23. September 2013: Deutschland staunt über den Ausgang der Bundestagswahl. Das amtliche Endergebnis ergibt folgendes Bild:
CDU/CSU: 32 %
SPD: 28 %
FDP: 4,9 %
Grüne: 4,9 %
Linke: 4,9 %
Piraten: 4,9 %
NPD: 4,9 %
Freie Wähler: 4,9 %
Alternative für Deutschland: 4,9 %
Sonstige: 3,3 %
Ungültige Stimmen: 2,4 %
In ersten Reaktionen haben Politiker von CDU/CSU und SPD erleichtert die Bedeutung der 5%-Hürde hervorgehoben, die eine Zersplitterung der Fraktionen im Parlament verhindert habe. Die Politiker der kleineren Parteien äußerten sich dagegen enttäuscht über den Wahlausgang.
Wahlforscher liefern in ersten Analysen folgende Erklärungen für das Ergebnis:
- CDU/CSU und SPD hatten sich bis kurz vor der Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen geliefert. Am Vorabend des Wahltags hatten CDU-Politiker jedoch Gerüchte gestreut, Peer Steinbrück wolle im Falle eines Wahlsiegs der SPD Arbeitslager für Hartz-IV-Empfänger einrichten. Das brachte der CDU den entscheidenden Vorsprung.
- Die FDP lag in den letzten Umfragen vor der Wahl konstant bei 9,9 %. Daraufhin entschieden sich viele Mitleidswähler, ihre Stimme doch lieber der Partei ihrer Wahl zu geben.
- Kurz vor de Wahl geriet an der A 1 durch Blitzschlag ein Windrad in Brand. Herabstürzende Teile verursachten eine Massenkarambolage mit mehreren Toten und Verletzten. Politiker der Grünen sprachen zwar von einem bedauernswerten Einzelfall. Die Partei musste aber dennoch dramatische Einbußen in der Wählergunst hinnehmen. Wahlforscher sprechen in dem Zusammenhang vom so genannten „Fukushima-Paradox“.
- In einer verdeckten Recherche war es einem Fotografen des Spiegel gelungen, Gregor Gysis Fernrohrsammlung aufzunehmen. Eine dazugehörige Reportage zitierte Zeugen, die angeblich auf mehreren Fernrohren den Schriftzug „NOTAR“ gesehen haben wollten. Die BILD-Zeitung veröffentlichte daraufhin ein Foto von Gregor Gysi mit Vollbart und titelte: „Karl Gysinskij: So spioniert er das Parlament aus!“ Das kostete die Linken die entscheidenden Prozentpunkte.
- Die NPD profitierte von der verstärkten Medienpräsenz, die ihr das Parteienverbotsverfahren bescherte, blieb aber dennoch knapp unter der 5%-Hürde.
Ein unrealistisches Szenario? – Vielleicht. Aber es verdeutlicht doch ein paar Grundprobleme des deutschen Wahlrechts, die sich aus der 5%-Hürde ergeben. Dies sind insbesondere:
- die mangelnde Achtung vor dem Wählerwillen. Bei einer 5%-Hürde darf der Wähler seinen Willen zwar äußern. Ob dieser für die Zusammensetzung des Parlaments eine Rolle spielt, hängt jedoch davon ab, ob eine genügende Anzahl anderer Wahlberechtigter – bei der nächsten Bundestagswahl etwa 3,1 Millionen Personen – denselben Willen äußert.
- die Benachteiligung kleinerer Parteien. Wer Angst davor haben muss, seine Stimme durch ein Kreuzchen bei einer kleinen Partei zu verlieren, wird sich zweimal überlegen, ob er seiner politischen Überzeugung an der Wahlurne Ausdruck verleiht. Bei einer Partei, die keine Aussicht auf den Einzug ins Parlament hat, stellt man ihn de facto vor die Wahl, entweder entsprechend seiner tatsächlichen Präferenz abzustimmen und dadurch seine Stimme zu verlieren oder mit seiner Wählerstimme den realpolitischen Prozess zu beeinflussen.
- die Verfälschung des Wählerwillens. Diese Gefahr ist insbesondere dann gegeben, wenn ein Parteienblock weniger in sich aufgesplittert als ein anderer – wenn also zum Beispiel eine bürgerliche Partei stabil bei 30 % liegt, während das linke Lager zwar insgesamt auf einen ähnlichen Anteil bei den Wählerstimmen kommt, diese sich aber auch auf eine oder mehrere kleine, teilweise unter der 5%-Hürde bleibende Parteien verteilen. In Deutschland mit seinem bürgerlichen Block aus CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist eine solche Gefahr derzeit zwar nicht gegeben. Aber wer kann schon wissen, ob die SPD sich bei einer weiteren Verschärfung der Finanzkrise und nach der blutigen Nase, die ihr das Peer-Steinbrück-Abenteuer einbringen wird, nicht doch irgendwann auf ihre sozialdemokratische Vergangenheit besinnen wird?
