Nun ist es so weit: Das Wort „Flüchtling“ ist unbenutzbar geworden. Wer es hört, denkt nicht mehr an Menschen, die auf der Flucht sind, sondern an Überschwemmungen („Flüchtlingsströme“) und an den Untergang des Abendlands („Flüchtlingskrise“).
Wieder einmal werden wir die Opfer unserer eigenen Assoziationen, die schon so manchen Begriff unbrauchbar gemacht haben. So wurde aus dem „Neger“ der „Schwarze“, aus dem „Schwarzen“ der „Farbige“, aus dem „Farbigen“ der „Afroamerikaner“ – aber was hilft das alles, wenn die alten Emotionen sofort wieder den neuen Begriff kapern und ihn mit ihrem Sinn erfüllen?
Ja, man müsste erst die Emotionen ändern und dann die Begriffe. Aber dazu müsste man ein ganzes Volk – oder zumindest die Völkischen in diesem Volk – auf die Couch legen, und das übersteigt – leider – meine Möglichkeiten. Also sperre ich die hässlichen Assoziationen wenigstens aus diesen Zeilen aus und spreche lieber von den „Hilfesuchenden“. Denn dass die Neuankömmlinge keine Weltenbummler und Abenteuerreisenden sind, dürften doch auch die Ungastlicheren unter uns einräumen.
Fakt ist: Seit Silvester ist uns unsere Hilfsbereitschaft irgendwie abhanden gekommen. Seit Silvester gelten Sätze, die zuvor als unerträgliche rassistische Beleidigung wahrgenommen worden wären – wie zum Beispiel „Der Nordafrikaner ist frauenfeindlich und hat seine Triebe nicht unter Kontrolle“ – als durch das Recht auf objektive Berichterstattung und/oder freie Meinungsäußerung gedeckt.
Von einem Augenblick auf den anderen haben wir aufgehört, den Nordafrikaner mit Teddybären in unsere Willkommenskultur einzuführen. Wenn er jetzt nachts aus seinen Träumen hochschreckt, in denen er die Vergewaltigung und Ermordung seiner Mutter/Schwester/Gattin/Tochter wieder und wieder durchleiden muss, nehmen wir ihn nicht mehr in den Arm, um ihn zu trösten, sondern laufen davon, aus Furcht, er könnte uns dasselbe antun. Sein Lächeln, das wir noch vor wenigen Wochen erwidert haben, erscheint uns nun als sexuelle Belästigung.
Dabei waren wir doch im Sommer noch so freigiebig mit unseren Hilfeleistungen! Tausende namenlose Ertrunkene im Mittelmeer hatten wir verkraften können – das Foto eines ertrunkenen Jungen an einem türkischen Strand aber war zu viel für uns. Da öffneten wir die ohnehin nicht mehr vorhandenen Schlagbäume und nahmen alle Hilfesuchenden bei uns auf. Irgendwie waren sie plötzlich alle Verwandte des armen ertrunkenen Jungen, verirrte Seelen, denen wir, die wir plötzlich das Christliche in uns neu entdeckt hatten, gerührt von unserer eigenen Hilfsbereitschaft einen Platz an der Krippe unseres Wohlstandsstalls gewährten.
Aber schon vor Silvester, als die Hilfesuchenden nicht jeden Tag den Boden des Landes küssten, auf dem ihre Helfer lebten, hatten uns Zweifel beschlichen. Gegen unseren Willen mussten wir an unser altes Trauma denken, an die Gastarbeiterjahre, als wir Arbeiter geordert, aber Menschen bekommen hatten. Pikiert mussten wir feststellen, dass der Nordafrikaner unsere Turnhallen nicht als Wohlfühloasen pries, dass er sich nicht mit jedem anderen Nordafrikaner verstand und zuweilen gar Frau und Kinder hatte und mit diesen zusammenzuleben wünschte. So erschien uns derselbe Nordafrikaner, in dem wir zuvor ein Spiegelbild unserer christlichen Nächstenliebe gesehen hatten, auf einmal als Abbild unserer Enttäuschung.
In dieser Situation waren die Ereignisse der Silvesternacht für uns fast schon eine Erlösung. Endlich konnten wir uns offen zu unseren Gefühlen bekennen, endlich mussten wir unsere reiche nationale Tradition nicht mehr hinter einer Maske artfremder Herzensgüte verstecken. Nun helfen wir nicht mehr den Hilfesuchenden, sondern uns selbst, indem wir uns um unsere nationalen Führer scharen, deren Worte endlich auf offene Ohren treffen: „Deutschland, erwache!“
Ja, etwas Schreckliches ist passiert in der Silvesternacht: „Deutschland“ ist erwacht. „Deutschland“ aber gesteht Menschen Menschenrechte nicht zu, weil sie als Menschen Anspruch darauf haben, sondern gewährt sie ihnen wie die milde Gabe, die man dem Bettler in seine Mütze wirft.
Und wehe, der solcherart Beschenkte geht mit dieser Gabe nicht so um, wie es sich seine Gönner vorstellen! Dann wird er augenblicklich entrechtet, verstoßen, verfemt, selbst wenn nicht er selbst sich einer Verfehlung schuldig gemacht hat, sondern ein anderes Mitglied seiner „Rasse“ – denn wenn ein Nordafrikaner ein Vergewaltiger ist, muss zur Sicherung des Volkswohls auch jeder andere Nordafrikaner unter den Generalverdacht der Vergewaltigungsbereitschaft gestellt werden.
Ich frage mich, was als Nächstes passieren wird. Werden wir, wenn demnächst ein Rollstuhlfahrer eine Bank überfällt, die Euthanasie wieder einführen? Werden wir die Frauen an den Herd zurückschicken, sobald die erste Vorstandsvorsitzende ihrem Sekretär an den Hintern fasst?

Hat dies auf montagfrei rebloggt.
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