Das Liebstöckel-Mysterium

Osterbotschaft von Bruder Norabus

An Ostern unterbrechen wir unsere Reihe über das Kabarett und widemen uns stattdessen einem Thema, das auch für das Kabarett interessant sein könnte: Wiederauferstehung. Als Gastautor konnten wir Bruder Norabus gewinnen.

Die Wiederkehr des immer Gleichen bleibt auch dann wunderbar, wenn wir sie bis ins kleinste Detail erklären können. Uns aber spart das Wunder der ewigen Wiederkehr aus: Wir sind rettungslos vergänglich. Oder können auch wir mit unserem Eintagsfliegenleben am Wiederauferstehungswunder teilhaben?

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Die scheinbare Banalität des Wunderbaren
Die Wiederauferstehung und das Schwarze Loch
Die Verzweiflung des Eisschleckenden
Die „Krankheit zum Tode“: Diagnose, Verlauf, Heilmittel
Sprung in den Glauben oder meditatives Mitschwingen?
Wiederauferstehungslotto
Talkshow-Gast Jesus
Nachweis Kierkegaard-Zitate

Die scheinbare Banalität des Wunderbaren

Die Pflanze, die mir unter all den Kräutern in unserem Klostergarten am meisten ans Herz gewachsen ist, ist der Liebstöckel. Jedes Jahr sehe ich staunend zu, wie sich erst seine roten Knopfaugen aus der Erde bohren, sich dann seine zarten Gefiederärmchen in den Himmel strecken und er schließlich, wie von unsichtbaren Händen gezogen, den Sternen entgegenwächst.

Auch wenn mein Abt mir sicher einen missbilligenden Blick zuwerfen würde, könnte er jetzt mitlesen, muss ich doch bekennen: Der Liebstöckel ist für mich ein Bild für das Mysterium der Wiedergeburt.

Ich weiß zwar, dass man seine alljährliche Wiederauferstehung als Resultat des Zusammenwirkens von Bodentemperatur, Bodenbeschaffenheit, Lichtverhältnissen und biochemischer Struktur der Pflanze erklären kann. Dennoch bleibt die Tatsache, dass es diese genau aufeinander abgestimmte Komposition von Wirkmechanismen gibt, für mich etwas Wunderbares.

Die Wiederauferstehung und das Schwarze Loch

Hinzu kommt, dass das Mysterium der Wiederauferstehung bzw. der Wiedergeburt sich ja nicht nur auf einen bestimmten Zyklus der Einzelexistenz bezieht. Vielmehr gilt es auch und gerade über deren Tod hinaus. Wenn mein Liebstöckel – dem noch ein langes Leben beschieden sein möge! – dereinst den Weg alles Pflanzlichen gehen sollte, werden seine Wurzeln noch Nahrung sein für neues Leben. In Wahrheit wird sein Tod daher nur eine Verwandlung sein, der Übergang zu einer Wiedergeburt als Teil eines anderen Lebens.

Dieses Prinzip gilt nicht nur für so unbedeutende Existenzen wie Bruder Norabus und seinen Liebstöckel. Es handelt sich dabei vielmehr um ein Bewegungsgesetz des Lebendigen, das im gesamten Kosmos wirksam ist. Wenn die Erde dereinst auseinanderbrechen wird, wird das für das Leben darauf eine Katastrophe sein – im kosmischen Maßstab ist es jedoch nur ein Räuspern, und der dabei freigesetzte Partikelstrom wird nahtlos in anderen Formen von Leben aufgehen.

Wenn unsere Sonne sich in einer für uns unvorstellbar fernen Zukunft zu einem „Roten Riesen“ ausdehnt und schließlich als „Weißer Zwerg“ in sich zusammenfällt, wird auch ihre Materie rasch vom All aufgesogen werden. Und nachdem unsere gesamte Milchstraße in dem Schwarzen Loch in ihrem Zentrum versunken sein wird, wird dieses Schwarze Loch sich einen Jahrmillionen währenden Augenblick später mit dem Schwarzen Loch der Nachbargalaxie vermählen, das neue, noch viel massereichere Schwarze Loch wird wieder mit anderen Schwarzen Löchern verschmelzen – und dieser Prozess wird so lange andauern, bis schließlich irgendwann, in einer Zeit nach aller Zeit, nur noch ein einziges Schwarzes Loch übrig sein wird, aus dem dann ein neues Universum entspringen wird.

