Musikalische Winterreise – Teil 3

Die befreiende Kraft des Winters

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Als „das Andere des Lebens“ ist der Winter immer auch der Ort des Todes. Gleichzeitig lässt sich seine Andersartigkeit aber auch im Sinne eines Gegenentwurfs verstehen, einer „Gegenwelt“, in der all das möglich erscheint, was im realen Leben undenkbar ist. Hierzu lädt der Winter selbst ein, indem er zwar de facto für die totale Abwesenheit des Lebens steht, in seinem konkreten Erscheinungsbild aber das Leben nachzuahmen scheint: Schneeverwehungen türmen die Eismassen zu bizarren Landschaften auf, Eiszapfen tragen ihren Namen, weil sie an die Zapfen von Nadelbäumen erinnern, Raureif überzieht das Land wie mit einer Decke aus glitzernden Eisblüten.

Eben dadurch, dass der Winter das Leben nachzubilden scheint, es dabei aber gleichzeitig verfremdet, bietet er die Grundlage für Träume von einer anderen Welt. Diese können zunächst unmittelbar an der „Verzauberung“ der Welt durch den Winter ansetzen. Ein Beispiel dafür ist Lise Martins Chanson Il neige (‚Es schneit‘), auf das ich im Sommer in einem Beitrag über das junge französische Chanson näher eingegangen bin (vgl. Mademoiselle chante). Das Lied zeichnet sehr genau die Gestimmtheit eines Ichs nach, das sich ganz bewusst auf den Schwebezustand, in den die Welt durch den Gleitflug der Schneeflocken gerät, einlässt. Die veränderte Gefühlslage geht dabei auch mit einer neuen, die tradierten Deutungsmuster durchbrechenden Sicht der Wirklichkeit einher.

In eine ähnliche Richtung weist die Thematisierung des Winters in dem Song Wizard flurry home (Zauberschauerhaus) der kalifornischen Singer-Songwriterin Mariee Sioux. Ihr Vater ist ein Mandolinenspieler polnisch-ungarischer Herkunft, der sie stellenweise auch musikalisch begleitet, ihre Mutter hat spanische Wurzeln, ist jedoch auch in der Volksgruppe der Paiute verwurzelt. Musikalisch drückt sich dies bei der 1985 geborenen Sängerin u.a. in der Einbeziehung traditioneller indianisch-mexikanischer Flötenklänge in ihre Musik aus.

Inhaltlich verweist der Song insbesondere auf die kultischen Tänze der Paiute, in denen mithilfe ritueller Trommelklänge Trancezustände erreicht werden sollten. Ende des 19. Jahrhunderts erhielt diese Form der Musik in der so genannten „Geistertanzbewegung“ auch einen politisch-revolutionären Sinn: Durch die Tänze sollten Visionen bewirkt werden, die den Tanzenden den Weg zur Befreiung von der weißen Besatzungsmacht weisen sollten. Hierauf spielt der Song von Mariee Sioux insofern an, als er das „Zertanzen“ der Welt durch einen trommelnden Zauberer bzw. Medizinmann evoziert. Die hierdurch zu erlangende Befreiung ist allerdings nicht – wie von der Geistertanzbewegung erhofft – eine äußere, sondern spielt sich auf der inneren Ebene ab, im Sinne einer individuellen Initiation in die mystische Welt der Vorfahren.

In Verbindung mit der psychedelischen Musik vermittelt der assoziative Text eine Ahnung von eben jener „zauberhaften“ Stimmung, auf die der Titel des Liedes verweist. Auch die sich auflösenden Sätze, durch die die Klangqualität der Worte gegenüber der semantischen Ebene in den Vordergrund tritt, passen gut zu der beschriebenen Situation einer in das Mosaik tanzender Flocken zerfallenden Welt.

Durch die Verbergung, Verwandlung bzw. „Fragmentarisierung“ der gewöhnlichen Erscheinungen im Schneeflockentaumel ermöglicht der Winter eine Loslösung von diesen. Er lädt damit ein zu einem Zustand kontemplativer Versenkung, der die Grundvoraussetzung aller mystischen Erfahrung ist.

