Populismus und Autoritarismus, Teil 4
In Lateinamerika lassen sich verschiedene Spielarten des Rechts- und Linkspopulismus beobachten. Unabhängig von der politischen Ausrichtung zeigt sich dabei: Je länger die betreffenden Bewegungen an der Macht sind, desto mehr neigen sie zu autokratischem Verhalten.
Brasilien: Verehrung und Verharmlosung diktatorischer Verhältnisse
Auch in Lateinamerika ist der populistische Autoritarismus auf dem Vormarsch. So errang 2018 in Brasilien mit Jair Bolsonaro ein Politiker die Macht, der sich immer wieder positiv über die ehemalige brasilianische Militärdiktatur geäußert hat und offen rassistische, frauenfeindliche und homophobe Positionen vertritt.
Bolsonaro ist zwar 2022 abgewählt worden. Sein Konkurrent, der frühere Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, hat die Wahl allerdings nur mit einer knappen Mehrheit gewonnen und muss mit einem Parlament regieren, in dem Bolsonaros Unterstützer dominieren.
Dass Lula da Silva zudem selbst nicht frei von autoritären Tendenzen ist, zeigt neben seiner putinfreundlichen Haltung im Ukrainekrieg auch seine Charmeoffensive gegenüber dem autokratisch regierenden venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Maduro von dem ähnlich autoritär agierenden Jair Bolsonaro gemieden worden ist, während sein als Überwinder des brasilianischen Autoritarismus gefeierter Nachfolger Lula da Silva in Maduro einen linken Bruder im Geiste sieht.
Venezuela: Vom populistischen Chavismo zur Diktatur Maduros
Venezuela ist ein Musterbeispiel für die autokratischen Tendenzen linkspopulistischer Bewegungen. Unter dem Ende 1998 zum Präsidenten gewählten Hugo Chávez überwogen noch die sozialreformerischen Tendenzen. Chávez ging es darum, die Rechte der indigenen Bevölkerung gegenüber der neokolonialen Elite zu stärken, ihnen also zu mehr Selbstbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu verhelfen. Darüber hinaus wollte er die Gewinne aus dem – vor allem aus enormen Erdölvorkommen – bestehenden Rohstoffreichtum gerechter verteilen und eine größere Unabhängigkeit von den transnationalen Erdölkonzernen erreichen.
Zu diesem Zweck ließ Chávez eine neue Verfassung ausarbeiten, die auch kurz darauf vom Volk angenommen wurde. Darin ließ er sich allerdings auch autokratische Rechte zusichern – unter anderem die Möglichkeit, politische Entscheidungen ohne Zustimmung des Parlaments durchzusetzen. Auf die dafür erforderlichen Referenden stimmte er das Volk in seiner allsonntäglichen Fernsehshow Allo Presidente entsprechend ein. So sicherte er sich auch die Zustimmung zu einer Aussetzung der Amtszeitbegrenzung für den Präsidenten.
Nach dem Tod von Chávez im Jahr 2013 gingen die autoritären Tendenzen seiner Herrschaft rasch in offen diktatorische Verhältnisse über. Der vom Vizeposten auf den Präsidentenstuhl vorgerückte Nicolás Maduro konnte seine Herrschaft nur durch Gewalt und offene Verfassungsbrüche sichern.
Bereits 2014 kam es bei Protesten gegen ihn zu Toten und zahlreichen Verletzten. Die ein Jahr darauf von der Opposition mit Zweidrittelmehrheit gewonnenen Parlamentswahlen ignorierte Maduro, indem er erst den Ausnahmezustand ausrief und dann eine Verfassunggebende Versammlung einberief, die das Parlament entmachtete. Außerdem wurden immer wieder Oppositionelle inhaftiert.
