Musikalische Winterreise – Teil 4.
Kaum irgendwo sonst ist der existenzbedrohende Charakter des Winters so stark zu erfahren wie in Russland, wo die kalte Jahreszeit scheinbar unendlich lang und Hilfe in der ebenso unendlichen Weite des Landes nur schwer und manchmal auch gar nicht zu ertragen ist. Dies spiegelt sich auch in der russischen Literatur und Musik vielfach wider. Gleichzeitig wird darin jedoch auch die andere Seite des Winters – sein Anderssein, das ihn zur Metapher für einen Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen prädestiniert – immer wieder thematisiert.
Das vielleicht bekannteste Beispiel eines Werkes, das beide Aspekte der Bezugnahme auf den Winter in sich vereint, ist Lew Tolstojs Erzählung Herr und Knecht aus dem Jahr 1895. Darin besteht ein reicher Kaufmann darauf, sich trotz eines heraufziehenden Schneesturms von einem Bediensteten in einer geschäftlichen Angelegenheit durch die Steppe kutschieren zu lassen. Als die Kutsche im Schnee stecken bleibt, weicht im Angesicht des nahen Erfrierungstodes sein hartherziger Charakter auf, und er wirft sich über seinen Knecht, um dessen Leben mit der Wärme seines eigenen Körpers zu retten.
Bei Tolstoj verbinden sich mit der Selbstaufopferung seines Protagonisten natürlich religiöse Implikationen: Dadurch, dass dieser seine Ichbezogenheit und Habgier aufgibt und sich radikal dem Mitmenschen zuwendet, erfährt er die Kraft der Gnade und der Erlösung, wodurch er trotz seines realen Todes im geistigen Sinne Teil hat an der Unsterblichkeit. Daneben ließe sich das Geschehen jedoch auch auf die dem Winter inhärente transzendente Kraft – verstanden im Sinne einer das menschliche Dasein übersteigenden Macht – beziehen. Demnach wäre die Handlungsweise des Kaufmanns ein Resultat der Einsicht in die höheren Kräfte, die Natur und Universum antreiben. Von diesen wird sein eigenes Leben einerseits „umfasst“ – und ist so darin geborgen –, erscheint vor ihrem Hintergrund jedoch zugleich bedeutungslos. Beides zusammen gibt ihm die Kraft, das eigene Leben für einen anderen aufzuopfern.
Aus der Kapitulation vor dem Unausweichlichen wird damit hier eine Einstimmung in dessen Macht, eine subjektive Anverwandlung der objektiven Kraft. Ein ähnlicher geistiger Prozess liegt auch dem Lied Metjel‘ (‚Schneegestöber’/’Schneetreiben‘) der 1981 gegründeten russischen Kult-Band DDT (um Frontmann Jurij Schwetschuk) zugrunde. Auch hier wird zunächst die destruktive Wirkung des Schneesturms hervorgehoben, seine archaische Kraft, die alles Bisherige hinwegfegt und den Lebensweg im Nichts enden lässt. Dem entsprechen auch die weiteren Strophen, in denen die hilflosen Versuche, die winterliche Finsternis mit Straßenlaternen und himmlische Hilfe erflehenden Kerzen aufzuhellen, beschrieben werden.
Die Reaktion hierauf ist jedoch nicht Resignation, sondern eine Art trotzig-selbstironischer Verbrüderung mit dem Unwetter, mit dem auf die „verlorenen Dinge“ angestoßen wird und die Aufhebung der Zeit in seiner alles umschließenden „weißen Wand“ besungen wird. Im Refrain kulminiert dies in der rauschhaften Aufforderung an den Schneesturm, „auszureifen“, also zu seiner ganzen Stärke anzuwachsen.
Gleichzeitig wird der Schneesturm jedoch aus seiner realen Präsenz gelöst und mit der Vorstellungswelt des ihn betrachtenden Ichs verknüpft. Dabei wird das Ideal eines erfüllten, authentischen Lebens auf den sich entfaltenden Sturm projiziert. Parallel dazu verwandelt sich die real zerstörerische Naturgewalt in eine Illusion von Wärme und eine imaginierte Rückkehr des Frühlings, an den die blütenstaubhaften Schneeflocken erinnern. So wird der Wunsch, der Schneesturm möge zwar nicht „verschwinden“, aber doch Milde zeigen und in diesem Sinne „auftauen“, auf einer inneren, subjektiven Ebene eingelöst. Der Geist durchdringt die Materie, er nimmt sie in sich auf und verleiht ihr so einen neuen Sinn.
Nun besitzt all das natürlich keine Verankerung in der objektiven Realität. Wenn wir einen Schneesturm als Manifestation einer numinosen Kraft wahrnehmen bzw. uns im Geiste mit ihm verbrüdern oder uns aus den bizarren Schneelandschaften, die der Winter erschafft, eine andere Welt zusammenträumen, so existiert all das eben nur in unserer Phantasie.