Dies wird auch in einem Chanson Jean-Louis Murats spürbar, das ebenfalls um die Erfahrung des „Versinkens“ im Schneetreiben kreist. Dass der Titel des Chansons dem von Lise Martin entspricht, mag auch daran liegen, dass beide aus der Auvergne stammen – aus einer Region also, in deren Höhenlagen noch authentische Wintererfahrungen möglich sind. Bei dem 1952 geborenen Jean-Louis Murat – der eigentlich Jean-Louis Bergheaud heißt – drückt sich die Verbundenheit mit seiner Heimatregion auch darin aus, dass er sich als Künstler nach dem Ort (Murat-le-Quaire) benannt hat, in dem er aufgewachsen ist.

Vor allem aber steht dieser Chansonnier dem Buddhismus nahe, in dem die Abkehr von der Welt der materiellen Dinge und der äußeren Erscheinungen eine zentrale Voraussetzung für die Erlangung inneren Friedens darstellt. So fügt das „höhere Wesen“, das in dem Chanson für die winterliche Verwandlung der Welt verantwortlich erscheint, dieser zwar ebenso Schmerzen zu wie sich selbst, indem es die Grundlagen natürlichen Lebens und damit seiner eigenen „Schöpfung“ zerstört. Das „große Schweigen“, das als Einziges von dieser zurückbleibt, erscheint so zunächst wie ein Messer, das jemand einem an die „nackte Kehle“ hält. Gleichzeitig ist es jedoch die Voraussetzung für eine Offenbarungserfahrung, in der sich einem in einem kurzen Moment intuitiver „Allwissenheit“ das „Geheimnis“ des Seins erschließt.

Wie bei Mariee Sioux und Lise Martin (hier vor allem in den einleitenden Klängen), geht auch bei Jean-Louis Murat der durch den Schneefall bewirkte Zustand der inneren Versenkung mit einer kontemplativen, die Abkehr vom äußeren Bilderreigen widerspiegelnden Musik einher.

Lise Martin:  Il neige

aus: Déments songes (2014)

Liedtext:

Il neige

Il neige,
dehors tout est blanc,
dehors tout est pur,
sortilège.
Dehors le silence
comme un goût d’absence:
Est-ce un piège?

Il neige,
et les flocons dansent.
Je me laisse prendre
à leur manège
et je danse avec eux
dans l’air froid du vent
je m’allège.

Il neige,
des petites plumes de rien
qui tombent sur mes mains,
diamants venus d’en-haut
qui roulent sur ma peau,
pleurant à ma place,
des larmes de glace
qui roulent sur mes joues,
se glissent dans mon cou
et s’ecoulent en rivière,
transparence de verre.

Il neige,
sur ce monde endormi
commence une autre vie,
si sereine.
Dans la douceur de l’air
de ce matin d’hiver
je suis reine.

Il neige,
je me laisse aller
aux rêves insensés
qui m’assiègent.
Je me laisse emporter
et me transforme
en flocon de neige.

Il neige,
des petites plumes de rien …

© Lise Martin

Übersetzung:

Es schneit

Es schneit,
draußen ist alles weiß,
alles ist rein,
verzaubert.
Draußen verbreitet das Schweigen
einen Hauch von Abwesenheit.
Ist es eine Falle?

Es schneit,
und die Flocken tanzen.
Ich lasse mich aufnehmen
von ihrem Karussell
und tanze mit ihnen
in der vom Wind erfrischten Luft,
ich werde ganz leicht.

Es schneit,
kleine Federn aus Nichts,
die in meine Hände fallen,
Diamanten des Himmels,
die über meine Haut gleiten,
die auf mir weinen,
Tränen aus Eis,
die über meine Wangen gleiten,
die über meinen Hals fließen
und sich zu einem Rinnsal fügen,
durchsichtig wie Glas.

Es schneit,
in dieser eingeschlafenen Welt
beginnt ein anderes Leben,
ganz unbeschwert.
In der sanften Luft
dieses Wintermorgens
bin ich die Königin.

Es schneit,
ich lasse mich verführen
von den verrückten Träumen,
die mich belagern.
Ich lasse mich forttragen,
und ich verwandle mich
in eine Schneeflocke.

Es schneit,
kleine Federn aus Nichts …

 

Mariee Sioux: Wizard flurry home

aus: A Bundled Bundle of Bundles (2006)

Liedtext

Freie Übertragung:* 

Zauberschauerhaus

Tanze, Schnee, tanze,
Schnee, Schneeschauerhaus,
ja, tanze, Schnee, tanze,
Schnee, Schneeschauerhaus.