Der prekären Versorgungslage, die außer den instabilen politischen Verhältnissen insbesondere dem gefallenen Ölpreis und der mangelnden Diversifizierung der venezolanischen Wirtschaft geschuldet ist, versuchte Maduro zuletzt durch eine klassische Ablenkung des Volkszorns nach außen zu begegnen. So drohte er dem östlich an Venezuela grenzenden Guyana, die zwei Drittel von dessen Staatsgebiet umfassende ölreiche Region Essequibo zu annektieren, weil diese 1899 im Zuge der Dekolonisierung angeblich widerrechtlich dem britisch dominierten Nachbarland zugeschlagen worden sei.
Argentinien: Zwischen Links- und Rechtspopulismus
Wie im Falle der Annäherung zwischen Lula da Silva und Nicolas Maduro die Grenzen zwischen autoritärem Linkspopulismus und demokratischem Sozialismus verschwimmen, verbinden sich in Argentinien rechtspopulistische und ultraliberale wirtschaftspolitische Vorstellungen miteinander. Mit Javier Milei ist dort Ende 2023 ein Politiker zum Präsidenten gewählt worden, der wie der ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro die Verbrechen aus der Zeit der Militärdiktatur – die in Brasilien von 1964 bis 1985 und in Argentinien von 1976 bis 1983 bestand – relativiert.
Dem entspricht Mileis Vorhaben, am Parlament vorbei mit Notverordnungen zu regieren. In der Wirtschaftspolitik setzt er auf umfassende Deregulierung und eine Einschränkung von Arbeitnehmerrechten.
Mileis Populismus ist angesichts des von ihm proklamierten „Anarchokapitalismus“ eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums zu verorten. Der in Argentinien bis dahin vorherrschende Peronismus ist dagegen – zumindest in der von Néstor Kirchner und seiner Nachfolgerin im Präsidenentenamt, Cristina Fernández de Kirchner, repräsentierten Variante des Kirchnerismo – mit seiner sozialreformerischen Orientierung eher linkspopulistischer Natur.
Allerdings hatte der Peronismus ebenfalls stets autoritäre Züge. Dies zeigte sich schon während der Regierungszeit seines Begründers, Juan Domingo Perón, der die Geschicke des Landes von 1946 bis zu seinem Sturz durch einen Militärputsch im Jahr 1955 bestimmte. Perón stärkte zwar die Rechte der Erwerbstätigen und verbesserte die materielle Lage der sozial Schwachen, verfolgte dabei jedoch eine dirigistische Wirtschaftspolitik, die in eine hohe Inflation mündete und so die positiven Wirkungen der Sozialreformen teilweise zunichtemachte.
Der als General in die Politik gewechselte Perón hatte zudem keine Bedenken, sich in seiner öffentlichen Inszenierung am Führerkult faschistischer Regime zu orientieren. Der an der Universität Bologna lehrende Historiker und Populismusforscher Loris Zanatta vergleicht Peróns Herrschaft denn auch mit der Mussolinis. Dem Peronismus bescheinigt er einen Hang zum Totalitären. Dieser habe „wie jede populistische Bewegung (…) den Anspruch, alles zu sein. Nicht ein Teil des Ganzen, sondern das Ganze“. Zanatta charakterisiert den Peronismus vor diesem Hintergrund auch als „einen Franquismus von links“ (zitiert nach Eglau 2019).
Linkspopulismus in Bolivien und Ecuador
Als linkspopulistisch eingestuft werden oft auch die ehemaligen Präsidenten Boliviens und Ecuadors, Evo Morales (Präsident von 2006 – 2019) und Rafael Correa (2007 – 2017). In der Tat wiesen die Amtszeiten beider Politiker insofern populistische Tendenzen auf, als diese mehrfach zum Mittel des Referendums griffen, um verfassungsändernde Maßnahmen oder gar eine völlig neue Verfassung durchzusetzen, durch sie eine größere Machtfülle erlangen und das Parlament schwächen konnten.