Die Verzweiflung des Eisschleckenden

Wer jetzt vielleicht gerade Eis schleckend in der Frühlingssonne sitzt, könnte sich an dieser Stelle natürlich fragen: Was nützt mir das denn? Ein Schwarzes Loch ist für einen Menschen doch nur wie der alles verschlingende Strudel in Edgar Allan Poes Grusel-Geschichte über den Maelström – es ist für ihn ganz egal, ob daraus am Ende etwas Neues entsteht. Ein Sturz in so einen Strudel dürfte für uns – geschweige denn für das Eis, das wir gerade schlecken – kaum heil zu überstehen sein.

Richtig ist: Das Gesetz von der Unzerstörbarkeit der Materie und der ewigen Wiedergeburt bezieht sich nur auf den Stoff, aus dem das Leben gemacht ist. Die einzelne Existenz ist dagegen nur eine vorübergehende Erscheinung, die ebenso vergänglich ist wie der Lichtreflex, den die Frühlingssonne in einem ganz bestimmten Augenblick an eine Blattspitze meines Liebstöckels zaubert.

Das lässt mich an Sören Kierkegaard denken – mit dessen Gedanken ich mich immer tröste, wenn der Schatten des Zweifels oder gar der Verzweiflung auf meine Seele fällt. Denn die Erkenntnis der wesensmäßigen Vergänglichkeit alles Existierenden war für den dänischen Philosophen der eigentliche Grund und Kern der Verzweiflung. In Anlehnung an die biblische Parabel von der Wiederauferstehung des Lazarus charakterisierte er diese existenzielle Verzweiflung als „Krankheit zum Tode“.

„Menschlich gesprochen“ ist nach Kierkegaard in der Tat „der Tod das Letzte von allem, und menschlich gesprochen ist nur Hoffnung da, solange Leben da ist“ (Kierkegaard 1849: 11). Am Beispiel von Lazarus, dessen Krankheit eben „nicht zum Tode war“ (ebd.), erläutert Kierkegaard jedoch, dass im christlichen Sinne die eigentliche „Krankheit zum Tode“ nicht der Tod selbst sei, sondern die Verabsolutierung der menschlichen Perspektive.

Diese münde in einen Zustand, in welchem der Tod die Gedanken- und Gefühlswelt des Menschen beherrsche und ihn so in existenzielle Verzweiflung stürze. Der einzige Ausweg aus dieser scheinbar hoffnungslosen Lage besteht laut Kierkegaard darin, dass der Mensch sich bewusst in der „Macht“, der er seine Existenz verdankt, „gründet“ (ebd.: 14).

Die „Krankheit zum Tode“: Diagnose, Verlauf, Heilmittel

Kierkegaard

Kierkegaard sah den Menschen als eine „Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit“ an (ebd.: 13). Als eine solche Synthese verhalte der Mensch sich zum einen „zu sich selbst“ (ebd.), gleichzeitig jedoch, eben indem er sich zu sich selbst verhalte, zu einem anderen – nämlich „zu dem (…), welches das ganze Verhältnis gesetzt hat“ (ebd.: 13 f.).

Dies bedeutet, dass der Mensch „nicht durch sich selbst dazu kommen kann, in Gleichgewicht und Ruhe zu sein“ (ebd.: 14). Vielmehr ist er hierfür auf das Verhältnis zu dem Teil seines Selbst angewiesen, in dem seine Existenz wurzelt.

Die „Krankheit zum Tode“ entsteht nach dieser Sichtweise durch ein Missverhältnis in dem Verhältnis, das der Mensch ist, also dadurch, dass dieser ohne Bezug zum „Absoluten“ zu sich selbst zu finden versucht (vgl. Kierkegaard 1843a: 771; 1843b: 51). Dies führt, wie Kierkegaard in Der Begriff Angst erläutert, zu einer Art geistigem Schwindelgefühl. Dieses entsteht dadurch, dass die Freiheit „hinabschaut in ihre eigene Möglichkeit und da die Endlichkeit ergreift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit ohnmächtig um“ (Kierkegaard 1844: 57), da die Endlichkeit ihr ihre Grenzen aufzeigt, anstatt ihr zu ihrer Selbstentfaltung zu verhelfen.