Spinn uns Gold, oh Zauberer,
schwenke deinen Zauberstab
Zauberer, zerstoß die Welt
mit deinem Trommelstab,
Zauberer, spinn uns Gold,
schwenke deinen Zauberstab
Zauberer, zerstoß die Welt
mit deinem Trommelstab,
mit deinem Trommelstab und
tanze, tanze im Schnee,
im Schnee, im Schneeschauerhaus.

Und Winter, Liebeshalt,
kröne, kröne, kröne deine Brüder.
Winter, Liebesschnee,
kröne, kröne, kröne deine Berge.
Winter, Liebeshalt,
kröne, kröne, kröne deine Mütter.
Winter, Liebesschnee,
kröne, kröne, kröne deine Berge
und tanze, tanze im Schnee,
im Schnee, im Schneeschauerhaus.
im Schnee, im Schneeschauerhaus.

Und im Kokon des Bettes
bitte ich dich um Vergebung,
im Kokon des Bettes
bitte ich dich um Vergebung,
Monsunkokon
bricht, bricht, bricht durchs Dach
Monsunkokon
bricht, bricht, bricht mein Herz entzwei
in zwei, zwei, in zwei Teile,
und es waren zwei, es waren fünf**,
und alles war so neu, neu, so neu,
es war so neu, neu, neu,
neu, neu, so neu.

Und braune, braune,
oh braune Knie, weiße Bienen,
summ, summ, summ, sind fort.
Braune Knie, weiße Bienen,
summ, summ, summ, sind fort.
Könntet ihr euch bitte
in Honig verwandeln?
Könntet ihr euch bitte
in Morgen verwandeln?
Könntet ihr bitte
zurück-, zurück-, zurückehren morgen
und unseren Tanz in Eis verwandeln?
Oh, friert unseren Tanz unter den Teichen ein
und verwandelt unseren Tanz in Eis!
Oh, friert unseren Tanz unter den Teichen ein und
lasst unseren Tanz zu Schnee-oh-Engelkissen gefrieren,
lasst unseren Tanz zu Schnee-oh-Engelkissen gefrieren.
unser Tanz wird gefrieren
zu Schneeengelkissen.

*     Eine direkte Übersetzung erscheint mir angesichts des assoziativen Stils des Liedes nicht hilfreich bei einer Annäherung an den Sinn des Textes.
**     Die Fünf könnte hier symbolisch für Vervollkommnung bzw. Vervollständigung (im Sinne der fünf Finger einer Hand) stehen. Damit wäre das „Entzweibrechen“ des Herzens nicht im Sinne eines zerstörerischen Auseinanderbrechens, sondern im Sinne der Entdeckung einer anderen, bislang unbekannten Seite des eigenen Daseins zu verstehen. Diese würde eben in der Aufhebung der Vereinzelung und der Einstimmung in den einen, alles durchdringenden Atem des Seins bestehen, wie ihn der alles umfangende Schneeschauer andeutet.

Jean-Louis Murat: Il neige

aus: Toboggan (2013)

Liedtext

Übersetzung:

Es schneit

Es schneit auf die Berge, auf die weite Ebene.
Wie sehr sich doch die Tiere vor dir fürchten!
Es schneit seit Tagen, es ist dein Geheimnis.

Es schneit, irgendein höheres Wesen
webt sich eine Mütze aus Schnee.
Wir werden niemals mehr zur Mündung gelangen.

Nichts hat uns je solches Leid gebracht wie du,
nichts hat dir je solches Leid gebracht wie du.

Es schneit, schon sind all unsere Felsen bedeckt,
alle Höfe, alle Hecken*,
die ganze Natur hat sich [im Schnee] vergraben.

Es schneit, nichts bleibt als ein großes Schweigen,
ein Messer auf der bloßen Haut.
Mein Herz gerät in einen Zustand der Allwissenheit.

Nichts hat uns je …

Es schneit, ein im Schnee kauernder Jäger,
der Schlund des Wolfs in der Finsternis.
Was möchtest du wissen?

Nichts hat uns je …

*     wörtlich: Buchen

 

Bildnachweis: Alfred Sisley: Seine bei Bougival im Winter, 1872

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