Die unaufgeklärte Demokratie

Warum Demokratie ohne Aufklärung zum Scheitern verurteilt ist

Wahlwerbung und politische Debattenkultur sind längst nicht mehr von sachlogischen Argumenten, sondern von inhaltslosen Slogans und populistischen Parolen geprägt. Diese Abkehr von dem aufklärerischen Anspruch untergräbt langfristig das demokratische Projekt.

Die Demokratie – eine Tochter der Aufklärung

Die Idee einer Herrschaft des Volkes ging im 18. und 19. Jahrhundert Hand in Hand mit dem Gedanken eines dem Geburtsadel überlegenen „Bildungsadels“. Insofern ist die Demokratie eine Tochter der Aufklärung. Die politische war anfangs stets eng mit der geistigen Aufklärung verbunden.

Das Motto der Aufklärung – „Sapere aude!“/“Wage zu wissen!“ – übersetzte sich folglich im politischen Bereich in den Mut, die staatlichen Strukturen auf strukturelle Mängel und Ungerechtigkeiten hin zu durchdenken und entsprechende Alternativen zu formulieren.

Der kantische „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bedeutet demzufolge im politischen Bereich die Bereitschaft, sich seines Verstandes auch dort zu bedienen, wo dieser zu einer Kritik der bestehenden politischen Verhältnisse und – bei einem daraus abgeleiteten Handeln – zu staatlichen Repressionen führen kann.

Formale, geistige und emotionale Voraussetzungen einer aufgeklärten Demokratie

Aus der engen Verbindung von Aufklärung und Demokratie folgt, dass in einem bestehenden demokratischen Gemeinwesen alles dafür getan werden muss, das aufklärerische Element der Demokratie zu fördern. Dies muss auf mehreren Ebenen geschehen:

  • Auf der formalen Ebene müssen die prozeduralen Voraussetzungen für demokratische Mitbestimmung geschaffen werden. Es muss regelmäßige Abstimmungen über die Grundlinien der Politik geben, die politischen Entscheidungsprozesse müssen transparent und nachvollziehbar sein, und es muss freie Medien geben, in denen mit der nötigen kritischen Distanz über politische Abläufe und Projekte berichtet werden kann.
  • Auf der geistigen Ebene müssen die Barrieren für eine Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen so weit wie möglich abgesenkt werden. Hierfür müssen die zur Entscheidung anstehenden Projekte auf verständliche, sachorientierte Weise erläutert und von verschiedenen Seiten beleuchtet werden. Noch grundlegender ist es allerdings, die Lust an der Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen zu wecken und am Leben zu erhalten.
  • Auf der emotionalen Ebene muss ein Gefühl dafür vermittelt werden, durch die Beteiligung an demokratischen Entscheidungsprozessen etwas bewirken zu können – also nicht nur mitreden, sondern auch konkret mithandeln zu können.

Unzureichende Erfüllung der Voraussetzungen in unserer Demokratie

Wenn wir diese Grundvoraussetzungen für eine aufklärerisch fundierte Demokratie auf unser eigenes Gemeinwesen beziehen, können wir festhalten:

• Die formalen Voraussetzungen für eine Beteiligung an demokratischen Mitbestimmungsprozessen scheinen bei uns auf den ersten Blick gegeben zu sein. Allerdings beschränken sie sich weitgehend auf die Möglichkeit, regelmäßig bestimmten Parteien eine Stimme zu geben. Eine Abstimmung über konkrete politische Projekte ist dagegen nicht vorgesehen.

Die Transparenz bei politischen Entscheidungsprozessen ist aus diesem Grund ebenfalls nur eingeschränkt gegeben. Die Freiheit der Medien ist zwar verfassungsrechtlich garantiert, wird jedoch durch wirtschaftliche Interessen, von Parteien beeinflusste Rundfunkräte und Fake-Tendenzen in den sozialen Medien untergraben.

• Die geistigen Voraussetzungen für eine aufklärerisch grundierte Demokratie werden bei uns nur eingeschränkt gefördert. In der Schule wird zwar über demokratische Entscheidungsprozesse aufgeklärt. Das Schulleben selbst wird jedoch nicht für demokratisches Probehandeln genutzt, sondern ist weitgehend im Sinne fremdbestimmter Handlungs- und Lernabläufe organisiert.

Vor allem aber sind die politischen Diskussionen im Vorfeld von Wahlen alles andere als sachorientiert. Sie zielen vielmehr gerade darauf ab, an der Schwelle der rationalen Abwägung vorbei Emotionen und Ressentiments anzusprechen, um sich der unmittelbaren Zustimmung der Wahlberechtigten zu versichern.

• Die unzureichenden formalen und geistigen Voraussetzungen für eine aufklärerisch fundierte Demokratie haben zur Folge, dass auch die emotionalen Voraussetzungen für eine aufgeklärte Demokratie unzureichend sind. Wer nur alle paar Jahre seine Stimme „abgeben“ kann, statt im politischen Alltag eine Stimme zu „haben“, hat kaum das Gefühl, mit seiner Stimme etwas bewirken zu können.

