

Nachdem aber die grausame Realität hinter der Kreuzessymbolik vor mir aufgeblitzt ist, befriedigt mich diese Antwort nicht mehr. Ist es nicht gerade ein Zeichen unserer Hybris, dass wir annehmen, ein göttliches Wesen könnte für und mit uns leiden wollen? Und zeugt es nicht von unserer Verblendung und emotionalen Verirrung, dass wir davon ausgehen, ein Mord an dem, der uns Erlösung schenken wollte, könnte uns vergeben werden?

Missbrauch der göttlichen Barmherzigkeit

Das größte Problem bei der Vorstellung eines barmherzigen Gottes, der den aufrichtig Bereuenden noch die schlimmsten Verbrechen vergibt, ist vielleicht der Missbrauch, zu dem diese Vorstellung einlädt. Dies gilt gerade für so schwache Wesen, wie wir es sind.

Missbrauch kann bedeuten: Ich richte mein Handeln nicht an dem göttlichen Beispiel der unendlichen Güte aus, sondern handle diesem Ideal entgegen, im Vertrauen darauf, später Vergebung für meine Untaten zu erlangen.

Missbrauch kann auch bedeuten: Ich handle wie eine gespaltene Persönlichkeit. Dem Himmel wende ich eine barmherzige Maske zu, während ich hier auf Erden ohne jede Skrupel meine Macht- und Besitzgier auslebe. Kirchengeschichtlich betrachtet, entspricht dieser Schizophrenie der Ablasshandel, der jeder noch so teuflischen Tat einen Freibrief ausstellt.

Beide Formen des Missbrauchs der göttlichen Barmherzigkeit gehören keinesfalls der Vergangenheit an. So könnte uns etwa die Tatsache, dass wir mit unserem Materialismus Natur und Klima aus dem Gleichgewicht gebracht haben, zu einer radikalen Umkehr bewegen. Wie meine mittelalterlichen Vorgänger, die Bettelmönche, könnten wir dem materiellen Reichtum entsagen und uns auf geistige Erfüllung konzentrieren.

Stattdessen pflanzen wir jedoch mit den Windrädern stählerne Ablasswedel in die Landschaft, mit denen wir uns ein Weiter-so erkaufen wollen. Natürlich denkt dabei niemand mehr in Kategorien einer göttlichen Vergebung unserer Sünden. Der Handlungsmechanismus ist jedoch derselbe wie bei dem mittelalterlichen Ablasshandel.

Das Kreuzsymbol als ungewollte Einladung zur Gewalt

Keine Frage: Die Vorstellung des vergebungsbereiten Gottes hat unsere Kultur nachhaltig geprägt. Die Frage ist jedoch, ob das immer zum Guten geschehen ist.

Hat die Vorstellung eines barmherzigen Gottes zweitausend Jahre nach ihrer Erfindung wenigstens in Ansätzen zu einer friedlicheren Welt geführt? Und wenn das nicht der Fall ist: Liegt es vielleicht daran, dass wir das Ideal des vergebungsbereiten Gottes eben nicht als Lebensmodell auf unseren Alltag übertragen, sondern darin einen Freibrief für das Gegenteil gottgefälligen Handelns sehen – weil Gott uns am Ende doch vergeben wird, wenn wir mit einem reuigen Augenaufschlag an seinen Richtertisch treten?

Die schrecklichen Kriege, die derzeit auf der Welt wüten, lassen mich genau dieser Einschätzung zuneigen. Zuweilen übertreffen sie meine Umdeutung des Heils- in ein „Unheilgeschehen“ sogar noch, indem die Verantwortlichen vorgeben, „im Namen Gottes“ in den Krieg zu ziehen. Auch dies könnte die ungewollte Folge eines Glaubenssymbols sein, das auf einen Akt unerträglicher Gewalt zurückgeht.

Natürlich schließt die Botschaft der Barmherzigkeit Gewaltanwendung in radikaler Weise aus. Das Symbol, durch das diese Botschaft verbreitet wird, ist jedoch ein Zeugnis von Folter und Mord. Zynische Geister könnten deshalb die Anwendung von Gewalt als akzeptable Voraussetzung für die Schaffung einer Welt sehen, in der die göttliche Botschaft das beherrschende Element ist.

Dabei geht es den entsprechenden Akteuren natürlich nicht mehr um die göttliche Botschaft an sich. Sie ist für sie vielmehr nur ein Mittel zum Zweck, eine Möglichkeit, die eigene Herrschaft zu legitimieren. Letztlich dient sie damit der Realisierung der äußersten Form von Blasphemie, bei der die Handelnden sich selbst an die Stelle Gottes setzen.

Der Tunnel der Karfreitagsnacht

Seit jenem düsteren Morgen in der Kirche bekomme ich das Bild des äußersten Elends, eines Menschen, der unter Qualen am Kreuz verblutet, nicht mehr aus dem Kopf. Immer weniger verstehe ich, wie man darin ein Zeichen der Hoffnung oder gar einen Hinweis auf Erlösung sehen kann. Stattdessen sehe ich das Kreuz als Zeichen für die Realität, die mit ihm verbunden ist: die Realität äußerster menschlicher Brutalität auf der einen und äußerster Verzweiflung auf der anderen Seite.

Ich verstehe auch nicht mehr, wie wir, nachdem wir die Hand des Erlösers nicht nur ausgeschlagen, sondern gleich ganz abgehackt haben, noch auf Erlösung hoffen können. Haben wir uns, indem wir den Erlöser getötet haben, nicht für immer von der Erlösung ausgeschlossen?

Ja, ich weiß, das sind typische Karfreitagsgedanken. Wenn unser Abt am Sonntag das Osterfeuer entzündet, sieht die Welt vielleicht schon wieder ganz anders aus. Aber es gehört nun einmal zur Karfreitagsnacht dazu, dass man ihre Finsternis ganz durchlebt. Es entspricht ihrem Wesen, dass in ihr jede Hoffnung erlischt.

Die Karfreitagsnacht ist wie ein Tunnel, von dem man nicht weiß, ob er irgendwann wieder ans Licht führt oder einen am Ende in sich begraben wird. Das scheint mir recht gut zur gegenwärtigen Situation unserer Zivilisation zu passen. Es ist aber auch ein schlüssiges Bild für die menschliche Existenz als solche.

Bilder: William Turner (1775 – 1851): Die Höhle der Verzweiflung (1835); London, Tate/National Gallery (Wikimedia commons); Nikolaus van Leyden (1430-1473)  : Kruzifix in Baden-Baden; Odilon Redon (1840 – 1916): Melancholie (1876); Wikimedia commons

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