Das Resultat hiervon kann die Verzweiflung im oben beschriebenen Sinne sein. Der existenzielle Schwindel kann aber auch zur Einsicht in die Notwendigkeit führen, sich der Verwurzelung in der „Macht“, die den Menschen als die Synthese, die er ist, „gesetzt“ hat, bewusst zu werden (s.o.). – als Voraussetzung dafür, zu sich selbst zu finden und seinen Seelenfrieden zu erlangen.

Diese Einsicht ist jedoch nach Kierkegaard nicht auf dem Wege rationaler Überlegung zu erlangen, da das Ewige sich als solches den Gesetzen der Logik wesensmäßig entziehe (vgl. Kierkegaard 1846: 208 ff.).Vielmehr sei der so verstandene Glaube nur durch einen „Sprung“, einen plötzlichen, intuitiven Bekehrungsakt, zu erreichen (vgl. Kierkegaard 1844: 57).

Die Wiederauferstehung des Lazarus ist, so verstanden, geistiger Art. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass ein Mensch, der sich seiner Geborgenheit im Ewigen bewusst ist, auf sie vertraut und aus ihr heraus lebt, nicht verloren ist. Auch wenn er im rein physischen Sinn an einer „Krankheit zum Tode“ leidet und sein ganzes körperliches Dasein „zum Tode“ ist, so bleibt sein im Ewigen wurzelnder Geist doch unzerstörbar.

Sprung in den Glauben oder meditatives Mitschwingen?

Vielleicht ließen sich Kierkegaards Gedankengänge auch auf einen allgemeineren Kontext übertragen. Statt vom „Selbst“ müsste dann etwa von der „Weltseele“ (im Sinne Schellings) oder vom hinduistischen „Brahman“ gesprochen werden. Den Vorgang, durch den man sich hierzu in Beziehung setzt, könnte man dann allerdings kaum als „Sprung in den Glauben“ bezeichnen.

Es würde sich dann eher um eine Form von Meditation handeln, die einem dazu verhilft, in einen harmonischen Gleichklang mit dem Ganzen des Seins zu kommen. Dies kann sowohl den einzelnen Meditierenden selbst zu innerer Harmonie verhelfen als auch dazu beitragen, dass deren Beziehung zur Natur „harmonischer“ wird, also stärker von der Achtung vor dem Lebendigen und seinem Zusammenwirken mit anderem Lebendigen bestimmt ist.

Die christliche Illusion einer möglichen Aufhebung der absoluten Grenze, die der Tod für das einzelne Leben darstellt, kann sich so jedoch nicht einstellen. Die in der Meditation empfundene Entgrenzung des Ichs ist hier nur ein Gleichnis, das nichts an dem tatsächlichen Zum-Tode-Sein des Subjekts ändert.

Ebenso stellt sich das Bewegungsprinzip des Seins, wie es in der Meditation erfahren werden kann, in diesem Fall nicht als intentional handelnde Kraft dar, sondern schlicht als Resultat einer physikalischen Gesetzmäßigkeit. Diese erscheint uns dabei freilich nicht weniger „numinos“, weil das menschliche Vorstellungsvermögen weder das eine noch das andere zu fassen vermag.

Wiederauferstehungslotto

Hinzu kommt aber noch ein weiterer Punkt – nämlich die banale Tatsache, dass der Mensch nun einmal kein Liebstöckel ist. Dies hat den Vorteil, das rasante Wachstum nicht jedes Jahr mit einem ebenso rasanten Verfall bezahlen zu müssen – gleichzeitig jedoch den Nachteil, nicht durch den schlichten Wandel der Jahreszeiten Jahr für Jahr die Chance auf eine Wiederauferstehung, einen neuen Anlauf ins Leben geschenkt zu bekommen.

Zwar kennen wir alle auch für das einzelne menschliche Dasein Wiederauferstehungserfahrungen: die schwere körperliche Krise etwa, die auf wundersame Weise überwunden wird, die geistige Krise, die durch die Entdeckung neuer Sinnhorizonte eine unerwartet positive Wendung nimmt, oder auch die finanzielle Krise, die durch einen Lottogewinn oder die eigene Einstufung als „systemrelevant“ mit einem Federstrich beendet wird.

Das heißt: Die Wiederauferstehung innerhalb eines Daseins ist möglich – es gibt jedoch keine Gesetzmäßigkeit für sie. Die körperliche Krise kann auch im Tod münden, die geistige Krise in Wahnsinn oder Verzweiflung, die finanzielle Krise im persönlichen Ruin.