Dies dämpft natürlich auch die Bereitschaft, sich an Wahlen zu beteiligen oder sich überhaupt für das politische Geschehen zu interessieren. Umso leichter ist es dann, Menschen mit populistischen Parolen gegen „das Establishment“ für sich zu gewinnen.

Vorschläge für eine Stärkung des aufklärerischen Elements in der Demokratie 

Wie man sieht, befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass ein aus der Aufklärung hervorgegangenes Projekt mittlerweile antiaufklärerische Züge trägt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein Naturgesetz, mit dem wir uns achselzuckend abfinden müssten. Es gibt vielmehr ein paar sehr einfache Möglichkeiten, wie sich das aufklärerische Element der Demokratie wieder stärker zur Geltung bringen ließe. Dazu ein paar Beispiele:

• Niemand zwingt uns, Wahlwerbung wie Produktwerbung zu organisieren. Wenn wir wollten, könnten wir von heute auf morgen die auf irrationale Impulse abzielende Plakat- und Clipwerbung verbieten und stattdessen auf eine an Argumenten orientierte Werbung auf der Basis der Parteiprogramme und ihrer Kurzfassungen setzen.

Ergänzend könnten auch Multiple-Choice-Fragebögen entwickelt werden, mit denen Wahlberechtigte ihre Erwartungen mit den faktischen Programmen der Parteien abgleichen könnten. Anders als mit dem Wahl-O-Mat, der lediglich die Übereinstimmung mit Parteiprogrammen misst, ließen sich so auch die womöglich entscheidenderen Differenzen zwischen eigener Einstellung und Parteiprogramm zutage fördern.

• Dass und wie demokratische Bildung nicht nur theoretisch vermittelt, sondern im Sinne eines demokratischen Probehandelns erfahren werden kann, haben zahlreiche Reformschulen vor Augen geführt. Auch staatliche Schulen unternehmen teilweise bereits Versuche in dieser Richtung. Diese Ansätze ließen sich im Interesse einer Stärkung des Fundaments der Demokratie ausbauen.

• Politische Diskussionen müssen nicht wie Hahnenkämpfe ablaufen. Es ist durchaus möglich und im Interesse einer politischen Vorbildwirkung im Grunde auch unerlässlich, dass der politische Austausch auf höchster Ebene von gegenseitiger Wertschätzung und sachlogischer Argumentation getragen ist.

Eine entsprechende Diskussionskultur ließe sich durch entsprechende Vorgaben für Parlaments- und Fernsehdebatten fördern. Anstatt rhetorisch im smarten Abbügeln politischer Gegner und im Ausweichen vor unangenehmen Fragen trainiert zu werden, müssten Personen, die ein politisches Amt anstreben oder innehaben, dafür in demokratischer Gesprächsführung geschult werden.

• Irrationale Argumentation entsteht oft auch durch ungenügende Sachkenntnis. An deren Stelle tritt dann die Übernahme von Alltagstheorien und Stammkneipenparolen. Um dem zu vorzubeugen, müssten Mindeststandards an Qualifikationen für politisches Spitzenpersonal festgelegt werden.

• „Bürgerdialoge“, in denen Volk und politischer „Adel“ sich begegnen, existieren schon heute. Sie dienen allerdings meist eher der Vortäuschung von Volksnähe und der schönfärberischen Präsentation politischer Vorhaben als echter demokratischer Mitbestimmung. Dies muss allerdings nicht so bleiben. Es ist durchaus denkbar, den bereits existierenden basisdemokratischen Diskussionsforen ein größeres Gewicht zu verleihen. Dafür könnten sie etwa stärker in Expertenanhörungen im Vorfeld der Entwicklung von Gesetzen eingebunden werden.

Renovierung oder Generalsanierung des Hauses der Demokratie?

Unsere Demokratie ließe sich also mit ein paar einfachen Reformen auf eine rationalere Grundlage stellen. Was einfach klingt, könnte in der Praxis allerdings an den festgefahrenen Routinen des Alltags scheitern.

So spricht auch einiges für eine Generalüberholung – zumal die oben aufgezählten Defizite bei der demokratischen Mitbestimmung ja keineswegs die einzigen Konstruktionsmängel im Haus unserer Demokratie sind. Wer sich mit diesen strukturellen Mängeln und den Vorschlägen zu einer Generalsanierung unserer Demokratie eingehender beschäftigen möchte, findet Anregungen in dem Buch

Demokratie auf dem Prüfstand. Wo unsere Demokratie undemokratisch ist und wie wir sie demokratischer machen können.

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Bild: Ilka Hoffmann: Collage

3 Kommentare

  1. Wie irrational „vernünftige“ Politik bei uns aussieht, sieht man an den aktivistischen Reaktionen der Ampelregierung auf Solingen. Ohne Not füttert man die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, verhindert eine wirklich vernünftige Einwanderungspolitik und lässt sich vom Populismus treiben. Leider haben aber PolitikerInnen offensichtlich Kant nicht gelesen und jetzt zu wenig Zeit selbst zu denken.

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