Auf der anderen Seite kann man das, was unserer Phantasie entspringt, auch nicht einfach als „irreal“ abqualifizieren. Was heute noch „phantastisch“ erscheint, kann morgen schon Realität sein. In diesem Sinne könnte man auch das Lied Snjeg natschnjotsja (‚Es beginnt zu schneien‘) der tatarisch-baschkirischen Sängerin Zemfira (Semfira) verstehen. Natürlich ließe sich das geheimnisvolle Du, das sich dem Ich hier „über die Dächer“ nähert, auch in einem religiösen Sinn deuten – zumal sich der Blick des Ichs „zum Himmel“ richtet. Daneben erscheint jedoch auch eine allgemeinere Interpretation denkbar, im Sinne der unter dem starren Wirklichkeitskatalog verschütteten alternativen Möglichkeiten, Denk- und Handlungsweisen, die in der winterlich verhangenen oder veränderten Welt zutage treten.*
Damit erscheint derselbe Winter, der in der Realität Leben zerstören, ja verunmöglichen kann, zugleich als natürlicher Ausgangspunkt der Utopie. Die weiße Winterlandschaft wäre, so betrachtet, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf dem man das Leben neu entwerfen kann.
Folgerichtig wird in dem Lied Snilos‘ mnje (‚Ich habe geträumt‘ / ‚Mir träumte‘) der Gruppe Woskresjenije (‚Auferstehung‘) der Winter selbst als Traum beschrieben – als Traum einer Welt, in der Ruhe und Frieden herrschen, in der an die Stelle von Vereinzelung und dem sozialdarwinistischen Kampf aller gegen alle ein schweigendes Einverständnis unter den Menschen getreten ist. Der harten, lebensfeindlichen Realität des Winters (und eines ihm entsprechenden Alltags, der von „sozialer Kälte“ geprägt ist) wird hier die Utopie der Überwindung eben dieser Wirklichkeit gegenübergestellt, die Vision eines radikalen Neuanfangs, wie er sich aus der Kraft des Menschen, die Wirklichkeit träumend zu transzendieren, ergibt.
Auch in dem Song Utro Poliny (‚Polinas Morgen‘) der Band Nautilus Pompilius – mit ihrem Frontmann Wjatscheslaw Butussow – klingt der utopische Aspekt des Winters an. Das Lied kreist um das Leben einer Art Eiskönigin, in deren Kristallpalast die Sonne nie untergeht. Dies deutet bereits der Name „Polina“ an, bei dem es sich um eine Kurzform von „Apollinaria“, der weiblichen Form des Sonnengottes „Apollinaris“ (Apollon), handelt. Gleichzeitig verweist der Songtitel aber auch auf den Kern des Utopischen: den Morgen, der sich nie zum Tag häutet. Denn es gehört zum Wesen der Utopie, dass sie nie Wirklichkeit werden kann. Wo das „Nirgendwo“ des Utopischen Wurzeln schlägt, verzweigt es sich notwendigerweise mit der Realität und verliert eben dadurch seinen Charakter.
Dies bedeutet allerdings gerade nicht, dass die Utopie für unseren gewöhnlichen Alltag keine Bedeutung hätte. Vielmehr erfüllt sie darin die Funktion eines Regulativs, eines Ideals, nach dem wir streben, obwohl wir uns bewusst sind, dass wir es nie erreichen können. In diesem „Widerspiel [des] Unmöglichen mit dem Möglichen“ erweitern wir – so hat es Ingeborg Bachmann einmal ausgedrückt – „unsere Möglichkeiten“. (vgl. Bachmanns 1959 gehaltene Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden).
In dem Song Utro Poliny heißt es dementsprechend: „Ich liebe dich dafür, dass deine Erwartung auf das wartet, was niemals geschehen kann.“ Weniger poetisch ausgedrückt: Nur wer den Glauben an die Utopie einer besseren Welt, allen Widrigkeiten zum Trotz, nicht aufgibt, kann dazu beitragen, dass wir uns dieser Utopie wenigstens ein Stück weit annähern.
* Hierzu passt auch, was Zemfira selbst zu dem Song sagt. Demnach handelt es sich dabei um ein „Lied über Erwartungen“, das sie in einer Zeit der „Beziehungskrisen“ konzipiert habe. Ausdrücklich weist die Sängerin dabei auf die nonverbale Ebene hin, auf die „Schreie“ und „Ausbrüche“, denen mehr Bedeutung zukomme als den Worten. Auch hierin spiegelt sich die Annäherung an das Andere, vorläufig noch Unaussprechliche, auf das sich die Hoffnungen des Ichs richten (vgl. livejournal.com, 28. Oktober 2007).
Lieder, Texte und Übersetzungen
DDT: Metjel‘
aus: Mir nomjer nol‘ (1999)
Übersetzung:
Schneegestöber
Vom Mond gekrönt,
wie ein erhabener Beginn,
wie ein Sieg, der nicht mir gehört,
wie eine brüchige Hoffnung.
Vor dem Fenster das Schneegestöber wie eine Wand,
das ganze Leben verweht darin,
aus jeder Verankerung gelöst,
und alle Wärme aufgezehrt.
Spiel so gut du kannst, spiel,
schließ die Augen und dreh dich*,
verschwinde nicht, aber tau auf
und verwisch alle Spuren.