- die Erschwerung einer Erneuerung des Parteienspektrums. Die 5%-Hürde erschwert es neuen Parteien, sich zu etablieren. Da sie meist gar nicht erst ins Parlament hineinkommen, können sie den Wähler auch nicht davon überzeugen, dass sie in der Lage sind, sinnvolle politische Arbeit zu leisten. Außerdem sind sie dadurch weniger in den Medien präsent und haben natürlich auch weniger Geld für ihre Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Etablierung einer neuen Partei nicht nur die Schaffung eines neuen Machtpols bedeutet. Vielmehr gehen damit immer auch neue politische Umgangsformen sowie neue Ideen und Sichtweisen auf das soziale Miteinander einher. Dadurch, dass die 5%-Hürde den Wandel der Parteienlandschaft behindert, erleichtert sie es den großen Parteien, ihre auf Vetternwirtschaft und einer engen Verflechtung mit den Lobbygruppen der großen Konzerne beruhende Herrschaft abzusichern.
Was ist zu tun? – Für eine Demokratisierung des deutschen Wahlrechts bieten sich folgende Möglichkeiten an:
- eine Absenkung der Sperrklausel. Als entscheidendes Argument für die 5%-Hürde wird meist angeführt, dass diese eine Zersplitterung der Parteienlandschaft wie in der Weimarer Republik verhindere. Das oben angeführte Beispiel zeigt jedoch, dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss. Denn statt knapp unter der 5%-Hürde könnten die betroffenen Parteien doch auch knapp darüber liegen. Dies zeigt, dass ihre Festsetzung völlig willkürlich ist. In der Türkei sieht die nach dem Militärputsch von 1980 verabschiedete Verfassung eine 10%-Hürde vor, in anderen Ländern gibt es 2-, 3- oder 4%-Hürden. Die Höhe der Hürde hängt letztlich davon ab, wie hoch das Vertrauen in den demokratischen Diskurs und in die Kompromissfähigkeit der beteiligten Akteure ist. Der Mut zu einer Absenkung der Sperrklausel würde der deutschen Demokratie also gewissermaßen eine Art Reifezeugnis ausstellen.
- die Einführung der Möglichkeit, bei der Wahl alternative Präferenzen anzugeben. Wer eine kleinere Partei wählt, müsste dann nicht mehr um den Verlust seiner Stimme fürchten, sollte die Partei die 5%-Hürde nicht überspringen. In diesem Fall wäre dann die auf dem Wahlzettel angegebene zweite oder dritte Präferenz für die Stimmenauszählung maßgeblich.
- die Einführung von Stichwahlen. Dies erscheint in Deutschland vor allem bei den Erststimmen überfällig. Denn dadurch, dass das deutsche Wahlrecht – anders als etwa das französische – keinen zweiten Wahlgang unter den beiden erstplatzierten Kandidaten kennt, kommt es immer wieder zu Konstellationen, bei denen die Kandidaten von SPD und Linken zusammen die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten, der CDU-Kandidat aber mit der relativen Stimmenmehrheit ins Parlament einzieht. Die Einführung einer Stichwahl wäre aber auch bei den Zweitstimmen denkbar. Sie bezöge sich dann auf all jene Parteien, die unter die 5%-Hürde gefallen sind, und würde dazu dienen, die restliche Anzahl von Parlamentssitzen unter den verbliebenen kleineren Parteien zu verteilen. Diese könnten dabei unter Umständen auch die Möglichkeit erhalten, Wahlbündnisse einzugehen, um die angesetzte Hürde an Wählerstimmen leichter überspringen zu können.
Natürlich bin ich nur ein einfacher Bürger, der hier seine völlig unmaßgebliche Meinung äußert. Ich wage aber trotzdem zu behaupten, dass ein wenig mehr Phantasie für die Weiterentwicklung unserer Demokratie recht hilfreich wäre. Wichtig erscheint mir vor allem, dass man die viel zitierten „Wählerinnen und Wähler“ nicht nur in Sonntagsreden kurz vor den nächsten Wahlen umgarnt, sondern ihren Willen wirklich ernst nimmt und umzusetzen versucht. Was ist das anderes als gelebte Demokratie? Oder, umgekehrt ausgedrückt: Was ist das eigentlich für eine Demokratie, die Stimmen von Minderheiten – und wir reden hier ja nicht von ein paar hundert, sondern von Millionen von Menschen – einfach unter den Tisch fallen lässt?
Wem das nichts ausmacht, der muss sich nicht wundern, wenn die Politikverdrossenheit hierzulande immer weiter zunimmt und es den Menschen immer gleichgültiger wird, ob die deutsche Lobbykratie nun von einer rot angehauchten Schwarzen oder von einem schwarz eingefärbten Roten repräsentiert wird.