In beiden Fällen ging dies auch mit autoritären Tendenzen einher. So schränkte Correa etwa die Medienfreiheit ein und schuf eigene öffentliche Rundfunk- und Fernsehstationen, um sich die Meinungshoheit zu sichern. Morales setzte sich über die von der Verfassung vorgesehene Beschränkung von zwei Amtszeiten hinweg und wurde zum Rücktritt gezwungen, nachdem er sich eine vierte Amtszeit hatte sichern wollen.
Beiden Präsidenten muss allerdings zugutegehalten werden, dass sie sich gegen eine lange herrschende konservativ-neoliberale Machtelite behaupten mussten. Deren Politik bedingte, dass nur die wohlhabende Oberschicht des Landes von den Rohstoffabkommen mit internationalen Konzernen profitierte, während die indigene Bevölkerungsmehrheit leer ausging.
Morales und Correa wollten dagegen sicherstellen, dass der Reichtum ihrer Länder der Mehrheit der eigenen Bevölkerung zugutekam. Die von Correa initiierte neue Verfassung sieht etwa kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung für alle vor, Morales sorgte für eine Entkriminalisierung der Coca-Bauern und stärkte die ländliche Bevölkerung durch eine Landreform und mehr demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Beide scheiterten am Ende allerdings nicht nur an den Widerständen der alten Eliten, sondern auch an der zunehmenden Unzufriedenheit unter ihrer Stammwählerschaft. Morales wurde vorgeworfen, sich zunehmend auf ein klientelistisches Machtsystem zu stützen, Correa verlor u.a. an Zustimmung, weil er entgegen seinen Versprechungen Konzessionen für die Erdölförderung im Yasuni-Nationalpark vergeben ließ. Seine Versuche, das Erdöl gegen Kompensationszahlungen der Industrienationen im Boden zu lassen, waren zuvor an der mangelnden Kooperationsbereitschaft von Letzteren gescheitert.
Literatur
AG Friedensforschung, Kassel: Artikelsammlung zu Bolivien (bis April 2015).
Birke, Burkhard: Venezuela bald Diktatur? Reiches Land ohne Mehl, Medizin und Toilettenpapier; Deutschlandfunk Kultur, 28. August 2017.
Busch, Alexander: Lula rollt Maduro den roten Teppich aus. Neue Zürcher Zeitung, 31. Mai 2023.
De la Torre, Carlos: Populismus in Lateinamerika. Zwischen Demokratisierung und Autoritarismus. Bonn 2013: Friedrich Ebert Stiftung (PDF).
Eglau, Victoria: Das Phänomen Peronismus: Argentiniens Populismus für alle. Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 13. November 2019.
Juridikum 21 (2009), H. 4: Themenheft „nuevo constitucionalisme“ [enthält mehrere aus dem Spanischen übersetzte Artikel zu den Verfassungsreformen in Ecuador und Bolivien].
Koenigs, Tom, interviewt von Peter Kapern: Regime Maduro: „Venezuela ist eine Diktatur“; Deutschlandfunk, 10. August 2017.
Mudde, Cas / Kaltwasser, Cristóbal Rovira: Exclusionary vs. Inclusionary Populism: Comparing Contemporary Europe and Latin America. In: Government & Opposition. 48/2 (2013), S. 147 – 174.
Priester, Karin: Hugo Chávez. Führer, Armee, Volk – Linker Populismus an der Macht. In: Dies.: Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon. Frankfurt am Main 2012: Campus.
Quietzal – das Lateinamerika-Magazin: Themenheft zu Bolivien, mit Artikeln zu den Themenbereichen „Politik und Geschichte“, „Wirtschaft und Entwicklung“, „Indigene und soziale Bewegungen“, „Constituyente und Autonomie“ sowie „Kultur und Medien“; 26. Januar 2009 [mit Links zu weiteren Beiträgen].
Weyland, Kurt: Latin America’s Authoritarian Drift: The Threat from the Populist Left. In: Journal of Democracy 24 (2013), H. 3, S. 18 – 32 (PDF).

Zum Buch (eBook)
Danke für diese wirklich interessanten Einblicke.
LikeLike