Erwärme mein Fenster,
bestäub die Felder mit Frühling,
warte nicht ab – entfalte dich ganz,
dann wirst du für immer bei mir sein.
Die Straßenlaternen tasten nach dem Boden,
die Kerze flackert dem Himmel entgegen.
Im Schnee die Spuren der Morgenröte –
die Flügel eines gefallenen Leuchtens.
Was soll’s, Schneesturm – gieß ein,
wir trinken die Zeit auf nüchternen Magen,
ich werde singen, und du heulst im Takt dazu
von verlorenen Dingen.
Spiel so gut du kannst …
Vorsicht, nicht so schnell!
Mit dem weißen Wind auf der Brust
wartet bei dem im Eis eingeschlossenen Kahn
eine frierende Seele.
* wörtlich: kehr um.
Zemfira (Semfira): Snjeg natschnjotsja
aus: Spasibo, 2007
Übersetzung:
Es beginnt zu schneien
Ich sehe dich.
Ich höre dich.
Über die Dächer eilst du zu mir,
besorgt, zu spät zu kommen.
Die Augen richten sich zum Himmel,
es ist eine halbe Ewigkeit her …
Schenk mir dein Herz,
setz dich und lass uns warten,
wenn es zu schneien beginnt,
zu schneien beginnt.
Ich sehe dich.
Ich höre dich.
Verrat mir deine Geheimnisse
und wo ich nach dir suchen muss,
falls es zu schneien beginnt,
zu schneien beginnt.
Ich sehe dich …
Woskresjenije (Voskreseniye): Son (Snilos‘ mnje)
aus: Woskresjenije 1 (erweiterte Fassung 1980)
Übersetzung:
Ein Traum (Ich habe geträumt)
Ich habe geträumt,
dass ganz unerwartet Schnee gefallen ist.
Auf einmal war es ganz still und hell in der Welt,
still und hell, ruhig und weiß von Schnee.
Schade, dass ich das nur geträumt habe.
Ich habe geträumt,
dass über die ruhig gewordene Stadt
langsam eine Wolke hinwegzieht,
eine Wolke der Ruhe über der schneeweißen Stadt.
Schade, dass ich das nur geträumt habe.
Und jetzt, da ich wieder wach bin, lebe ich und lebe doch nicht,
während ich mich bemühe, die Stille zu bewahren.
Doch hinter mir erhebt sich
der verrückte Erdentag
und reißt mich mit sich fort.
Ich habe geträumt,
dass mich zum ersten Mal seit vielen Jahren
das Glück, warum auch immer, angelacht hat,
eine Illusion von Glück im Taumel der Jahre.
Schade, dass ich das nur geträumt habe.
Ich habe geträumt,
dass aller Kummer verfliegt,
dass die Einsamen sich begegnen,
sich begegnen und sich schweigend anlächeln.
Schade, dass ich das nur geträumt habe.
Nautilus Pompilius: Utro Poliny
aus: Titanik (1994)
Übersetzung:
Polinas Morgen
Polinas Hände sind wie ein vergessenes Lied unter harten Stacheln.
Träge Klänge kreisen wie Staubkörnchen über ihrem Kopf.
Schläfrige Augen warten auf den, der eintritt und das Licht in ihnen anzündet.
Polinas Morgen dauert 100 Milliarden Jahre.
Und in all diesen Jahren höre ich, wie ihre Brust sich hebt und senkt,
und von ihrem Atem beschlagen die Fenster.
Und ich bedauere es nicht, dass mein Weg so endlos ist.
In ihrem kristallenen Schlafzimmer ist es immer, immer hell.
Es gibt Menschen, die abwarten, und andere, die an ihrer Ungeduld zugrunde gehen.
Aber die einen sind ebenso langweilige Weggefährten wie die anderen.
Ich liebe dich dafür, dass deine Erwartung auf das wartet,
was niemals geschehen kann.
Polinas Finger sind wie Kerzen in nächtlichen Kandelabern.
Polinas Tränen haben sich in einen Bach verwandelt, der nie versiegt.
An der Schwelle zu Polinas Zimmer verharrt unschlüssig die Dämmerung.
Polinas Morgen dauert 100 Milliarden Jahre.
Und in all diesen Jahren …
Danke für diese schönen russischen Lieder und auch die Ölgemälde.
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Freut mich!- Es ist immer nett, wenn ein Kommentar kommt. Danke! – Fasane sind übrigens sehr schöne Vögel und es spaziert sogar einer in der Nähe unseres Hauses herum 😉
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Auch jetzt im Winter?
Ich habe einen Fasanenmann, seine Frau und die Kücken in meinem Sommerurlaub im letzten Jahr kennengelernt und ich fand sie wunderschön – besonders den Mann.
Vielen Dank für deine Antwort – auch das ist sehr nett.
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Ich habe noch ein Gedicht:
Für Dich
Zwischen Abend und
Morgen ein Alles,
ein Traum und ein Heim.
Müde von der langen
Reise, die Sehnsucht
noch immer nicht gestillt.
Doch dankbar denen, die
aus Sternenstaub
ein irdenes Netz knüpften.
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Danke für das schöne Gedicht!
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