Zu beachten ist ferner, dass es bei zahlreichen existenziellen Krisen nicht oder nicht in erster Linie auf unsere eigene physische und/oder psychische Widerstandskraft ankommt. In vielen Fällen – wie etwa bei Flucht und Vertreibung, Obdachlosigkeit oder sozialer Isolation – sind wir für unsere „Wiederauferstehung“ vielmehr auf die Hilfe anderer angewiesen.

Talkshow-Gast Jesus

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Dies erinnert mich an einen Traum, den ich kürzlich hatte. Er ist mir etwas peinlich – aber wir sind hier ja gewissermaßen „unter uns“, also will ich trotzdem davon erzählen. Nur bitte: Kein Wort darüber zu meinem Abt, sonst bekomme ich eine Extra-Beichte aufgebrummt!

In meinem Traum sah ich mich mitten in der Nacht in meiner Mönchszelle liegen, ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, ich konnte einfach nicht einschlafen. Also tat ich schließlich etwas, das ich sonst nie tue: Ich schlich mich in unseren Gemeinschaftsraum, schaltete den Fernseher ein und zappte mich durch die Programme. Am Ende blieb ich bei einem Programm hängen, in dem gerade eine Talkshow übertragen wurde. Thema: Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschen. Special Guest: Jesus.

Gerade wollte der Moderator von seinem Gast wissen, wie so etwas Unvollkommenes wie der Mensch habe entstehen können. Jesus versuchte bei seiner Antwort nicht lange herumzulavieren. Auch redete er nicht von einem „höheren Wesen“, einer himmlischen „Macht“ oder einem ominösen „Selbst“, sondern schlicht von „Gott“. Schließlich war dieser ja auch sein Vater – das erleichterte es ihm naturgemäß, an seine Existenz zu glauben.

„Sehen Sie“, sagte er, sich entspannt zurücklehnend, die Finger gegeneinander gespreizt, „man sagt immer: Gott würfelt nicht. Aber jeden von uns reizt es doch irgendwann einmal, etwas zu tun, das niemand von ihm erwartet – noch nicht einmal er selbst. Außerdem wollte mein Vater wissen, wie stark die Eigendynamik der Wiedergeburtslogik ist, die er seiner Schöpfung zugrunde gelegt hatte – ob sie sich also auch ohne sein Zutun durchsetzen würde. Deshalb erschuf er Wesen, denen er die völlige Freiheit ließ, für die Schöpfung insgesamt und für ihresgleichen die Wiederauferstehung oder die Hölle zu bedeuten.“

„Und?“ drängte der Talkmaster seinen Stargast. „War Ihr Herr Vater zufrieden mit dem Experiment?“

Jesus lächelte vielsagend. „Schauen Sie mich doch an“, forderte er seinen Gesprächspartner auf. „Was glauben Sie wohl, warum mein Vater mich in die Welt entsandt hat?“

Nachweis Kierkegaard-Zitate

Kierkegaard, Sören: Entweder – Oder (1843a), unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest. München 1975: dtv (textidentisch mit der 1960 bei Jakob Hegner in Köln erschienenen Ausgabe).

Ders.: Furcht und Zittern (1843b). In: Ders.: Werke in fünf Bänden, herausgegeben von Liselotte Richter, Bd. III. Reinbek 1961: Rowohlt.

Ders.: Der Begriff Angst (1844). In: Ebd., Bd. I (1960).

Ders.: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brosamen (1846, dt. 1910). In: Ders.: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft herausgegeben von Hermann Diem und Walter Rest, S. 131 – 844. München 1976: dtv (textidentisch mit der 1959 bei Jakob Hegner in Köln erschienenen Ausgabe).

Ders.: Die Krankheit zum Tode (1849). In: Ders.: Werke in fünf Bänden, herausgegeben von Liselotte Richter, Bd. IV. Reinbek 1962: Rowohlt.

Bilder: Enoch Wood Perry Junior (1831 – 1915): Der einsame Mönch (Wikimedia commons) ; I. Hoffmann: Video Liebstöckel; Gerd Altmann: Schwarzes Loch (Pixabay); Niels Christian Kierkegaard: Portrait Sören Kierkegaard, 1840 (Wikimedia); Maurice Denis (1870 – 1943): Die Auferstehung des Lazarus (1919) );  Jesus Christus, Heiligenbildchen (Pixabay)

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